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Diskussion um Spitzenposten
Wessels: "Es wird nicht einfach für Juncker"

Die Auseinandersetzung zwischen Europäischem Parlament und Europäischem Rat über den kommenden EU-Kommissionspräsidenten werde prägend sein, glaubt der Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels. Im DLF sagte er, es könne durchaus sein, dass es über längere Zeit eine Pattsituation zwischen beiden Institutionen geben könnte. Das müsse man dann aushalten.

Wolfgang Wessels im Gespräch mit Dirk Müller | 28.05.2014
    Spitzenkandidat der EVP: Jean-Claude Juncker bei einem Interview in Madrid.
    Spitzenkandidat der EVP: Jean-Claude Juncker (picture alliance / dpa / Zipi)
    Der Spitzenkandidat der EVP, Jean-Claude Juncker, brauche 376 stimmen, um gewählt zu werden. Es werde nicht so einfach für Herrn Juncker sein, die zu mobilisieren, sagte der Politikwissenschaftler der Universität Köln.
    Es gebe eine Konstellation aus dem Lissaboner Vertrag, der nicht unbedingt einen Gewinner vorsehe. Das Europäische Parlament wähle den Kommissionspräsidenten, er sei sich aber nicht sicher, dass das Parlament so agieren werde, wie es im Moment aussehe, so Wolfgang Wessels.

    Dirk Müller: Am Telefon mitgehört hat Professor Wolfgang Wessels, Politikwissenschaftler und EU-Kenner an der Universität in Köln. Guten Tag.
    Wolfgang Wessels: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr Wessels, wie viel Peinlichkeiten dürfen sich Regierungschefs leisten?
    Wessels: Och, ich würde mal eher sagen, was wir jetzt sehen, ist ja eine Auseinandersetzung, die sicherlich prägend sein wird in den Auseinandersetzungen zwischen den Mehrheiten im Europäischen Parlament und den Mehrheiten im Europäischen Rat. Das ist einmal ganz normal für politische Institutionen, dass sie miteinander ringen. Sie müssen ja beide zustimmen, also beide sind notwendig, und wir kennen das aus anderen Systemen. Gehen Sie nur in die Vereinigten Staaten, dann sehen Sie, wie häufig der Präsident mit dem House of Congress sich auseinandersetzen muss. Diese Art von Konflikten würde ich jetzt mal erst als institutionell bedingt sehen, und man muss dann feststellen, wie die Einzelnen darauf eingehen werden und wie dann am Schluss auch für den Wähler, für die Wählerin, welches Bild sich abzeichnet.
    Müller: Nicht jeder Vertrag, vielleicht auch nicht Lissabon, dient automatisch der Demokratisierung oder der Demokratie. Wenn ich ganz neutral frage, wenn ich für die Demokratie bin und für die Demokratisierung, muss ich dann aufseiten des Parlaments stehen?
    Wessels: Nein. Das entspricht zwar nicht immer den Vorstellungen, die wir gerade in Deutschland haben, aber Sie werden feststellen, dass natürlich in vielen anderen Staaten gesagt wird, der Herr Cameron ist viel legitimierter als die britischen Abgeordneten, die im Europäischen Parlament sind. Das entspricht auch unserer Vorstellung. Nicht zuletzt hat ja auch Frau Merkel hier plakatiert, ist plakatiert worden als quasi Mobilisierer für die Europawahl. Also ich glaube schon, dass der deutsche Bürger auch sagen würde, natürlich ist die Frau Merkel auch legitimiert, und wenn sie gewisse Überlegungen hat, dann sind diese auch durchaus mit zu berücksichtigen. Wir sollten da aufpassen, dass wir uns nicht zu stark nur sagen, nur die Wahl - und Sie dürfen ja nicht vergessen, das sind 40 Prozent der Wähler, die gewählt haben -, nur diese Wahl bestimmt automatisch den Kandidaten. Ich gehe auch davon aus, ich habe eben ein bisschen mitgehört und der Korrespondent aus Brüssel ist wahrscheinlich näher dran als ich, aber ganz so eindeutig wird das im Europäischen Parlament ja auch nicht gehandhabt werden. Herr Juncker ist ja beauftragt, Mehrheiten zu beschaffen, und er muss 376 Abgeordnete bekommen, die er wahrscheinlich nur im Zusammenspiel zwischen der EVP und den sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien bekommen kann. Aber die muss er auch mal bekommen und da sind ja auch nicht alle automatisch auf seiner Linie. Also ich bin mir nicht sicher, ob das Europäische Parlament so geschlossen nachher agieren wird, wie das im Augenblick auch vorgetragen wird. Nochmals: Das Europäische Parlament hat das Recht, das zu tun, und meines Erachtens sollte es dies tun, aber wir werden auch sehen, dass nicht notwendigerweise die 376 so einfach für Herrn Juncker zu mobilisieren sind.
    "Frau Merkel bestimmt den Kommissionspräsidenten ja nicht"
    Müller: Herr Wessels, ich möchte bei dem Punkt noch mal bleiben. Wir haben ja häufig auch schon über dieses sogenannte Demokratiedefizit Europas gesprochen. Wenn ich jetzt Ihren Äußerungen folge, dann heißt das, Angela Merkel bestimmt, Angela Merkel stellvertretend für die Staats- und Regierungschefs, den neuen Kommissionschef, redet damit entscheidend mit. Das würde jetzt bedeuten, dass Hannelore Kraft bestimmt, wer Bundeskanzler würde?
    Wessels: Nein. Wir gehen ja erst mal davon aus, dass dies nach dem Vertragstext läuft. Frau Merkel bestimmt den ja nicht, sondern ist Teil einer Gruppe, die diesen Kommissionspräsidenten mit bestimmen will. Und der Vertrag sieht sehr deutlich vor, dass das ein gemeinsames Vorgehen von Europäischem Parlament und Europäischem Rat ist.
    Müller: Aber der Vertrag kann ja schlecht sein?
    Wessels: Ich würde den für richtig erachten. Stellen Sie sich mal vor – ich sage das jetzt mal, wir spielen das mal durch -, bei Herrn Juncker ist es noch ein bisschen anders, weil die Kollegen im Europäischen Rat, die Regierungschefs ihn kennen. Er war ja lange luxemburgischer Premierminister. Stellen Sie sich vor, Herr Schulz, der noch nicht im Europäischen Rat länger war – er war immer eingeladen als Präsident der Kommission -, und, ich sage mal, drei Viertel der Staats- und Regierungschefs wollen mit dem nichts zu tun haben. Das ist nicht gut für keinen. Das ist für niemanden gut. Es sei denn, Sie würden die Verträge grundsätzlich ändern. Das ist wieder eine andere Frage. Das könnte man auch sicherlich angehen und überlegen zu sagen, wir machen es wirklich so, wie Sie das Beispiel gesetzt haben, dass das Europäische Parlament den Regierungschef oder den Chef der Exekutive wählt. Das kann man machen. Dann muss man den Vertrag ändern, muss aber auch gleichzeitig sagen – und ich muss das deutlich sagen -, dann geht vieles von dem verloren, was konsensbildend ist in Europa, dass nämlich zum Beispiel kleinere Staaten mitwirken. Unter dem Demokratievorbehalt oder bei Demokratievorstellungen wird ja häufig übersehen, dass kleinere Mitgliedsstaaten nun nicht der Mehrheit der großen Mitgliedsstaaten einfach folgen wollen, und auch gar nicht erst der Mehrheit, die das bevölkerungsreichste Land hat, nämlich Deutschland.
    "Die Rechtslage ist hier ganz einfach: Das Europäische Parlament wählt den Präsidenten"
    Müller: Herr Wessels, Entschuldigung, wenn ich hier unterbreche. In der Bundesrepublik intern betrachtet ist das doch auch so. Die Nordrhein-Westfalen haben mit ihren Abgeordneten im Bundestag mehr Stimmengewicht als die Saarländer. Und wenn Sie sagen, das ist für das Austarieren der Interessen wichtig, dann könnte man doch zu dem Schluss kommen, dass das Parlament zwar gewählt wird - 400 Millionen Bürger sind da aufgerufen, sind nicht alle hingegangen, nur jeder vierte von diesen zehn -, aber dieser Wählerwille wird ignoriert.
    Wessels: Wie bitte?
    Müller: Dieser Wählerwille wird im Ergebnis ignoriert.
    Wessels: Nein! Das stimmt nun überhaupt nicht. Dann haben Sie mich missverstanden. Der wird ja nicht ignoriert, ganz im Gegenteil. Er spielt eine ganz zentrale Rolle und soll es ja auch. Aber er ist nicht endgültig. Es tut mir leid: Bei 200 Abgeordneten von 751 kann man nicht sagen, dass Herr Juncker von der Mehrheit der Bevölkerung der Europäischen Union legitimiert ist, der Exekutivchef zu werden. Das kann man so nicht sagen.
    Müller: Wir würden ja davon ausgehen, dass sich eine Mehrheit bildet. Wenn die Sozialisten, die Sozialdemokraten und die Konservativen zusammenkommen, ist das ja fast schon die Hälfte.
    Wessels: Ja, und dann können die das ja auch bestimmen. Dann können die auch durchgehend das machen. Dann lehnen sie eben alle Vorschläge des Europäischen Rates ab, das ist ganz einfach. Das ist ganz einfach. Die Rechtslage ist hier einfach: Das Europäische Parlament wählt den Präsidenten. Das heißt, die müssen die 376 Stimmen haben, und wenn Herr Juncker die hat und jeden Vorschlag des Europäischen Rates ablehnen kann, der nicht Juncker heißt, dann ist da ein Patt und dann wird sich da auseinandergesetzt. Noch mal: Was mein Anliegen ist, ist zu sagen, wir haben hier eine Konstellation, die aus dem Vertrag nicht eindeutig einen Gewinner vorsieht, es wird jetzt vorgehalten, dass aufgrund dieser Spitzenkandidat-Überlegung das automatisch geschehen soll, dass die Staats- und Regierungschefs, die ja auch legitimiert sind - das wird immer wieder vergessen; die sind ja von ihrer Bevölkerung legitimiert -, dass die praktisch keine eigene Meinung mehr haben sollen. Das ist eine Überlegung, die man machen kann und die man vertreten kann, die aber wohl nicht akzeptiert wird, und dann gibt es die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Organen und dann werden wir mal sehen, wer wie lange dann das aushält und durchhält. Nochmals: Das Europäische Parlament wählt den und hat das letzte Wort.
    Müller: Es kann blockieren, kann Nein sagen?
    Wessels: Es kann immer wieder Nein sagen, und ich finde, das ist eine Lösung, die darauf hinführt, dass man einen Kandidaten wählt, der einen möglichst breiten Konsensbogen bietet, und das ist, das muss man doch sagen, unterschiedlich zu der Bundesrepublik Deutschland, die ja doch ein einheitliches Wahlvolk haben. Ich darf noch mal darauf hinweisen, dass wir hier 28 Mitgliedsstaaten haben, die zum Beispiel diese Spitzenkandidaten-Diskussion ganz anders sehen als in Deutschland. In Deutschland wurde ja auch ein Spitzenkandidat schon negiert. In anderen Mitgliedsstaaten ist keiner der Spitzenkandidaten wirklich als Spitzenkandidat gehandelt worden. Da sind ganz andere Diskussionen, die auch durchaus demokratisch legitimiert sind. Und mein Punkt ist: Ich finde, Herr Juncker hat jetzt den Auftrag, aus dem Europäischen Parlament die Mehrheit zu bekommen. Er wird mit Herrn van Rompuy sprechen müssen, welche Mehrheiten im Europäischen Rat sind. Und es kann durchaus über längere Zeit ein Patt geben, und das müssen wir dann aushalten.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Wolfgang Wessels, Politikwissenschaftler an der Universität in Köln. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Wessels: Bitte schön, Herr Müller.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.