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Dina Nayeri: "Drei sind ein Dorf"
Die ferne Heimat in uns selbst

Wo bleibt die Heimat, wenn ein Kind fliehen muss? Die aus dem Iran stammende Autorin Dina Nayeri spürt dieser Frage in "Drei sind ein Dorf" anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte nach. Als Kind flüchtete sie mit der Mutter in die USA, als erwachsene Frau gelangte sie in die Niederlande.

Von Paul Stoop | 22.08.2018
    Die iranisch-amerikanische Schriftstellerin Dina Nayeri
    Schriftsteller müssen sich bei Lesungen immer wieder der Frage stellen, wie viel Autobiografisches denn in der Geschichte oder in einer der handelnden Personen steckt. Da gibt es dann oft vage Antworten, die von Anleihen, Inspirationen oder Fiktionalisierung handeln. Die im Iran geborene amerikanische Schriftstellerin Dina Nayeri ist dagegen eindeutig: Sehr viele Erlebnisse ihrer Protagonistin Nilou sind ihre eigenen, wie sie nach Erscheinen ihres Romans "Drei sind ein Dorf" in Interviews erklärt hat. Die Beziehungen der Protagonistin spiegeln die ihrer eigenen Familie recht genau wider. Mit ihrer Mutter und ihrem Bruder musste Nayeri aus dem Iran fliehen und irrte in mehreren Ländern herum, bis sie nach Amerika kam. In dem Roman, der im Original "Refuge" heißt, "Zuflucht", werden die aktuell drängenden Fragen gestellt, nach Heimat, Identität, Integration, kultureller und politischer Zugehörigkeit. Doch dem Roman "Drei sind ein Dorf" haftet nichts Dokumentarisches an. Er schafft auf höchst literarische Weise Zugang zur Gefühlswelt einer Exilantin, die irgendwann keine mehr ist und es dann doch wieder wird.
    Dina Nayeris Protagonistin Nilou ist geboren im Jahr von Ajatollah Chomeinis Rückkehr, 1979. Acht Jahre lang ist für das iranische Mädchen die Welt in Ordnung. Unbeschwert lebt sie mit ihrem Bruder Kian in Isfahan. Die Eltern sind Ärzte mit Wurzeln im Provinzstädtchen Ardestun, das jedes Wochenende Ziel des Familienausflugs ist. Nilous Baba, ihr Vater, ist unbestritten der Mittelpunkt ihres Lebens:
    "Jeden Abend wartete ich auf der Treppe vor unserer Haustür auf ihn, und wenn ich ihn die Straße herunterkommen sah, rannte ich zu ihm und begrüßte als erstes das Gebäck, das er in der Tasche versteckt hatte. 'Hallo, sulbia, hallo baghlava!', sagte ich zu der Beule in seiner Jacke. 'Sauerkirschen? Eiscreme? Seid ihr da drin?' Er spielte den Beleidigten. 'Und was ist mit deinem Baba?' "
    Baba ist erfolgreicher Zahnarzt, Hedonist, Kenner persischer Lyrik und opiumsüchtig. Für Nilou wird er immer 33 Jahre alt bleiben, denn zu dem Zeitpunkt flüchtet das Mädchen mit der zum Christentum konvertierten Mutter und ihrem Bruder aus dem Iran. Das Mullah-Regime hatte die Mutter immer heftiger drangsaliert. Baba verspricht nachzukommen – irgendwann.
    Selbstbewusste Intellektuelle mit Yale-Abschluss
    Zwei Jahre dauert die Irrfahrt der Rumpf-Familie, bis Amerika zur neuen Heimat wird. Nilou entwickelt sich zu einer selbstbewussten amerikanischen Intellektuellen mit Yale-Studienabschluss. Nach dem Lehrbuch vieler Politiker ist das wohl eine geglückte Integration: Sprache, Job, Beziehungen, Karriere. Dann kommt der Umzug in ein anderes westliches Land, in die Niederlande, auch das im akzeptierten Blue-Card-Bereich. Kosmopolitisch normal ist schließlich auch Nilous Amsterdamer Heirat mit dem Franzosen Guillaume. Der erfolgreiche Anwalt war Spitzenreiter einer Dating-Rangliste, die Nilou nach rationalen Kriterien angelegt hatte.
    Nur – da bleibt ein persönliches Eckchen, das zu der glatten Erfolgsgeschichte nicht so recht passt. Nilou pflegt eine Parzelle, wie sie es scherzhaft nennt. Einen solchen Rückzugsort hat sie als Kind in Flüchtlings-Unterkünften eingerichtet – zuletzt im "Jesushaus" in Oklahoma, wo Dutzende Menschen in einem Raum beisammen lebten. Auch als Erwachsene braucht sie eine solche Schutzzone:
    "Sie geht ins Schlafzimmer, in die Ecke des begehbaren Kleiderschranks, und setzt sich in ihre Parzelle. Sie sichtet die Mappe mit ihrem Pass und ihren Einwanderungspapieren, ihrer Heiratsurkunde, ihrem Yale-Diplom, dem Kaufvertrag für die neue Wohnung in De Pijp und den Kostenvoranschlägen der Handwerker. Sie zählt nach: neun Dokumente, die ihr das Recht auf ihr Leben geben."
    Für Guillaume ist die krampfhaft verteidigte Parzelle ein Alarmzeichen. Verstörend sind für ihn auch Nilous Wutausbrüche aus Anlässen, die ihm nichtig erscheinen, wie die versehentliche Entsorgung einer Gewürzmischung, die Nilou jedes Jahr von der Großmutter in Ardestun geschickt bekommt.
    Die Ehe kriselt, und Nilou ist wieder auf der Flucht. Die neue Heimat, die sie findet, ist die alte, nämlich die Szene der Amsterdamer Exil-Iraner, die während der hart umkämpften Präsidentschaftswahlen von 2009 mitfiebern. Die politischen Diskussionen, das gemeinsame Kochen, die geteilten Erinnerungen ziehen Nilou an und trennen sie von Guillaume. Die erfolgreiche Amerikanerin erweist sich allmählich auch als innerlich unsichere Iranerin.
    In die Erzählung der Amsterdamer Gegenwart hinein webt Dina Nayeri geschickt zwei andere Handlungsstränge, erzählt in rückblickenden Kapiteln. Da ist zum einen das Isfahaner Leben ihres Vaters, dessen zweite und dritte Ehe, die Scheidungen, seine ungebremste Genuss-Sucht und sein Altern in der vertrauten Heimat.
    Familientreffen, üppig und global
    Und da gibt es, im Abstand vieler Jahre, ein paar Treffen mit Baba, immer in einem Drittland, für das er ein Touristenvisum ergattern kann. Diese Familientreffen, zu denen auch Mutter und Bruder kommen, finden in New York, London oder Istanbul statt. Es wird gelacht und gestritten, der Abstand zwischen den geschiedenen Eltern und den Geschwistern erweist sich als groß, wird aber bei den üppigen Mahlzeiten oft überbrückt. Baba versucht geschickt, seine Opiumsucht zu verstecken, spricht durcheinander Farsi und gebrochenes Englisch und nimmt – halb im Spaß – die verlorene Erzieherrolle wieder ein.
    In einem New Yorker Restaurant erfasst der Mann, den die Verbundenheit mit seiner dörflichen Heimat an der Flucht hindert, die Umgebung am genauesten wahr, etwa den Koch, dem die Gäste bei der Arbeit zusehen können:
    "'Nick für die Soße, Nilou', fordert er mich auf Farsi auf. (...) 'Du schaufelst dir das Werk dieses Mannes in den Mund, und er steht hinter der Glasscheibe und fragt sich, ob er das Richtige mit seinem Leben macht. Also nick wenigstens, als würde dich die Soße zumindest ein bisschen interessieren.'"
    "Drei sind ein Dorf" ist ein rasantes, gewitztes Buch mit starken Charakteren, das gilt vor allem für Nilou und ihren Baba, den die Tochter beschreibt als "Bonvivant und Opium-Schrägstrich-Wasserrutschen-Liebhaber, der noch nie in seinem Leben irgendetwas mit Nicken quittiert hat, wenn ihm nicht nach Nicken zumute war, der allergisch reagiert, wenn er verurteilt, analysiert oder herumkommandiert wird, und der überzeugt ist, jeder Christ oder Muslim sollte sich eine tiefe Senkgrube suchen und hineinspringen".
    Entscheidend sind die inneren Konflikte
    Die Familienerzählung ist Dina Nayeris Versuch, die vielen Schichten von Flucht und Exil, von Integration und Fremdheit, von einengender und Halt gebender Heimat offen zu legen, nicht mit Hilfe von Theorien und politischen Begriffen, sondern durch die genaue Darstellung der menschlichen Emotionen. Der Hauptkonflikt heißt nicht Zugehörigkeit oder Abgrenzung. Einwanderungsbehörden oder Integrationsforderungen spielen nur eine Nebenrolle. Entscheidend sind die inneren Konflikte, ist die Zerrissenheit zwischen dem Woher und dem Wohin. Flucht und Neuanfang sind nichts Lineares, es kann Verzögerungen, Umwege und zeitweise Rückbesinnung geben.
    Die iranische Heimat, die für Nilou lange gar keine Rolle zu spielen schien, erweist sich eben doch als wirkmächtig. Als sich am Ende des Romans Vater, Mutter und Tochter in Amsterdam treffen, scheint es, als ob sie die Lösung gefunden hätten und miteinander nun ihre rettende Dorf-Parzelle leben könnten, Ardestun in Amsterdam.
    Aber es deutet sich an, dass dies eine Illusion ist. Die schwere Aufgabe ist für alle Beteiligten das, was Baba seiner Tochter bei einem Treffen geraten hat, sie solle das "Vor- und Rückwärtsreisen üben". In dem Sinne hat Dina Nayeri sich mit diesem Roman als ehrliche Reisende und als kluge Reiseleiterin für jene erwiesen, die zuhören können.
    Dina Nayeri: "Drei sind ein Dorf"
    Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
    Mare Verlag, 368 Seiten, 24 Euro