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Dominoeffekt im Reagenzglas

Chemie. - Die organische Chemie beschreibt vor allem komplexe Bausteine auf Kohlenstoffbasis. Bislang mussten Chemiker diese Moleküle aufwändig in vielen Einzelschritten synthetisieren. Zukünftig sollen aber Tricks der Natur dabei Zeit sparen helfen.

Von Arndt Reuning | 13.11.2006
Die Domino-Steine stehen alle aufgereiht hintereinander. Jetzt genügt ein kleiner Schubs mit dem Finger und schon purzeln sie. Der erste fällt auf den zweiten, der zweite auf den dritten, der dritte auf den vierten und so weiter. Bis alle auf der Tischplatte liegen. Mit einer ähnlichen Kettenreaktion im Reagenzglas beschäftigt sich Matthias Hüttl aus dem Forscherteam von Professor Dieter Enders an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Statt Domino-Steinen verwendet er kleine Moleküle, die miteinander reagieren. Verbindung A reagiert mit Verbindung B zu einem Produkt, nennen wir es C. C nun wieder mit D zu E, das mit F zu G und so weiter. Mit einem Schlag errichtet man aus vielen verschiedenen Bausteinen ein komplexes Molekül-Gebäude.

"Solche Sachen gibt es auch in der Natur, und die Natur hat das natürlich perfektioniert und kann dort ganze Kaskaden ablaufen lassen, von denen wir heute als Organiker nur träumen können. Also wo da sechzehn oder siebzehn Bindungen klappen und dann hinterher aus einem langen Gerüst ein komplexes Molekül entsteht, wie zum Beispiel das Cholesterin."

Ganz so weit ist Matthias Hüttl noch nicht. Bisher sind es nur drei Schritte, die in seinem Kolben unmittelbar nacheinander ablaufen. Aus drei kleinen Teilchen formt sich wie von selbst ein ringförmiges Molekül. Normalerweise wäre solch eine Synthese eher langwierig. Denn nach jeder einzelnen Umsetzung muss ein Chemiker sein Zwischenprodukt abtrennen und reinigen. Die Domino-Reaktion gleicht eher einem Eintopf. Alle Zutaten werden vermischt, und dann gut durchgekocht.

"Natürlich ist die Kunst: Je mehr ich in den Topf rein werfe, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Moleküle nicht das machen, was ich möchte. Deswegen wird es natürlich, je größer der Eintopf wird, desto schwieriger wird es, das zu steuern. Die Kunst bei einer Domino-Reaktion ist natürlich gleichzeitig die Herausforderung, so was zu designen, zu konzipieren. Und insofern hat man auch sehr viel Freude an so einem Puzzle. Das ist dann auch der Reiz für einen Organiker, so was zu machen."

Ganz entscheidend ist es, dass der Chemiker den richtigen Katalysator wählt. Diese Verbindung startet die Reaktion - tippt also gewissermaßen den ersten Dominostein an. In der Arbeitsgruppe von Dieter Enders verfolgen die Chemiker auch hier ein neues Konzept. Sie verwenden nicht die klassischen Katalysatoren mit einem Metall-Bestandteil. Denn die sind meist teuer und können auch giftig sein. Die Forscher aus Aachen benutzen kleine Moleküle aus der Natur. Zum Beispiel die Aminosäure Prolin.

"Der Vorteil dieser Moleküle ist, dass diese Substanzen nicht toxisch sind, billig und auch umweltverträglich einzusetzen sind. Man kann das im Endeffekt unter dem Schwerpunkt der so genannten 'Grünen Chemie' zusammenfassen."

Dr. Wolfgang Bettray vom Institut für Organische Chemie. Außerdem haben die Aminosäuren noch einen weiteren Vorteil. Wie oft bei Naturstoffen gibt es von ihnen zwei Varianten. Einmal links- und einmal rechtsdrehend. Sie sind wie zwei Hände oder wie zwei Schuhe. Bild und Spiegelbild, aber eben doch nicht identisch. Und deshalb können sie auch dem Endprodukt der Domino-Reaktion entweder ihre Links- oder Rechtsform aufprägen. Und das an vielen verschiedenen Stellen im Molekül. Besonders wichtig ist das für Wirkstoffe in Medikamenten, die nur dann helfen können, wenn diese so genannte Stereochemie stimmt.

"Das muss man auch irgendwie in der Synthese auch wieder steuern. Die Natur ist einzigartig, die steuert ganz gezielt die Herstellung dieser einzelnen – ich sag mal – Hände. Wenn ich im klassischen Reaktionskolben das machen würde, muss ich eine Vielzahl von Syntheseschritten oder auch Hilfsreagenzien einsetzen, damit ich gezielt das steuern kann."

Oder eben die Domino-Reaktion, den Eintopf aus verschiedenen Substanzen und einem einfachen natürlichen Katalysator.

Weitere Informationen finden Sie unter:
Kaskadenreaktionen in der Chemie