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Dieter Thomä
"Warum Demokratien Helden brauchen"

Die Demokratie kommt ohne Helden aus, so die Auffassung im sogenannten postheroischen Zeitalter. Der Philosoph Dieter Thomä will dieses Denken revidieren: Die Demokratie brauche dringend entschlossene Verteidiger. Sein neues Buch ist ein "Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus".

Von Änne Seidel | 11.11.2019
Buchcover "Warum Demokratien Helden brauchen"/ Dieter Thomä im Hintergrund Bücherwande
Dieter Thomä findet: Die Demokratie hat Helden nötig (Buchcover: Ullstein/ Dieter Thomä: Jürgen Bauer)
Die Demokratie liegt auf dem Krankenbett. Kein kleiner Schwächeanfall, sondern "chronische Erschöpfung" lautet die Diagnose. Überall auf der Welt übernehmen Populisten und Autokraten das Ruder. Und die Demokratie, ans Bett gefesselt, schaut tatenlos zu. Soweit das beschriebene Krankheitsbild im neuen Buch von Dieter Thomä. Dabei, so der Philosoph, stehe das Gegenmittel seit Jahrhunderten in unserem Medikamentenschrank. Nur traue sich niemand, es zu verordnen:
"Man könnte meinen, Heldenverehrung sei Gift für die Demokratie, aber in der richtigen Dosis ist sie eine heilsame Arznei."
Denn Helden, nach der Definition von Dieter Thomä, sind Menschen, die für die Demokratie brennen, die bereit sind, alles für sie zu tun. Und die in der Lage sind, in uns allen wieder Leidenschaft zu entfachen für dieses politische System, das trotz aller Schwächen immer noch das beste sei, das wir haben. Genau diese Leidenschaft brauche es, um der Demokratie eine Zukunft zu entwerfen:
"In den Kämpfen, die für die Demokratie und in der Demokratie ausgefochten werden, wird immer wieder neu bestimmt, was diese politische Ordnung eigentlich ausmacht. Entsprechend gibt es für politische Helden viel zu tun. Sie erledigen nicht nur Rettungseinsätze, sondern sie denken auch über den Status quo hinaus und bewegen sich in Bereiche hinein, in denen die Ziele nicht in Stein gemeißelt sind."
Helden als Inbegriff von Ungleichheit
Dieter Thomä will also die Idee vom "postheroischen Zeitalter", in dem wir angeblich leben, widerlegen. Das postheroische Lager allerdings hat gute Argumente gegen das Heldentum: Die Demokratie schätzt den Frieden und die horizontale Gesellschaftsordnung. In ihr sind – zumindest in der Theorie – alle gleich und jeder scheint frei, sein eigener Held zu sein. Wer braucht da muskelbepackte Superhelden, die sich als unsere Retter aufspielen? Helden sind der Inbegriff von Ungleichheit. Und wirken insbesondere in Friedenszeiten überflüssig. Soweit die postheroische Auffassung. Dieter Thomä scheut die Auseinandersetzung mit diesen Argumenten nicht. Im Gegenteil – mit beeindruckender Ausdauer arbeitet er sich an ihnen ab.
Helden können mehr als Krieg
Damit der Held demokratietauglich wird, empfiehlt der Autor ihm zunächst eine Radikalkur: Er müsse das Image des maskulinen Kriegers, das ihm seit Jahrhunderten anhaftet, dringend loswerden.
"Helden können und müssen sich von der uralten Fixierung auf den Krieg lösen. (...) Der Krieg ist auf unerträgliche Weise wahllos. In ihm wird die Gefahr in vollen Kübeln ausgeschüttet, und die Menschen werden aufgehetzt oder aufgerufen, sich ihr zu stellen. Mut ist aber nicht nur im Krieg gefragt, Helden sind keineswegs auf ihn angewiesen, um sich zu bewähren."
Die Rettung der Demokratie, so Dieter Thomä, sei schließlich Bewährungsprobe genug. Nicht jeder allerdings komme dafür in Frage.
Die Suche nach den "wahren" Helden
Obwohl die Demokratie angeblich keine Helden braucht, wimmelt es aktuell von selbsternannten Heroen: Startups tragen das Heldentum im Namen, die Werbung preist die Helden des Alltags und auch populistische Politiker bedienen nur allzu gerne alte Heldenklischees. Wichtig sei daher, die guten Helden von denen im Schafspelz zu unterscheiden.
"Der Kapitalist ist im besten Fall ein Pseudoheld. Er verhält sich wie jemand, der ein Kind vor dem Ertrinken rettet und dann gleich ausrechnet, welch fette Belohnung er von den Eltern des Kindes dafür verlangen kann."
Bleibt die Frage: Wenn nicht der Krieger, nicht der Kapitalist und nicht der Populist – wer eignet sich dann in der Demokratie als Held? Thomä identifiziert Heldinnen wie die pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai oder auch mutige Lokalpolitiker, wie die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die nach einem Messerangriff erst recht weiter machte.
Idealtyp Odysseus?
Aber der Autor analysiert nicht nur unsere politische Gegenwart, sondern schaut weit zurück: In Odysseus sieht er eine Figur mit Fehlern und Widersprüchen – und einer sehr wechselvollen Rezeptionsgeschichte. Gerade deshalb eigne er sich als demokratischer Held.
"Odysseus spiegelt sich in dem Streit, der in den Interpretationen um ihn ausgefochten wird, er passt zu dem Pluralismus, der sich in der Demokratie entfaltet."
Insgesamt stützt Dieter Thomä seine Argumentation auf unzählige Referenzen aus Philosophie, politischer Theorie, Literatur- und Kulturgeschichte: von Jean-Jacques Rousseau bis Robert Musil – wer nicht alles über Helden geschrieben hat! Und dennoch gerät das Buch keineswegs zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Es ist kurzweilig geschrieben, die Stimmenvielfalt hält die Argumentation lebendig und lässt Thomäs Plädoyer für ein modernes Heldentum überzeugen.
Die deutsche Skepsis gegenüber Heroisierung, Personen- und Führerkult hat gute historische Gründe. Vielleicht aber ist es an der Zeit, den Helden eine neue Chance zu geben. Unser Vertrauen könnte belohnt werden: mit dem Überleben der Demokratie.
Dieter Thomä : "Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus",
Ullstein, 272 Seiten, 20 Euro.