Freitag, 19. April 2024

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Ditib und die türkische Offensive in Syrien
"Plumpe Kriegspropaganda"

Der Berliner Islamwissenschaftler Wilfried Buchta hat im Zusammenhang mit der türkischen Offensive in Syrien den Islamverband Ditib scharf kritisiert. Mit den Aufrufen zum Gebet für die türkischen Soldaten missbrauche Ditib Religion als Propagandainstrument, sagte Buchta im Dlf.

Wilfried Buchta im Gespräch mit Andreas Main | 25.01.2018
    Türkische Truppen in der Nähe der syrischen Grenze in Hassa.
    Die türkische Armee marschiert in Nordsyrien ein (imago stock&people)
    Andreas Main: Herr Buchta, im Großen und Ganzen, Jemen, Syrien, Irak, Iran, Saudi-Arabien: Religion spielt eine Rolle in den Konflikten dieser Region. Manche bezeichnen den Islam als "Giftstoff". Wie sieht es im Detail aus? Jetzt, im Norden Syriens, im Distrikt Afrin, wo jetzt Türkei und Kurden aufeinanderprallen, welche Rolle spielt die Religion dort?
    Wilfried Buchta: Die Religion spielt in dem Konflikt, der sich gerade abspielt zwischen den einmarschierenden Invasionsstreitkräften der türkischen Armee und den kurdischen Kämpfern der YPG, nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Konflikt – anders als in anderen Konflikten, wie zum Beispiel im Irak – geht es jetzt in erster Linie nicht um einen Kampf zwischen zwei verschiedenen islamischen Konfessionen, sprich: auf der einen Seite die Schiiten, auf der anderen Seite die Sunniten.
    Hier geht es um einen nationalistischen Konflikt zwischen den Kurden, die im Norden Syriens eine Teilautonomie erstreiten wollen, und den einmarschierenden Türken. Die Türkei befürchtet einfach die Bildung eines großen Autonomiegebietes im Norden Syriens, das einen Ausstrahlungseffekt haben könnte im Hinblick auf Autonomiebestrebungen der eigenen, türkischen Kurden, geführt von der Arbeiterpartei PKK.
    "Religion als Propagandainstrument"
    Main: Sie sagen, Religion spielt keine Rolle. Und doch ruft der Chef der türkischen Religionsbehörde Diyanet in Ankara zum Fürbitt-Gebet auf – zum Fürbitt-Gebet für die Soldaten, die gegen Kurden kämpfen. Also, Religion spielt doch eine Rolle.
    Buchta: Ja, aus der Sicht der türkischen Diyanet, das ist ja die Religionsbehörde in Ankara, die eben auch als verlängerten Arm die Ditib hier in Deutschland kommandiert, soll eben die Religion eingesetzt werden als Propagandainstrument. Ich sehe diese Aufrufe der Ditib-Gemeinden, die es ja gab in Süddeutschland, als plumpe Kriegspropaganda, wo Religion missbraucht wird, verwendet wird zur Förderung nationalistischer Aktionen eines mehr und mehr sich autoritär gebärdenden türkischen Staates.
    Der türkische Präsident Erdogan spricht in Ankara.
    Der türkische Präsident Erdogan (AFP / Adem Altan )
    Wie wir alle seit anderthalb Jahren sehen können, entwickelt sich die Türkei Schritt für Schritt immer mehr in Richtung auf eine islamistische Präsidialdiktatur. Zu diesem Zweck wird die Diyanet und die verlängerten Arme der Diyanet, wie die Ditib, auch als Propagandainstrumente genutzt, um die Religion zu verwenden, staatliche Zwecke, auch staatliche Kriegshandlungen, zu fördern und zu rechtfertigen.
    Main: Gehen wir zurück in die Region. Die türkische Regierung bezeichnet diesen Angriffskrieg – oder, wie sie es selbst sieht: Präventivkrieg – als "Operation Olivenzweig". Mit christlich oder jüdisch geprägten Ohren hört sich das friedlich und nach Bibel an. Wie hört das ein muslimisch geprägtes, arabisch- oder türkischsprechendes Ohr?
    Buchta: Ja, für nationalistisch orientierte Türken in der Türkei klingt das überzeugend, weil sie das kennen: aus ihrer eigenen Geschichte, aus der Geschichte des Osmanischen Reiches, das 1922 untergegangen ist und ersetzt wurde durch eine laizistische, kemalistische Präsidialrepublik. Das ist ihnen bekannt.
    Aber für Kurden in Syrien oder auch für sunnitische Araber, die eben nicht die Ziele der Türkei teilen, klingt das wie reiner Hohn, wie Zynismus. Das ist eine euphemistische, zynische Formel, mit der eben ein nicht gerechtfertigtes Invasionsprojekt gerechtfertigt werden soll.
    "Religion ist für Kurden nur sekundärer Identifikationsfaktor"
    Main: Lassen Sie uns mal ein wenig die religiöse Landkarte jener Region betrachten, die jetzt angegriffen wurde, also der Distrikt Afrin. Es heißt, es lebe dort auch eine größere Gruppe von Jesiden und es gebe christliche Minderheiten – was können Sie sagen über die konfessionelle Zusammensetzung in jener Region? Oder, wenn das zu speziell ist, über konfessionelle Identitäten von Kurden?
    Buchta: Kurden sind in der überwiegenden Mehrzahl sunnitische Muslime. Aber das Element der Religionszugehörigkeit spielt bei ihnen nur die zweite Rolle. Also, als sekundärer Identifikationsfaktor ist Religion immer nachgeordnet. Das wichtigste Element für das kurdische Selbstbewusstsein, sowohl als Individuum wie auch als Kollektiv, ist in der Regel der kurdische Nationalismus, das Streben also nach Autonomie – oder Teilautonomie in bestehenden Nahoststaaten. Oder eben das Streben nach eigenen, unabhängigen Staaten. Insofern versuchen die Kurden im Norden Syriens, das auch zu erreichen, was die Kurden im Norden Iraks schon erreicht haben: eine bestehende, relativ stabile Teilautonomie im Rahmen eines vorhandenen Nahoststaates. Das wäre natürlich für die Kurden in Syrien Syrien. Und für die Kurden im Irak ist es eben der bestehende Zentralstaat, geführt von Bagdad.
    "Kleinere christliche Minderheiten"
    Main: Die Nation also als die Klammer, die auch unterschiedliche Religionsgruppen zusammenhält. Aber wie stark sind die Minderheiten, einfach noch mal zum Verständnis?
    Buchta: Also, ich kenne jetzt nicht die aktuellen Zahlen. Denn die letzten statistischen Erhebungen liegen mehrere Jahre zurück und sind auch notorisch unzuverlässig, weil die jeweiligen Zentralregierungen immer ein Interesse daran haben, bestimmte ihnen nicht liebsame Minderheiten bei statistischen Erhebungen möglichst klein erscheinen zu lassen. Deswegen sind die sehr unzuverlässig.
    Aber es gibt, soweit mir bekannt ist, eine kleine jesidische Minderheit in diesem kurdischen autonomen Nordkorridor entlang der syrisch-türkischen Grenze. Und es gibt eben auch kleinere christliche Minderheiten, aber auch Minderheiten von Schiiten, von Aleviten – also, das ist ein wildes, kaum überschaubares Gemisch aus verschiedenen Ethnien und Konfessionen. Wobei aber in dieser Nordregion die Kurden das dominierende Element darstellen, sowohl demografisch, in Hinblick auf ihre Bevölkerungsstärke, als auch politisch. Denn die YPG, der politische Arm …
    Main: …der militärische Arm.
    Buchta: Ja, der militärische Arm der kurdischen politischen Kräfte ist dort dominant. Das heißt: Sie zwingen - oder sie verlocken - bestimmte sunnitisch-arabische Minderheitskräfte in eine Militärkoalition, genannt die syrischen demokratischen Kräfte, die SDF, die von Kurden geführt werden. Und die SDF werden ja auch von den Amerikanern unterstützt, militärisch, logistisch, mit Waffen. Und die SDF und Kurdenkräfte haben ja auch den IS vertrieben aus seiner damaligen Hochburg Rakka.
    Und der IS ist weitgehend jetzt in Syrien von der Bildfläche verschwunden – und jetzt tritt ein neuer Konflikt an die Stelle des alten Konfliktes, nämlich der zwischen Islamisten und der syrischen Zentralregierung. Die syrische Zentralregierung versucht, die letzten verbliebenen Islamisten, die nicht der IS angehören, in Idlib auch zurückzudrängen und zu vernichten. Gleichzeitig beobachtet die syrische Zentralregierung unter Assad mit viel Misstrauen und Skepsis, was die Kurden im Norden Syriens anstellen, nämlich den Ausbau einer autonomen Region. Aber sie sehen auch mit Skepsis die Militärinvasion der Türken.
    Ein Schwarz-Weiß-Porträt des Islamwissenschaftlers Wilfried Buchta
    Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta (Privat)
    Also, Sie sehen, eine sehr komplexe Konfliktlage, wo wir viele interne Akteure haben, viele externe Akteure und wo die Interessenlagen nicht ganz klar und deutlich sind.
    "Es kann in Deutschland zu Gewalt-Eskalationen kommen"
    Main: Um den Überblick zu behalten bei dieser komplexen Konfliktlage – Sie haben vorhin gesagt, die türkische Regierung versuche, den Konflikt religiös aufzuheizen. Sehen Sie die Gefahr, dass die Kurden in diese Falle tappen?
    Buchta: Das sehe ich nicht. Aber die YPG ist ja sowohl ideologisch wie personell wie auch politisch engstens verbunden mit der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als Terrororganisation gilt. Bei einem Fortschreiten dieser türkischen Militärinvasion ist zu befürchten, dass eben auch der Konflikt zwischen in Deutschland und in Europa lebenden Türken und Kurden sich zuspitzt und dass es zu Gewalt-Eskalationen kommen kann.
    Und insofern glaube ich, dass es wichtig ist, dass zum Beispiel die deutschen Behörden jetzt gegen diese plumpe Kriegspropaganda der Ditib-Gemeinden in Deutschland entschlossen und hart eingreifen – denn das kann nicht im Sinne der Religionsfreiheit sein.
    Denn Religionen sind dazu da, das Zusammenleben zwischen den Völkern und Vertretern verschiedener Religionen zu fördern und nicht andere Religionsgemeinschaften oder Völker gegeneinander kriegerisch zu hetzen.
    "Dieser Konflikt betrifft auch die deutsche Innenpolitik"
    Main: Was heißt das konkret? Wie sollte die deutsche Bundesregierung auf solche Ditib-Fürbitt-Gebete reagieren?
    Buchta: Ich denke, dass es genug Handhabe gibt, rechtlicher Art, dass wir die Ditib-Führung in Deutschland, aber auch ihre Zentrale in Ankara, darauf hinweisen, dass das eben mit dem Grundverständnis von Religion und der Rolle von Religion in demokratischen, zivilisierten, säkular organisierten Staaten nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, was Ditib dort macht: nämlich Kriegspropaganda für die türkische Armee im Norden Syriens. Und das ist auch in unserem eigenen Interesse, denn durch diese türkische Militärinvasion wird die Konfliktlage in Syrien selbst, die ja jetzt gerade sich teilweise etwas verbessert hat, die wird weiter eskaliert.
    Der Konflikt wird um eine weitere Konfliktkomponente erweitert. Und das bedeutet, der Konflikt lebt länger. Und das bedeutet wiederum: Wir bekommen mehr Flüchtlinge über die Türkei, übers Mittelmeer, über den Balkanraum - auch nach Europa, auch nach Deutschland. Insofern betrifft das in verschiedener Hinsicht eben auch die deutsche Innenpolitik.
    "Unser Verständnis von Religion ist ein anderes"
    Main: Herr Buchta, zum Schluss mal grundsätzlich: Sie sind promovierter Islamwissenschaftler, Sie haben viele Jahre im Irak als politischer Analyst für die UNO-Mission gearbeitet, Sie haben das Erstarken des "Islamischen Staates" und andere Entwicklungen der Region täglich hautnah miterlebt. Ihr neuestes Buch heißt "Die Strenggläubigen". Welche Position, aus Ihrer Sicht, sollten westliche Politiker – oder wir alle, die wir mitleiden an diesen Konflikten – welche Position sollten wir einnehmen, damit die Religionsfalle nicht weiter zuschnappt?
    Buchta: Na ja, wir müssten gegenüber Vertretern der Ditib, oder auch der Türkei jetzt in diesem besonderes speziellen Fall in Nordsyrien, klar darauf hinweisen, dass unser Verständnis von Religion ein anderes ist. Religion ist dazu da, das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen zu fördern – und nicht dazu da, als Mittel der Kriegspropaganda in Händen einiger autoritärer oder diktatorischer Herrscher zu dienen. Also, diese grundlegende Klärung muss einmal durchgeführt werden – und das eben auch durchgehalten werden.
    Ausschnitt aus einem Poster, dass eine Deutschlandflagge und eine Türkeiflagge zeigt, dazwischen der Schriftzug Ditib. Darunter steht der vollständige Name des Vereins zuerst groß auf Türkisch, dann klein auf Deutsch. 
    Die Ditib ist der größte Islamverband in Deutschland - sie untersteht der Kontrolle von Diyanet (imago)
    Denn ein Einknicken jetzt in diesem Fall halte ich für kontraproduktiv. Das würde wahrscheinlich Ditib – oder auch andere religiöse Gemeinden – dazu motivieren, diese Art von Kriegspropaganda weiter zu betreiben unter dem Deckmantel von Religionsfreiheit. Und das kann Religionsfreiheit nicht bedeuten.
    Main: Sehen Sie Strömungen im Islam, die in diese Richtung denken? Oder haben Sie als Experte für sich mit dieser Religion abgerechnet oder abgeschlossen?
    Buchta: Das ist schwer zu sagen. Wissen Sie, natürlich gibt es friedfertige Muslime und Muslime, die glauben, dass Demokratie und Islam kompatibel sind. Und diese Menschen gilt es zu unterstützen, zu fördern in jeder Hinsicht. Es gibt dort vielfältige Beispiele in unterschiedlichen Ländern, auch in Deutschland. Ich nenne jetzt zum Beispiel nur mal die neue liberale Moschee von Seyran Ateş hier in Berlin-Moabit. Das ist ein gutes Beispiel. Aber eben auch die islamischen Lehrstühle für islamische Theologie an verschiedenen deutschen Universitäten. Dort wird eben ein Islam gepredigt und entwickelt, der mit der Demokratie, wie wir sie verstehen, kompatibel ist.
    Aber natürlich müssen wir auch berücksichtigen: Es gibt andere, konservative, traditionalistische Strömungen, die das anders sehen. Und es gibt eben die dschihadistischen, salafistischen Strömungen und Gruppen, die vom Staatsschutz zu Recht genau beobachtet und in ihrem Handeln und Wirken eingeschränkt werden müssen.
    Main: Herr Buchta, Danke für das Gespräch.
    Buchta: Bitteschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.