Im Internet recherchieren auch Journalisten, und die sind offensichtlich zunehmend bereit, halb Wahres und gut Erfundenes auf den "Vermischten Seiten" ihrer Zeitungen auszubreiten. Erstaunlich, wie viele der von Brednich überlieferten Anekdoten sich in Presseerzeugnissen als Meldung nachweisen lassen; selbst eine Edelfeder wie Axel Hacke griff auf den Pinguinscherz zurück und schlachtete ihn literarisch aus. Gegen gute Stoffe – und das sind die meiste Anekdoten – ist das Immunsystem von Schreibern einfach machtlos, und so wundert es nicht, dass manche Gruselstory inzwischen als Film vorliegt. Die Arbeit der Volkskundler macht das nicht leichter, denn die wahre Quellenlage lässt sich so fast nie eruieren. Sind es jahrhundertealte, nur modernisierte Stoffe? Hat sie ein Schriftsteller erfunden und ist vergessen worden, während seine Produkte überlebten? Oder existiert tatsächlich ein wahrer Kern?
Geschichte Nummer 35 ist so ein Fall: Ein Ehemann vergiftet seine Frau im Krankenhaus durch mitgebrachte Pralinen; die aufmerksame Stationsärztin bemerkt Schwankungen in deren Gesundheitszustand und deckt den Anschlag auf. In der Realität – es gab sie – handelte es sich um selbst gekochte und vergiftete Marmelade, die ein Ulmer Chemielehrer vor etwa dreißig Jahren seiner krebskranken Frau ans Bett brachte, um ihr Sterben zu beschleunigen. Der Fall schrieb Rechtsgeschichte, denn der Täter wurde noch zu Lebzeiten seines Opfers wegen Mordes verurteilt; die Frau hatte keinerlei Heilungschancen und starb kurze Zeit darauf. An dieser Geschichte lässt sich das Einordnungsdilemma der Volkskundler gut nachvollziehen.
Als Quelle gilt ein Göttinger Medizinprofessor, der offensichtlich nicht genügend Fakten kannte, um die Wahrheit zu belegen und sie deshalb in verfälschter Form weitergab. Nach drei, vier Zwischenwirten ist vom realen Ursprung nicht mehr viel zu erkennen, und wahrscheinlich hatte der Professor die Information selbst aus fünfter, sechster, siebter Hand. Ein bisschen fahrlässiger verhält es sich bei Geschichte 46 von der sich selbst nachstellenden, automatischen Parkscheibe. Ein Klick ins Internet hätte genügt, um festzustellen, dass es sich nicht um eine Wandersage, sondern ein gängiges Produkt handelt. Derzeit kostet es 9,90 Euro, vom Kauf sei abgeraten, der Betrieb ist verboten. Doch die Mäkelei zeigt, warum auch diesem Buch riesiger Erfolg beschert sein wird: Jeder Leser fühlt sich sich angesprochen, will hinzufügen, korrigieren, richtig stellen, seine eigene Betroffenheit artikulieren. Denn tatsächlich: Wandersagen betreffen jeden, der nicht weltabgewandt in einem tibetanischen Kloster lebt. Sie sind sie auch keine Hochliteratur und klingen manchmal wie an den Haaren herbeigezogen, so stiften sie doch Kommunikation. Welcher Autor kann das von seinen Werken schon behaupten?
Rolf Wilhelm Brednich
Pinguine in Rückenlage
C.H. Beck, 158 S., EUR 6,90