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Jesiden im Nordirak
"Besser, sie hätten uns alle umgebracht"

Im August 2014 hat die Terrormiliz IS im Nordirak mehr als 5.000 Jesiden getötet und 7.000 Frauen und Kinder verschleppt - noch immer sind Tausende in Gefangenschaft. Die 33-jährige Sema wurde freigekauft und bleibt doch Gefangene ihrer Erinnerung.

Von Veronika Wawatschek | 01.08.2017
    Ein Flüchtlingslager nahe der nordirakischen Stadt Dohuk. Hier lebt Sema mit ihrer Familie.
    Ein Flüchtlingslager nahe der nordirakischen Stadt Dohuk. Hier lebt Sema mit ihrer Familie. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    "Ich bete zu Gott, zu Melek Taus, für alle Jesiden."
    Sema hebt ihre Hände gen Himmel, wendet sich der Sonne zu. Die 33-Jährige betet zu Melek Tau, dem heiligen Engel Pfau. Jeden Tag. In einem stickigen Zelt in einem Flüchtlingslager, irgendwo in der Nähe der nordirakischen Stadt Dohuk. Sema ist Jesidin.
    "Die ganze Zeit habe ich gebetet, die ganze Zeit haben sie uns gezwungen, wie Muslime zu beten, ich habe ihnen meine Stimme gegeben, aber in mir drin, in meinem Herzen bin ich Jesidin geblieben."
    Die schmale Frau wickelt das braune Tuch, das zuvor locker um ihren Hals und ihre Schultern geschlungen war, eng um ihren Kopf, verbirgt jedes einzelne Haar darunter. Sie zeigt, wie die Terroristen des IS sie zwangen zu beten, dass sie selbst die Hände bis zu den Fingern bedecken musste. Erst vor einigen Wochen konnte ihr Schwager sie mit staatlicher Hilfe freikaufen. Doch die Erinnerungen halten sie weiter gefangen:
    Viele Frauen sind traumatisiert
    "Sie haben erst die jüngeren Frauen genommen, die 20 bis 25-Jährigen, sie haben ihnen ganz schlimme Dinge angetan. Ich kann hier nicht darüber reden. Wir haben alle gesagt, wir wollen nicht mehr essen. Wir wollen sterben, weil sie den Frauen das antun."
    Misshandlungen, Vergewaltigungen - Sema kann die Bilder nicht vergessen. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, wenn sie erzählt. Allein die Stimme verändert sich, wird lauter und leiser.
    "Einmal hat ein IS-Mann eine Frau genommen mit ihrem Kind, das war drei Jahre alt, er hat den beiden Schnittwunden überall am Körper zugefügt und hat Chilisoße draufgemacht, damit sie daran sterben. Weil sie sich geweigert haben, mit ihm alles zu machen."
    Ihre Erinnerungen sind unzusammenhängend. Zeiten auf Sklavenmärkten in den IS-Hochburgen Mossul und Rakka sind dabei. Mehrfach wurde sie verkauft, als Dritt- oder Viertfrau. Zeiten auf einem IS-Stützpunkt sind dabei, wo sie als Haussklavin putzen musste, sonst drohten ihr Schläge oder Schlimmeres.
    Sema sagt, sie bringt vieles durcheinander. Das sei ein Symptom für eine schwere Traumatisierung, erklärt Luma Hurmiz, die Leiterin des Survivor Center in Dohuk, einer psychotherapeutischen Anlaufstelle für überlebende Frauen. Die Frauen würden sehr unterschiedlich mit dem Erlebten umgehen:
    "Manchmal sind sie sehr still, das sind vor allem die ganz kleinen Mädchen, andere sprechen sehr viel, wieder andere bringen vieles durcheinander oder vergessen alles, das kommt auf die einzelne Frau an."
    Im Survivor Center tauchen inzwischen Mädchen auf, die acht Jahre alt waren, als sie von IS-Männern vergewaltigt wurden. Semas Tochter war neun, als die ganze Familie verschleppt wurde. Die heute 12-Jährige sitzt schweigend neben ihrer Mutter im Zelt. Ein hübsches Mädchen, das mit seinen großen Goldohrringen und dem engen T-Shirt auch deutlich älter sein könnte. Ihre Mutter Sema erzählt und erzählt. Über ihre Kinder verliert sie nicht viele Worte. Nur, wie sehr sie gekämpft hat um sie.
    Ein typisches Zelt in einem Flüchtlingslager nahe der nordirakischen Stadt Dohuk.
    Ein typisches Zelt in einem Flüchtlingslager nahe der nordirakischen Stadt Dohuk. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    "Da gab es einen Mann aus Saudi-Arabien. Der hat gesagt, er nimmt meine Kinder mit nach Saudi-Arabien. Ich habe mich dagegen gewehrt. Da hat er mich bestraft, überall am Körper, da habe ich ein Messer genommen und habe geschrien: ich werde uns alle umbringen, ich werde es nicht zulassen, dass er mir einen von euch wegnimmt vor meinen Augen."
    Um zu überleben, hat sie sich Geschichten ausgedacht.
    "Ich habe erzählt, meine Kinder haben Krebs, Leukämie, ich habe die IS-Leute angelogen, um meine Kinder zu behalten. Ich habe gesagt, meine Kinder brauchen Hilfe, sie sind krank. Ich habe ihnen vorgespielt, dass ich verrückt bin. Ich musste für meine Kinder sorgen, für sie da sein. Für sie das Ganze überleben."
    Innerlich sagt sie, ist sie emigriert.
    "Meine Tochter hat erzählt, dass sie im Traum weggeflogen ist"
    "Eine Weile war ich mit einer Freundin zusammen. Einige Male hat sie mir erzählt, dass ich in der Nacht, im Schlaf Auto fahre - obwohl ich gar nicht weiß, wie man ein Auto fährt. Meine Tochter hat oft erzählt, dass sie im Traum Flügel hatte und weggeflogen ist."
    Die Befreiung gelang erst viel später. Die Angst, dass ihr ihre Kinder weggenommen würden, war immer da. Ihre jüngste Tochter war erst ein Jahr alt, als sie gefangengenommen wurden.
    "Nach fünf Monaten haben sie uns als Familie fotografiert, ich habe meiner jüngsten Tochter hier die Schläfe tätowiert - für den Fall, dass sie sie mir wegnehmen und ich sie später nicht mehr erkenne."
    Die 33-Jährige hat es geschafft. Sie sagt, sie fühlt sich wie 40. Dem Aussehen nach könnte sie älter sein. Zur Ruhe kommt sie auch jetzt nicht, ihr ältester Sohn – er ist 14 – und ihr Mann sind weiterhin vermisst.
    "Es gibt Zeiten, da hab ich mich nicht mehr unter Kontrolle, da schlage ich meine vier Kinder. Ich kann mich nicht mehr kontrollieren. All diese Erinnerungen, ich kann sie nicht vergessen."
    Dass Mütter ihre Kinder aus Verzweiflung und Überforderung schlagen, hört Luma Hurmiz vom Survivor Center in Dohuk oft. Die Therapeuten dort versuchen zu stabilisieren. An manchen Umständen aber können auch sie nichts ändern.
    "Die meisten von ihnen kommen ohne Ehemänner und plötzlich sind sie verantwortlich für eine sechs-, siebenköpfige Familie. Das ist sehr schwierig."
    Oberhaupt der Jesiden rehabilitiert entehrte Frauen
    Zu den traumatischen Erinnerungen kommen die Sorgen des Alltags, das Leben im Camp, finanzielle Nöte, wie auch die Sorge um vermisste Angehörige. Ein weiteres Trauma – so hört man – haben einige Frauen kurz nach ihrer Gefangenschaft erlebt, dann nämlich, als sie zu ihren Familien zurückkehrten. Sie hätten die Familienehre in den Dreck gezogen - die jungen Mädchen, weil sie nicht mehr jungfräulich in die Ehe gehen konnten, die Frauen, weil sie ihre Religion verraten hätten und zum Islam konvertiert waren – so der Vorwurf.
    Es habe sich um Einzelfälle gehandelt, heißt es von mehreren Seiten. Und doch waren diese Einzelfälle offenbar so schwerwiegend, dass Baba Scheich, das Oberhaupt der Jesiden, Anfang September 2014, also bereits einen Monat nach dem Genozid, ein Schreiben aufsetzte. Darin werden Zwangskonversionen deutlich benannt. Es ist die Rede davon, dass Jesiden unter Androhung von Strafen Koranverse zitieren mussten. Nur zwischen den Zeilen ist von Misshandlungen und Vergewaltigungen zu lesen:
    "Wir erklären hiermit: Diese Überlebenden – männlich wie weiblich – bleiben echte Jesiden. Nichts kann ihren jesidischen Glauben beeinträchtigen, da sie diese Gebete und Verse gegen ihren Willen rezitiert haben." (Zitat)
    Baba Scheich, religiöses Oberhaupt der Jesiden.
    Baba Scheich, religiöses Oberhaupt der Jesiden. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    Für die Überlebenden ist das Schreiben sehr wichtig, wie die Leiterin des Survivor Center in Dohuk, Luma Hurmiz, beobachtet.
    "Inzwischen hat die Mehrheit der Familien diese Erklärung akzeptiert, nicht nur akzeptiert, nein, sie handeln dem Schreiben entsprechend."
    Denn dort heißt es wörtlich:
    "Wir rufen alle auf, diese Überlebenden wieder in unsere Gesellschaft aufzunehmen. Das Gelingen dieser Aufgabe ist jedermanns Pflicht." (Zitat)
    Die Familien würden ihre Frauen und Kinder wieder annehmen, bestätigt auch Hadi Baba Scheich. Er ist der Sekretär des religiösen Oberhaupts und hat das Schreiben 2014 mit ausgehandelt und später an die Vereinten Nationen und an die Presse herausgegeben. Für die erste Gruppe von Überlebenden gab es eine Wiederaufnahmegeste, eine Art Segen.
    "Baba Scheich mit religiöse Männer, die war in Lalisch und die hat die Kinder mit so Wasser, so wie Kirche, das hat so gelassen und wir haben die Kinder und die Frauen in Arm genommen, Baba Scheich immer so gibt auf Kopf und sagt so: Du bist jetzt wie meine Tochter und bleibst du heile, richtige Mädchen für uns."
    "3. August - schwarzer Tag von Jesiden"
    Hadi Baba Scheich ist überzeugt: Sind die Mädchen und Frauen einmal zurück bei ihren Familien, finden sie bald wieder zusammen. Und dennoch gibt auch er zu: Das Geschehene hat sich eingebrannt, bei allen Jesiden.
    "Ja, vergesst man nicht, vergesst man nicht. Weißen Sie, das ist schwerste Tag für uns, das war 3. August, 3. August, das war die schwarzer Tag von Jesiden."
    Hadi Baba Scheich, Sekretär und Halbbruder von Baba Scheich, dem religiösen Oberhaupt der Jesiden.
    Hadi Baba Scheich, Sekretär und Halbbruder von Baba Scheich, dem religiösen Oberhaupt der Jesiden. (Deutschlandradio / Veronika Wawatschek)
    So gut wie jeder Jeside hat Angehörige verloren. Viele vermissen noch Familienmitglieder. Hass und Misstrauen sitzen tief.
    "Ich vertraue von Kurden nicht, ich vertraue von jetzt, was hat passiert bei uns noch mehr, ich vertraue Araber, ich vertraue Kurden nicht."
    Hadi Baba Scheich ist wie viele andere Jesiden der Meinung: Der Genozid hätte verhindert werden können. Die kurdischen Peschmerga-Einheiten in der Nähe waren kurz zuvor abgezogen worden. Der Sprecher des religiösen Oberhaupts ist deshalb überzeugt: Die systematische Ausrottung seines Volkes war geplant. Die Kurden und Araber, mit denen die Jesiden vor dem Völkermord als Nachbarn zusammenlebten, hätten sie verraten, sagt Hadi Baba Scheich. Wie eine gemeinsame Zukunft verschiedener Religionen und Ethnien in der Region möglich sein könnte, dazu fehlt ihm eine Idee.
    Noch einmal zurück ins Flüchtlingslager, zu Sema: "Wenn sie uns alle umgebracht hätten, wäre das besser gewesen - als uns unsere Kinder nach der Geburt wegzunehmen."
    Ihre Verzweiflung ist spürbar, auch wenn ihr Gesicht starr bleibt.
    "Wir Jesiden sind uns schon bewusst, dass sie unsere Kinder zu Terroristen ausbilden, die dann uns umbringen sollen. Es ist sehr schwer: Stell dir vor, du hast ein Kind, ziehst es groß und dann nehmen sie es dir vor deinen Augen weg und du kannst nichts dagegen tun."
    Sema sagt: Ihren Sohn haben ihr die Terroristen wahrscheinlich genommen, nicht aber ihren Glauben. Jeden Tag öffnet sie ihre Hände zum Himmel, wendet sich der Sonne zu, betet für ihren Sohn, aber auch für die Zukunft ihres Landes.
    "Ich danke unserem Gott, er wird uns helfen, er ist sehr geduldig. Er wird alles richten."