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Digitale Flaneure
Literatur per WhatsApp

Literarische Stadterkundung trifft digitalen Lebensstil: Zwei Schriftsteller machen Literatur aus einem WhatsApp-Chat. Sie schlendern durch Frankfurt und schicken sich per Handy Notizen, Bilder und Audiodateien hin und her - und jeder kann live mitlesen. Hat das analoge Notizbuch ausgedient?

Von Christoph Möller | 01.08.2016
    Ein Smartphone-Nutzer tippt auf ein Emoji, um es in eine WhatsApp-Nachricht einzufügen.
    Literaturproduktion live miterleben. Das Historische Museum Frankfurt und das Projekt „Stadtlabor unterwegs“ wollen Frankfurt experimentell per WhatsApp erfassen. (picture alliance/dpa/Matthias Balk)
    Eine WG-Küche in Frankfurt-Bockenheim am Sonntagmorgen. Angespannte Stimmung. Auf dem Tisch surren zwei Laptops. Daneben, ganz still: Smartphones und Tablets.
    "Jetzt gerade melden sich die letzten Mitleserinnen und Mitleser an. Wir sind schon aktuell bei 112, glaube ich …"
    Franziska Mucha. Kuratorin für Digitale Museumspraxis im Historischen Museum Frankfurt.
    "Nee, 113 sogar."
    Sie sorgt dafür, dass die Echtzeitliteratur auch wirklich fast in Echtzeit gesendet wird.
    "Und die bekommen jetzt gleich eine Nachricht, dass es losgeht. Und dann warten wir auf die Liveticker-Nachrichten, die sich Annika und Hannes schicken, damit wir sie kopieren können und über alle Kanäle nach draußen pusten."
    Annika Kohles und Hannes Becker sind gerade unterwegs. Spazieren irgendwo durch Frankfurt, getrennt voneinander. Sie beobachten die Stadt. Wie digitale Flaneure. Ihre Nachrichten landen in der WG-Zentrale. Hier werden sie in kleinen Blöcken an die Nutzer weitergeleitet. Das hat technische Gründe – und so wird verhindert, dass die Autoren nicht gestört werden.
    "Was passieren könnte, – das ist auch das erste Mal, dass ich das mache, ist natürlich, erstens, dass unsere Internetverbindung hier zusammenklappt, dann sitzen wir ein bisschen auf dem Trockenen. Aber auch, wenn jetzt zwischendurch zu viele Mitleser mit uns interagieren wollen, dann könnte es auch kompliziert werden, weil wir gleichzeitig rauspusten und dann das Gespräch nicht so gut pflegen können."
    Die Stadt als Text, der gelesen werden will
    Doch alles läuft nach Plan. Um kurz nach elf geht es los.
    "Ich bin jetzt da, wo es losgeht, in Frankfurt, Europa, Sandweg 51."
    "Ich renne hier ja unentwegt die Straße rauf und runter, aber die Leute hier behandeln mich sehr natürlich. Ich hab gerade einen kleinen sehr lieben braunen Hund gestreichelt, weil ich so aufgeregt bin."
    "Und jemand gähnt. Und jemand sagt 'aua' hinter einem Fenster. Und der Bodyguard, der ist jetzt schon wieder vorbeigekommen."
    Stadtfragmente. Die Stadt als Text, der gelesen werden will – die Mitlesenden als nimmermüdes Online-Publikum. Die Kurz-Texte sind flüchtige Beobachtungen: eine Frau, die sich vor einem Mazda aus Innsbruck die Zähne putzt, blaue italienische Tischdecken, die Angst, auf Toilette zu müssen.
    "Ich hab auch schon so ein großes Europa-Zeichen gesehen! Wie schön: In Frankfurt, da fühlt man sich wenigstens als Europäer!"
    "Ich glaube schon, dass es eine Aufführung ist."
    Sagt Lena Vöcklinghaus, die den digital-literarischen WhatsApp-Spaziergang konzipiert hat und gerade ihre Doktorarbeit über Leseformate schreibt.
    "Weil es zwei aufgeregte Leute gibt, denen ein Haufen Leute zuschauen. Aber es ist halt skurril, weil man ein abwesendes Publikum hat. Aber es ist ja genauso skurril, wenn man auf Facebook irgendwas postet, und alle können das lesen. Oder auf Twitter. Diesen Effekt, dass man was tut, und es ist absurd öffentlich, kennen wir ja alle. Es ist jetzt nur irgendwie in eine Art von Rahmen gepackt. "
    Dieser Rahmen wirkt ziemlich technisch. Die Smartphones scheinen die beiden Autoren zu behindern. Sie blicken eben nicht nur auf ihre Umwelt, sondern vor allem aufs Display. Manchmal unterbrechen sich die Nachrichten gegenseitig, es fällt schwer, ihrem Sinn zu folgen.
    "Ich würde mich gerne ein bisschen literarischer fühlen, aber dieses unentwegte Getippsel und Gepiepe macht es mir schwer."
    Annika Kohles. Sie entspannt dann kurz unter einem Baum. Hannes Becker ist auch nach anderthalb Stunden immer noch da, wo er gestartet ist.
    Mehr Unterhaltung als Spaziergang
    Nicht einen Meter habe ich mich bewegt, seit es losging mit diesem Spaziergang, weil: Ich muss schreiben! Und wozu führt das alles?"
    Am Ende, nach zweieinhalb Stunden Textproduktion, zu einem Monolog von Hannes Becker über Straßennamen und Orte, die er eigentlich noch besuchen wollte. Annika Kohles hatte ihren Akku leergeschrieben. Das wäre ihr mit dem guten alten Notizblock nicht passiert. Fazit Lena Vöcklinghaus:
    "Ich hätte tatsächlich mehr so Beobachtungsblöcke erwartet. Also tatsächlich so runde ausformulierte Gedanken. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell hin und her geht. Es ist eigentlich viel mehr eine Unterhaltung als ein tatsächlicher Spaziergang."