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Dorothea Renckhoff: "Verfallen"
Phänomene zwischen Traum und Wirklichkeit

Um verwelkende Blumen und Illusionen geht es in Dorothea Renckhoffs Roman "Verfallen". Das Debüt der früheren Dramaturgin liest sich wie ein kühner Nachfahre der schwarzen Romantik. Es ist ein modernes Schauermärchen über den Preis der Jugend. Und selbst wer phantastischer Literatur skeptisch gegenübersteht, dürfte Mühe haben, dem Sog von "Verfallen" zu widerstehen, meint die Rezensentin.

Von Katrin Hillgruber | 16.09.2015
    Verwelkt - Naturliebhaber bejammert den frühen Blumentod.
    Verwelkte Blumen spielen eine gewisse Rolle im Roman "Verfallen". (imago / Birgit Koch)
    "Miese Tricks" heißt ein "Tatort" des Süddeutschen Rundfunks aus dem Jahr 1985. Darin fällt eine vom Leben enttäuschte, gehbehinderte Buchhalterin einem charmanten Betrüger – gespielt von Rolf Zacher - zum Opfer. Dieser gaukelt ihr vor, eine chemische Formel für die unbegrenzte Frischhaltung von Schnittblumen zu besitzen. Ihm fehle nur noch das nötige Geld, um die Erfindung patentieren und industriell nutzen zu können, erklärt er seiner potentiellen Gönnerin in einem Lagerraum voller blühender, duftender "Beweisstücke". Um verwelkende Blumen und Illusionen geht es nicht minder dringlich in Dorothea Renckhoffs Roman "Verfallen". Das Debüt der früheren Dramaturgin liest sich wie ein kühner Nachfahre der schwarzen Romantik.
    "Das hängt mit meiner Liebe zur deutschen Romantik zusammen. Wobei man heute ja wirklich darauf hinweisen muss, dass Romantik nicht das ist, wie der Begriff heute vielfach gebraucht wird, sondern Romantik ist ja die Vereinigung eigentlich von allen Gegensätzen. Furchtbar und schrecklich und wunderbar in einer Sekunde. E.T.A. Hoffmann, das ist es eben, was hier in diesem Buch ja auch passiert, dass aus dem normalen Alltag sich das Wunderbare emporrankt, wobei wunderbar eben nicht nur heißt, dass es was Schönes ist, sondern wunderbar im eigentlichen Sinne des Wortes etwas, worüber man sich wirklich wundern kann. Und über die Dinge, die hier geschehen, kann man sich ja wirklich wundern und die Menschen, denen es geschieht, erst recht."
    "Verfallen" wird aus der Ich-Perspektive eines namenlosen Sechzehnjährigen erzählt. Er lebt in einer ebenfalls namenlosen deutschen Stadt, die über ein Opernhaus verfügt – wie zum Beispiel Köln, wo die Autorin wohnt. Der sensible Einzelgänger hegt eine kostspielige Obsession: Seine Freundin Anna, aus deutlich besserem Hause als er, erwartet immer erlesenere Geschenke von ihm. Kurz vor einer weiteren glamourösen Einladung gerät der finanziell völlig überforderte junge Mann an eine rätselhafte Blumenhändlerin mit goldenen Ringen um die Pupillen. Das Mädchen wirkt irgendwie grünlich. Sie verkauft ihm eine wunderschöne, nie gesehene Blume, mit der er bei Annas Festgesellschaft großes Aufsehen erregt. Kurz darauf ist das Gewächs zu gräulichem, ekelerregenden Matsch verwelkt. Ähnlich ergeht es ihm mit einem Samtkleid vom Weihnachtsmarkt und einem Singvogel zu Silvester. Tags darauf gibt der jämmerlich ergraute Vogel keinen Pieps mehr von sich. Alle drei Geschenke, die in Zusammenhang mit dem grünlichen Mädchen stehen, zerfallen wie im Zeitraffer; Anna wendet sich empört von ihm ab. Als sich der junge Mann an Neujahr auf die Suche nach der Nachkriegsbaracke macht, in der er den Vogel gekauft hatte, stößt er dort auf die etwas ältere Lucille, die ebenfalls betrogen wurde. Die beiden werden unzertrennlich.
    "Die Liebe zu der Anna, die geht ja dann kaputt an diesem Verfall der Zaubergeschenke, und das, was ihn dann mit Lucille verbindet, ist eben was völlig anderes, die sind eigentlich wie Geschwister, und er leidet ihren Lebens- und Verfallsweg, den leidet er mit, weil er das auch alles kommen sieht, wie furchtbar das dann enden wird, und das Schlimmste ist eben sein Verfallen an ihre Stimme. Sie hat eben diese wunderbare Stimme, die sie durch diese ganze Zauberei und eigentlich auch vor allem durch ihre eigene Sehnsucht bekommt, und er verfällt dieser Stimme, und das ist ja die unseligste Liebe, die ein Mensch haben kann, denn mit einer Stimme ist ja keinerlei Vereinigung möglich. Und Stimme ist ja auch sowas Wunderbares, weil Stimme vereint ja das Körperliche und das Spirituelle. Stimme ist für mich das eigentlich Wesentliche des Menschen."
    Dicht und spannend
    Der Erzähler beobachtet, dass sich Lucille allabendlich mit einem zwielichtigen älteren Mann in der Baracke trifft. Lucille will Opernsängerin werden und besteht die Aufnahme zum Gesangsstudium derart glänzend, dass sie sofort verpflichtet wird. Auch Dorothea Renckhoff ist eine Opern-Enthusiastin.
    "Es wird ihr ja oft vorgeworfen, sie sei kulinarisch, was ich heute überhaupt nicht verstehe. In einer Zeit, wo Kochbücher die größten Bestseller sind, weiß ich nicht, warum Kulinarik ein Vorwurf sein soll. Oper bedeutet ja einen hochgesteigerten Zustand, der weit über den normalen menschlichen Zustand hinausgeht, ein Zustand von Leidenschaft, größter Liebe, größtem Glück und auch größter Verzweiflung, alles in einem, und darum singen die Leute in der Oper ja auch, und diesen wunderbaren Zustand durch eigenes Singen zu erreichen, das ist eben das Ziel von Lucille, und das erreicht sie dann ja auch."
    Lucilles Talent scheint in Zusammenhang mit der windschiefen Baracke zu stehen, die sie jede Nacht aufsucht. Denn kaum wird sie an ihren nächtlichen Ausflügen hindert, altert die Sängerin wie im Zeitraffer. Währenddessen beobachtet der Schüler vom Fenster der elterlichen Wohnung aus, wie im gegenüberliegenden Künstler-Seniorenheim "Villa Carlotta" nach und nach die – offenbar stumm um Hilfe rufenden - Bewohner wegsterben. Sie werden kurzerhand durch Papageien ersetzt: ein makaber-aktueller Beitrag zur Pflegedebatte.
    Selbst wer phantastischer Literatur skeptisch gegenübersteht, dürfte Mühe haben, dem Sog von "Verfallen" zu widerstehen. Das liegt an der dichten und stimmigen Webart und dem überaus spannenden Aufbau des Romans.
    "Ich bin da immer sehr bemüht, dass wirklich nichts da steht, was nicht ganz dringend notwendig ist. Also ein Regisseur, der ein Stück von mir inszeniert hat, hat mal zu mir gesagt, der Text hat kein Gramm Fett zu viel. Und das ist mir einfach unheimlich wichtig und ich schreibe auch sehr vom Klang her, ich spreche die Texte eigentlich, wenn ich sie schreibe, das ist der Sprachrhythmus, das ist mir alles sehr, sehr wichtig, dass auch dadurch die Geschichte vorwärtsdrängt."
    Dorothea Renckhoff hat ein Händchen für Phänomene zwischen Traum und Wirklichkeit, für das Unheimliche, aber auch unheimlich Komische in heutiger Kulisse. Ihr modernes Schauermärchen über den Preis der Jugend oszilliert zwischen E.T.A. Hoffmann, Hans Christian Andersen und Ernst Augustin. Hat man sich erst einmal darauf eingelassen, kommt man von dieser schwarzblumigen Überraschung kaum mehr los.
    Dorothea Renckhoff: "Verfallen"
    Berlin University Press, Berlin 2014. 177 Seiten, 19,90 Euro.