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Differenzen zwischen Ost und West auch nach 15 Jahren noch Thema

SilvieReichel: Der 3. Oktober ist seit Jahren ein Feiertag. Aber schon 1990 schauten einige skeptisch auf den Einheitstaumel. Und auch 14 Jahre danach bleibt die Rede von Ost und West, von neuen und alten Bundesländern präsent. Gemeinsamkeiten gehen unter, Differenzen werden beschworen, die unterschiedliche Vergangenheit wird zur Identitätsstiftung genutzt. Ein Thema, das inzwischen in unzähligen Romanen und Erzählungen aufgegriffen wurde. Ob in Thomas Brussigs "Helden wie wir", Jens Sparschuhs "Zimmerspringbrunnen", Sven Regeners "Herr Lehmann" oder Freya Kliers "Wir Brüder und Schwestern. Geschichten zur Einheit". Vieles wurde auch verfilmt. Allerdings warfen die Kritiker den Autoren aus ganz Deutschland auch immer wieder gern mal vor, sie ließen konkret die Wende und die Wiedervereinigung außen vor oder betrachteten das Geschehen aus zu großer Distanz. Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius nahm sich schon 1991 mit der Erzählung "Die Birnen von Ribbeck" der deutsch-deutschen Geschichte an. Dann kam der Roman über einen DDR-Flüchtling heraus unter dem Titel "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus". Und auch in seinem gerade erschienenen Buch "Mein Jahr als Mörder" pendelt die Figur der Ärztin Anneliese Großkurth zwischen den Fronten der Vergangenheit. Vor der Sendung habe ich Friedrich Christian Delius gefragt, welche Aspekte oder auch Ereignisse ihn in Bezug auf das Ost-West-Thema am meisten interessieren.

Im Gespräch mit Sylvie Reichel |
    Friedrich Christian Delius: Wissen Sie, es ist ja nicht abstrakt das Ost-West-Thema, sondern mich interessieren Personen, mich interessieren Geschichten. Ich bin seit Anfang der 60er Jahre in Westberlin, habe aber immer von Anfang an eigentlich Freunde aus der anderen Seite der Mauer gehabt. Das war mir immer selbstverständlich, auch die Menschen, die auf der anderen Seite lebten, genauer kennen zu lernen und deren Dinge zu verstehen. Ich sehe das nicht als Ost-West-Thema, sondern ich sehe es einfach als Leute, die in verschiedenen Gesellschaften aufgewachsen sind, und das finde ich ein unglaubliches spannendes Thema, weil das fand und findet auf deutschem Boden statt mit einer gemeinsamen Sprache, aber mit unterschiedlichen Erfahrungsräumen, und das ist für einen Schriftsteller immer wieder ein wunderbares Thema.

    Reichel: In der Erzählung "Die Birnen von Ribbeck" lassen Sie einen Ortsansässigen sich so richtig über Ost und West und die Situation in seinem Ort ausplaudern. Hätten Sie damals gedacht, dass das Thema so lange noch aktuell bleibt?

    Delius: Ja, dass das noch eine ganze Weile bleiben wird, war mir schon klar, denn dem Erzähler dieser "Birnen von Ribbeck" ist ebenso wie dem Autor ja schon klargewesen, dass die Probleme allein mit Euphorie, die wir damals alle mit Recht hatten, nicht zu lösen sind, und das wird eine ganze Weile dauern.

    Reichel: In dem Buch kommt dieser Satz vor, "es war doch unser Triumph, und nun bestimmt ihr das Festprogramm". Das ist ja auch noch heute Wahrnehmung vieler Ostdeutschen.

    Delius: Ja, ich kann nichts dafür, dass das Buch von 1990 immer noch aktuell ist.

    Reichel: Wie beurteilen Sie denn den Stand des Einheitsprozesses?

    Delius: Wissen Sie, ich finde, da wird zuviel immer reingedacht in die Sache. Es ist einfach wichtig, dass die Leute ihre Geschichten gegenseitig kennen, dass sie miteinander reden, und das fügt sich dann irgendwann. Ich kenne auch die Statistiken, die Zahlen, die Vorurteile auf beiden Seiten, aber als einer, der in Berlin ja praktisch im Zentrum der Vereinigung sitzt, sehe ich auch, dass einfach eine andere Generation kommen wird, und dann wird sich das mehr und mehr zusammenentwickeln, das ist gar keine Frage. Also ich rede lieber über das, was uns verbindet und weiter verbinden wird, als immer wieder diese Unterschiede rauszusuchen, als hätten wir sonst keine Probleme.

    Reichel: Das heißt, Ihnen wird zu viel auf den Differenzen herumgehackt?

    Delius: Ja.

    Reichel: Sie haben es gerade schon angesprochen, Sie leben in Berlin. Da sitzt im Roten Rathaus eine Regierung für Ost und West. Auch Bezirke sind zusammengelegt worden. Ist da sozusagen schon ein bisschen mehr Einheit vollbracht als es vielleicht zwischen den neuen und alten Bundesländern ansonsten der Fall ist?

    Delius: Ja, man versucht es wenigstens hier nach Maßgabe der Möglichkeiten. Also man darf jetzt hier keine Utopien hinbauen. Das wird alles dauern. Aber wenn sie die Probleme mit anderen Problemen auch in anderen Bereichen Europas vergleichen, sind das alles wirklich Kleinigkeiten. Wir regen uns da oft auf über wirklich winzige Dinge. Also ich finde, mit dem etwas beherzteren und selbstbewussteren Blick auf die Sache muss man sich da nicht immer aufrechnen, hier habt ihr und da nicht, da seid ihr und hier sind wir benachteiligt, usw. Also ich finde, da wird ein bisschen viel Energie daran verschwendet.

    Reichel: Welche Anknüpfungspunkte für das Gemeinsame sehen Sie denn?

    Delius: Es ist die gemeinsame Geschichte. Ich habe das in meinem neuen Buch aufgenommen, die Geschichte einer Ärztin im Kalten Krieg zwischen Ost- und Westberlin, die da in diese Mühle des Kalten Krieges gerät, also auch versucht, wie mir jetzt hinterher, wo es fertig ist, klargeworden ist, eigentlich auch unsere gemeinsame Geschichte aus diesen deutschen Verfeindungsspielen der Nachkriegszeit zu erzählen und auszubreiten. Darüber müssen einfach mehr wissen. Wir sind ja auch so erzogen worden, wie wir sind. Da kann Literatur, die Kunst, der Sport, alles Mögliche dazu beitragen, dass es besser wird.

    Reichel: Bleiben wir mal bei der Literatur. Finden Sie, dass das Thema Ost-West, wie auch immer gedreht, an welchen Personen auch immer festgemacht, zu viel oder zu wenig Beachtung findet?

    Delius: Wissen Sie, für mich geht es gar nicht um das Thema Ost-West, sondern es geht um Geschichten von einzelnen Leuten. Literatur erzählt Geschichten. Literatur nimmt sich kein Thema vor, wo ein Autor sich sagt, ich mache jetzt einen Ost-West-Roman, sondern Autoren setzen sich hin und erzählen Geschichten von Leuten in bestimmten politischen Zusammenhängen, und davon kann es nicht genug geben.

    Reichel: Sie sagen, die literarischen Geschichten knüpfen sich an die Geschichten von Personen. Wie ist es denn, wenn jetzt zum Beispiel Literaten sich der Politik ganz entziehen? Sie haben ja immer sehr politische Romane und Erzählungen und auch Gedichte geschrieben, die sich mit der Zeit der RAF, der Achtundsechziger auseinandergesetzt haben. Jetzt sind es eben die Geschichten aus jüngster deutscher Vergangenheit. Kann auch Literatur vollkommen unpolitisch sein? Haben Sie dafür auch Interessen?

    Delius: Ich denke, dass jede gute Literatur sich immer auf politische Verhältnisse bezieht. Das muss nicht immer ausgesprochen sein, aber es kann immer auch eine Form von Widerstand, eine Form von neuen Sichtweisen sein, die sich immer direkt oder indirekt beziehen auf politische und gesellschaftliche Verhältnisse.

    Reichel: Kommen wir nochmals auf den 3. Oktober. Ist das für Sie ein Feiertag?

    Delius: Das ist für mich ein Feiertag, ja.

    Reichel: In Ihrem Leitfaden für Deutsches Denken taucht der Satz auf, "Deutschland ist mit der Vereinigung kleiner und enger geworden". Das ist dann aber nicht negativ zu verstehen, oder ist das nicht 100 Prozent Ihr Satz?

    Delius: Ja, das ist erst mal eine Feststellung, dass es eine ganze Reihe von Verengungen, Borniertheiten gibt, die vorher nicht da waren. Das bezieht sich jetzt mehr auf die 90er Jahre. Also das kann man feststellen. Insofern ist der Satz eher provokativ gemeint, und das muss jetzt nicht meine Meinung von heute sein.

    Reichel: Wen wollen Sie denn damit provozieren?

    Delius: Na ja, wer den Satz liest, wird erst mal denken, hoppla, was meint er hier? Der steht ja in einem Zusammenhang, und ich bin eigentlich jemand, der mit seiner Literatur versucht, den Blick zu erweitern. Dieses Buch "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" ist ja auch so eine Ost-West-Geschichte. Also da wird Deutschland plötzlich größer. Das gehört dann auch in diesen Zusammenhang.

    Reichel: Das war der Schriftsteller Friedrich Christian Delius