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Diskussion um Schröders Sozialreformen

Meurer: Auch wenn das Interesse im Moment natürlich dem Irak-Krieg gilt, in den Reihen von SPD und Rot-Grün wird natürlich weiter am Reformprogramm des Kanzlers gearbeitet, diskutiert und gestritten. So einig man sich in der Ablehnung des Krieges war und ist, bei den geplanten Sozialreformen rumort und gärt es. Die Grünen bereiten einen Sonderparteitag vor, und bei der SPD war gestern Wirtschaftsminister Wolfgang Clement in der Bundestagsfraktion, um seine Vorstellungen zu erläutern, zum Beispiel seinen Plan, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeld zu verkürzen oder die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau abzusenken. Am Telefon begrüße ich nun den stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Ludwig Stiegler. Guten Morgen, Herr Stiegler.

    Stiegler: Schönen guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Hat Wolfgang Clement gestern die Fraktion überzeugen können?

    Stiegler: Wolfgang Clement hatte gestern eigentlich zwei Aufgaben: Einmal, das ganze Übergangsregime bei der Bundesanstalt für Arbeit zu erläutern. Das war eigentlich der Anlass der Sitzung. Viele Abgeordnete haben in den Wahlkreisen eben lernen müssen, dass der Übergang von der Politik vor Hartz in eine Politik nach Hartz erhebliche Spuren hinterlässt, und wir haben darüber seit Wochen intensiv diskutiert und eine Kursanpassung in dem einen oder anderen Fall gefordert. Das war das Eine. Der zweite Teil war eben, den jetzigen Stand der Konkretisierung des Reformprogramms vom 14. März darzulegen, aber im Mittelpunkt stand zum Beispiel die von der Fraktion seit Wochen intensiv verlangte Korrektur der Politik für die jungen Leute, und wir sind froh, dass Wolfgang Clement gestern in der Fraktion und heute in den Medien ein Sofortprogramm für die Bekämpfung der Jungendarbeitslosigkeit vorlegen wird und dass dafür erheblich mehr Mittel eingesetzt werden, dass also die Ausbildungsplatzkampagne, die sich an die Wirtschaft richtet, auch öffentlich mit Unterstützung der Bundesanstalt vorangetrieben wird.

    Meurer: Aber es bleiben natürlich die geplanten Sozialkürzungen. Stehen Sie voll hinter Clement?

    Stiegler: Ich stehe hinter den Zielen dieses Programms und ich stehe auch dazu, dass wir ganz wichtige Entscheidungen in der Arbeitsmarktpolitik treffen müssen, um wieder Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu bekommen. Wir haben zu wenig Wachstum. Wir haben zu wenig private Investitionen. Im Grunde fehlen drei bis vier Millionen Arbeitsplätze, das heißt, es fehlen 300 bis 400 Milliarden Euro privater Investitionen, und wenn wir nicht das Vertrauen begründen, dass die sozialen Systeme stabil bleiben, dann wird es diese Investitionen nicht geben. Also ist die Hauptaufgabe, neben den öffentlichen Investitionen, die erforderlich sind, Rahmenbedingungen zu schaffen, die private Investoren, sei es im Inland oder Ausland, auf mittlere Sicht die Sicherheit geben, dass die sozialen Systeme nicht explodieren. Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass man die Lohnnebenkosten dramatisch senken könnte, aber ich gehöre schon zu denen, die inzwischen davon überzeugt sind, ohne eine klare Stabilitätsbotschaft in diesem Bereich werden wir die notwendigen Investitionen nicht bekommen, und dann werden die letzten Dinge schwieriger als die ersten.

    Meurer: Aber es geht ja doch um ganz schön viel Geld. Wenn ich das richtig sehe, will Clement drei Milliarden Euro bei der Arbeitslosenunterstützung einsparen. Ist das noch sozialdemokratisch?

    Stiegler: Was heißt denn einsparen? Man muss ja immer sehen, es steht im Vordergrund die bessere Vermittlung. Wir haben doch kein staatliches System. Bisher haben wir gesagt, dulde und liquidiere. Es ist gezahlt worden und wenig aktiviert worden. Wir werden in Zukunft eine neue Bundesanstalt haben. Bisher haben an die 7.000 Menschen sich um das Vermittlungsgeschäft in Ausbildungs- und Arbeitsplätze gekümmert. In Zukunft wird zum Beispiel ein Coach für 75 Jugendliche zuständig sein, das heißt, wir bringen enorme Bewegung auch in die Vermittlung, und deshalb wird der Arbeitsmarkt der Zukunft anders ausschauen.

    Meurer: Und trotzdem bleibt die Sorge von älteren Arbeitnehmern, was bedeutet es für uns, wenn wir nur noch im Fall der Fälle maximal 18 Monate Arbeitslosengeld bekommen?

    Stiegler: Das ist richtig und gerade was die Eltern anbetrifft haben wir klargemacht - ich schon praktisch am Tag nach der Kanzlerrede -, dass es niemandem etwa an seine Besitzstände geht. Es wird eine klare Übergangszeit geben, wo man sich auf das neue System einstellen kann, so dass also gerade die Älteren da nicht damit rechnen müssen, quasi aus dem Himmel zu fallen, aber wir haben alle miteinander in der Fraktion mit großer Einigkeit festgestellt, das, was bisher Großunternehmen oder große Verwaltungen gemacht haben, dass man hier auf Kosten der sozialen Systeme die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Betrieben herausgedrängt hat, was uns ungefähr einen Beitragspunkt in den Sozialversicherungen heute schon kostet und wovon die Masse der kleinen und mittleren Betriebe und ihre Arbeitnehmer nichts hat, diese Politik werden wir beenden. Man wird keinen Sozialplan auf Kosten der Sozialversicherung mehr machen können, sondern Ziel muss sein vor dem Hintergrund des demokratischen Wandels, dass wir möglichst lange Erwerbsbiographien wieder bekommen. Das wird miteinander angestrebt. Wir haben gestern gesagt, Aktivpläne statt Sozialpläne müssen in der Zukunft im Mittelpunkt des Denkens sein.

    Meurer: Dennoch: Kommt beim Wähler nicht an, die SPD bricht Wahlversprechen, senkt die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfe und im Wahlkampf war auch nicht von der Kürzung des Arbeitslosengeldes die Rede?

    Stiegler: Im Wahlkampf hatten wir auch Wachstumserwartungen von 3,5 Prozent. Wir hatten eine Weltwirtschaft, die uns im Aufschwung erschien, vor allem als ein Jahr zuvor das Wahlprogramm gemacht worden ist. Es wird der SPD, ihren Anhängern, deren Wählern, deren Mitgliedern nichts anderes übrigbleiben, als sich auf die veränderten Wachstumsbedingungen einzustellen. Wir können uns nicht die Wirklichkeit hier konstruieren, wie wir sie uns gerne wünschen, sondern wir müssen Politik machen unter veränderten Verhältnissen, und das haben wir schon vor dem Irak-Krieg gesagt. Nach dem Irak-Krieg mag das Ganze noch einmal etwas schwieriger werden, und das ist erklärungsbedürftig. Ich bin ja auch die ganze Woche und die Wochenenden im Lande unterwegs, um das zu diskutieren, aber wenn es dann gelingt, zum Beispiel mal deutlich zu machen, dass in der deutschen Wirtschaft 700 Milliarden Euro verschwunden sind in den Bilanzen der Banken und Versicherungen und entsprechend aufgeteilt in den vielen privaten Rechnungen, dann ist es eine enorme Geschichte. Ich habe gestern gesagt, 700 Milliarden Verluste an den Börsen ist fast so viel wie 140 Jahre Vermögenssteuer, nur damit man die Dimensionen sieht. Wir müssen zum Beispiel unseren Hauptschwerpunkt darauf legen, dass wir wieder Wachstum, Beschäftigung bringen. Die Banken müssen wieder kreditvergabefähig werden. Die kleinen und mittleren Betriebe müssen in die Lage versetzt werden, dass sie wieder Kredite aufnehmen können. Die Kapitalbeteiligung muss vorangetrieben werden, damit der Wirtschaftsprozess wieder in Gang kommt, und deshalb war es wichtig, dass Wolfgang Clement gestern das Gesamtprogramm, die gesamte Baustelle dargestellt hat und nicht einzelne Punkte, die in den Medien weit diskutiert werden, wo die Leute dann fragen, oh Gott, gibt es da noch Nadelstiche, während hier gestern die ganze Akupunktur, die Diagnose und die Zielsetzung der Operation bekannt geworden ist. Ich denke, auf diesem Weg kommen wir voran.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio