Donnerstag, 28. März 2024

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Diskussion um Strategiepapier

Spengler: Es ist noch nicht so lange her, dass der Kanzler mahnte, die Kakophonie in Bundesregierung und SPD, also den Vielklang der Meinungen und Ansichten zu beenden. Der Appell nutzte wenig, und vielleicht auch deswegen, weil sich das Kanzleramt selbst nicht daran hält. Die für die Sozialsysteme zuständige Ministerin Ulla Schmidt war in die Pläne des Kanzleramtes ebenso wenig eingeweiht wie die sozialdemokratische Bundestagsfraktion. Mitglied der Fraktion und ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher ist Klaus Brandner. Herr Brandner, Sie waren auch überrascht oder?

23.12.2002
    Brandner: Ich war über das Papier überrascht. Gerne bin ich an der Hartz-Reform beteiligt gewesen; das wird ja im Papier wird sehr ausdrücklich und umfassend gewürdigt, und es wird deutlich gemacht, dass wir Reformen brauchen. Das Papier macht, insgesamt gesehen - und da bin ich überhaupt nicht überrascht -, sehr deutlich, dass wir, insbesondere die Situation Deutsche Einheit mit dem Reformstau unserer Vorgängerregierung, eine Menge an Reformen vor uns haben und auch diese Reformen mit dem Elan, wie wir das bei Hartz gemacht haben, anpacken müssen. In Bezug auf die Gesundheit, muss ich ganz deutlich sagen, bin ich insofern überrascht, weil die Rürup-Kommission ja einen Auftrag bekommen hat, einen umfassenden Vorschlag zu erarbeiten, und ich würde mir vorstellen und wünschen, dass wir diese Kommissionsvorschläge genauso zügig bewerten, wie wir das bei den Hartz-Vorschlägen gemacht haben und diese dann auch in das parlamentarische Verfahren einbringen und umsetzen.

    Spengler: Könnten Sie uns denn den Sinn erklären, dass man erst eine Rürup-Kommission einsetzt, die sich ja nun genau um die Reform der Sozialsysteme kümmern soll, und dass es nun auch noch eine Expertenrunde im Kanzleramt gibt - die hat sogar einen Namen, Strategie 2010 -, die genau dasselbe macht? Wo liegt der Sinn?

    Brandner: Na ja, für den Hörer wird es schwer nachvollziehbar sein, dass wir in allen Bereichen eine Planungsabteilung haben. Ministerien, die sich eigene Gedanken, eigene Strategieüberlegungen machen, sind ja nichts Neues, und ich finde es auch wichtig, dass bedacht wird, überlegt wird, mit welchen Konzepten man bewerkstelligen kann, dass die Abgabenlast in diesem Land geringer wird. Aber das Papier macht ja in einem Punkt auch sehr deutlich - und das ist widersprüchlich -, dass insbesondere in unseren westlichen, nördlichen Nachbarstaaten, Niederlande, Dänemark, die Sozialquote, insgesamt gesehen, noch höher ist als in Deutschland, aber die Effizienz der Systeme als besser und höher eingeschätzt wird, als es bei uns der Fall ist. Insofern müssen wir auch deutlich machen, dass es nicht nur darum geht, die Abgabenlast zu beklagen, sondern deutlich zu machen, dass die Systeme in sich eine hohe Effizienz haben und für die Bürger und Bürgerinnen da sind.

    Spengler: Bevor wir noch ein bisschen näher auf die Inhalte des Papiers eingehen, lassen Sie mich noch etwas bei der Art und Weise bleiben, wie nun dieses Papier an die Öffentlichkeit kommt, welche Rolle die Fraktion spielt. Die Fraktion spielt dort gar keine Rolle. Damit können Sie doch nicht einverstanden sein, dass das alles an Ihnen vorbei passiert.

    Brandner: Na ja, die Fraktion spielt immer eine Rolle, weil es immer bei der Fraktion auf dem Tisch landen muss, denn die Fraktion ist letztlich der Gesetzgeber, und das lässt sie sich auch nicht nehmen. Sie haben ja auch gesehen, wie im Bereich der Hartz-Kommission die Dinge noch ergänzt, verbessert worden sind, und so wird es bei einem solchen Papier, bei einer solchen Aktivität genau so sein. Das Problem, was in der Öffentlichkeit einfach da ist, ist, dass plötzlich ein Papier, jetzt aus dem Kanzleramt, manchmal aus den Ministerien auftaucht, und das dann als das Programm angesehen wird. Das darf man nicht. Ich baue darauf, dass die Fraktion auch Selbstbewusstsein genug hat, einen eigenen Weg zu gehen. Insofern hat sie das ja bisher auch getan.

    Spengler: Sollte es da einen Protest des Fraktionschefs beim Kanzler geben?

    Brandner: Der Fraktionschef wird in der Fraktion richtig stellen und deutlich stellen, welche Bedeutung ein solches Papier hat. Das Papier ist ja überschrieben mit dem Stichwort "Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit", und diese Beschreibung als Zielvorgabe, dass sich Menschen dazu Gedanken machen und zu Papier bringen, ist erst einmal nicht verwerflich. Auf dem Gebiet brauchen wir ja auch Wettbewerb. Wir brauchen auch den Wettbewerb der besseren Ideen, und die müssen zusammengetragen werden. Deshalb meine ich, ein bisschen weniger Aufgeregtheit, sondern sich die Punkte vornehmen, sich damit auseinander zu setzen, das beste herauszusuchen und das zum politischen Programm zu machen.

    Spengler: Also Sie stört es nicht, dass so etwas im Kanzleramt gemacht wird, dass die Fraktion erst aus der Presse davon erfährt, und dass zum Beispiel auch in dem Fall der politische Gegner Horst Seehofer das Papier eher hat als Sie?

    Brandner: Mich stört so etwas natürlich. Das ist nicht wegzudiskutieren. Nur: Ich habe mich auf so etwas eingestellt, weil in Ministerien doch unabhängig von politischer Couleur Papiere erarbeitet werden und teilweise gezielt gestreut werden oder auch nicht. Damit muss man sich auseinandersetzen. Da habe ich mir persönlich mehr Gelassenheit verordnet, weil ich davon überzeugt bin, dass letztlich das, was die Bürgerinnen und Bürger als wichtig und sinnvoll ansehen, zum Thema der Politik gemacht werden muss.

    Spengler: Eine Zeitung zitierte gestern mehrere Abgeordnete aus Ihrer Fraktion, die hinter vorgehaltener Hand angeblich sagen, dass die Chemie zwischen Schröder und Müntefering nicht mehr stimme. Haben sie Recht?

    Brandner: Das habe ich jetzt noch nicht erlebt. Ich gehe davon aus, dass beide gewillt sind, dass wir einen offensiven Reformkurs fahren. Dazu gehört auch die rechtzeitige Verständigung. Aber nochmals: Hier gibt es eine Arbeitsgruppe, die Überlegungen zusammenträgt, die doch nicht eins zu eins umzusetzen sind. Insofern muss ich sagen, das Papier hält - und das sagen auch die Medien - überwiegend Beschreibungen der Gesamtsituation und sozusagen ganz wenig Beispiele, wie diese Gesamtsituation mit gesetzgeberisches Handeln verändert werden kann. Und da haben wir Gesundheitspolitik am stärksten. Da werden einige Hinweise gegeben, die aber auch in Ergänzung oder teilweise im Widerspruch stehen. Sie haben in Ihrem Vorbericht darauf hingewiesen, dass insbesondere unterschiedliche Tarifleistungen bei der Wahrnehmung von präventiven Maßnahmen im Gesundheitswesen angedacht sind. Das sind doch Überlegungen, die sinnvoll sind, die letztlich bedeuten, dass ein mehrfach Nutzen von medizinischen Leistungen völlig unsinnig ist und solche Anreizsysteme mit solchen Wahltarifen verändert werden können.

    Spengler: Also es ist ja die Rede von doch einigen ziemlich tabulosen Einschnitten auch bei den Renten, zum Beispiel sollten sich die Rentner selber an der Gesundung der Staatsfinanzen beteiligen, heißt es. Und es gab zum Beispiel Beifall von Horst Seehofer für dieses Papier. Ich verstehe Sie jetzt richtig, dass auch Sie mit den großen Passagen dieses Papiers einverstanden sind?

    Brandner: Ich bin weiten Passagen einverstanden. Ich bin nicht einverstanden mit den gesundheitspolitischen Überlegungen, die angesprochen worden sind, und ich bin auch nicht einverstanden mit der Frage, ob Renten weiter gekürzt werden müssen. Manche haben dabei das Rentensystem nicht verstanden. Wir haben durch die große Rentenreform sichergestellt, dass die Beitragsbelastungen der Jüngeren zu geringeren Rentensteigerungen bei den Älteren führt, also eine Systemformel gefunden, die einen Ausgleich im System darstellt, und wenn wir jetzt vorübergehend geringfügig die Beiträge in der Rentenversicherung auf 19,5 Prozent anheben, dann hat das direkt zur Folge, dass die Rentensteigerungen für die Älteren geringer ausfallen. Das wird in der Debatte gelegentlich übersehen, und es wird so dargestellt, als wären die Rentnerinnen und Rentner diejenigen, die in diesem Land, wirtschaftlich gesehen, durchweg gut dastehen würden. Also da muss ich schon ein bisschen auf die Genauigkeit achten und auch darauf bestehen, dass man unser Rentensystem, was ja ansonsten als sehr positiv im Papier dargestellt wird, auch versteht. Da muss man andere Facetten mit in Erwägung ziehen und nicht sich dem Zeitgeist anpassen und sagen, die Jungen tragen die Last. Wir haben gerade mit der Reform ein hohes Vertrauen wieder in die gesetzliche Rente gewonnen, die in den 90er Jahren völlig dahin war. Kaum einer hat noch dem gesetzlichen Rentensystem vertraut, und ich würde es als äußerst problematisch ansehen, dieses Vertrauen durch eine nicht sachbezogene Debatte wieder in Misskredit zu bringen.

    Spengler: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio