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Douglas K. Huneke: In Deutschland unerwünscht Hermann Gräbe. Biographie eines Judenretters

Noch 1964 bewertete in einer Umfrage ein Drittel der Westdeutschen die Widerstandskämpfer vom 20. Juli als "Vaterlandsverräter". Zum Recht auf Widerstand gegen die Naziherrschaft bekannte sich nur ein Viertel der Befragten. Vergleichbare Befragungen dürften heute günstiger ausfallen, doch es ist kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass es neben den vielen Tätern, Mittätern und Mitläufern einige wenige gab, die sich dem Naziterror nicht nur versagten, sondern den Opfern halfen, wo immer sie konnten. Solche Beispiele widerlegen die Rede davon, dass man ja nichts habe tun können, und sie stören die kommunikative Beschweigsamkeit, die nach 45 die Republik zusammengehalten hat und bis heute vor allem in den Familien kritisches Nachfragen behindert. Die Lebensgeschichte des Judenretters Hermann Gräbe ist typisch für den human gespeisten zivilen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, aber auch für die Rezeption dieses Widerstandes in der Bundesrepublik.

Wolfram Wette |
    Zu Zeiten der Nazis war es ein Verdienst, Juden zu verfolgen. Heute erscheint es als besonderes Verdienst, angebliche Naziverbrecher zu jagen.

    So sprach noch im Jahre 1961 ein deutscher Rechtsanwalt namens Friedrich Schümann, der vor dem Landgericht Stade einen Judenmörder verteidigte. Gleichzeitig schickte er sich an, einen Mann um seine Glaubwürdigkeit zu bringen, der in den Jahren 1941-1945 Tausende von Juden vor der Verfolgung geschützt und viele von ihnen gerettet hatte. Die Rede ist von dem Bauingenieur Hermann Friedrich Gräbe, einem in Deutschland bis heute fast unbekannten Mann, dessen Rettungstaten denen eines Oskar Schindler nicht nachstehen. Anders als dieser muss er aber von einer größeren Öffentlichkeit erst noch entdeckt werden.

    Gräbe wurde 1900 in Gräfrath bei Solingen geboren. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete der gelernte Ingenieur als regionaler Manager einer Solinger Baufirma in der deutsch besetzten Ukraine. In den Städten Rowno und Dobno wurde er 1942 Augenzeuge systematischer Mordaktionen der SS, denen Tausende ukrainischer Juden zum Opfer fielen. Darüber entsetzt, fasste der christlich geprägte Mann einen doppelten Entschluss: Zum einen wollte er so viele Menschen wie möglich retten; zum anderen, so schwor er sich, wollte er nach dem Kriege der Öffentlichkeit wahrheitsgetreu über die Mordtaten berichten.

    Nachdem ich solche Sachen gesehen hatte, gab es für mich keine andere Wahl, als noch härter zu arbeiten, um die Juden, die zu mir kamen, zu retten. Man kann nicht so viel Blutvergießen erleben und davon unberührt bleiben. Ich musste etwas unternehmen. Ich musste so viele Menschen beschützen, wie ich konnte.

    Wie Oskar Schindler weder militärischen noch zivilen Behörden unterstehend, agierte Gräbe als selbständiger regionaler Unternehmer. Er ging daran, mit Hilfe von Vertrauten ein ganzes Rettungsnetz aufzubauen. Zeitweise beschäftigte er Tausende von Juden in den Zweigstellen seines Betriebes und erklärte deren Arbeit für absolut kriegsnotwendig. Damit versuchte er, auch unter Androhung von Waffengewalt, aber leider nicht immer erfolgreich, sie vor dem Zugriff der SS und ihrer ukrainischen Kollaborateure zu schützen. Die Untertanengesinnung der braunen Funktionsträger in Rechnung stellend, bediente er sich in den entstehenden Konflikten regelmäßig des Arguments, dass er "für höchste Stellen" in Berlin arbeite. Damit suggerierte er seinen Kontrahenten, es sei besser für sie, darüber nichts Näheres zu erfahren. Nach einem der Massaker in Rowno, das Gräbe trotz größter Anstrengungen nicht hatte verhindern können, lästerte ein deutscher Offizier über den Ingenieur:

    Hier ist der Anführer dieser Juden, der Moses von Rowno.

    Als 1944 die Rote Armee die Ukraine zurückzuerobern begann, stellte Gräbe einen langen Eisenbahnzug zusammen, mit dem er nicht nur die jüdischen Arbeiter, sondern auch die technische Ausstattung seines Ingenieurbüros sowie seine hochbrisanten persönlichen Aufzeichnungen nach Westen beförderte. In den letzten Monaten des Krieges gelang es ihm unter abenteuerlichen Umständen, die Menschen in US-amerikanische Obhut und damit in Sicherheit zu bringen.

    Wie er sich in Rowno, in der Ukraine, geschworen hatte, gab Gräbe den Beauftragten der US-Army minutiöse Berichte über die Massaker, deren Zeuge er geworden war. Dabei stützte er sich nicht nur auf sein geschultes Gedächtnis, sondern auch auf seine Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Er konnte Ort und Zeit sowie die Namen der Täter und der Opfer nennen. Seine betont nüchtern gehaltenen Aussagen über die Massaker in Rowno und in Dobno spielten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen eine wichtige Rolle. Gräbe war der einzige deutsche Zeuge, der deutsche Angeklagte massiv belastete. Gleichzeitig trug er mit seinen Berichten dazu bei, die Weltöffentlichkeit über den systematischen Judenmord zu informieren. Für seine Rettungsaktionen sowie seinen Mut, über von Deutschen begangene Massenmorde auszusagen, wurde er vielfach international geehrt, nicht zuletzt durch Yad Vashem in Jerusalem. Gleichzeitig musste Gräbe allerdings erleben, dass er in Deutschland bedroht und als Verräter angefeindet wurde. Geschäftlich bekam er keinen Fuß mehr auf den Boden. 1948 emigrierte er in die USA. 1953 nahm er auch die dortige Staatsbürgerschaft an, nachdem ihm klar geworden war, dass er "in Deutschland unerwünscht" war.

    Wieviel Einfluss Anhänger der NS-Volksgemeinschaft auch in den sechziger Jahren noch hatten, bekam Gräbe zu spüren, als Juristen und auch Zeitungen versuchten, den "Nestbeschmutzer" als unglaubwürdig hinzustellen und schlicht fertig zu machen. Der Solinger Regionalhistoriker Horst Sassin hat für das Buch, das hier vorzustellen ist, eine Untersuchung beigesteuert, in welcher die beschämende Geschichte der Wahrnehmung Hermann Gräbes in seiner Heimatstadt Solingen nach 1945 erzählt wird. In Wolfgang Heuers kompetenter Analyse der Rezeptionsgeschichte Gräbes in Deutschland, die den Band beschließt, findet sich auch das eingangs zitierte politische Bekenntnis des "furchtbaren Juristen" Schümann, dessen Arbeit von der "Stillen Hilfe" unterstützt wurde, einer Organisation ehemaliger Nationalsozialisten.

    Hermann Friedrich Gräbe starb 1986 in den USA, ohne in Deutschland je Anerkennung gefunden zu haben. Vertreter einer neuen Generation von Deutschen begannen 1994, angestoßen durch den Film "Schindlers Liste", an ihn zu erinnern. Zu seinem 100. Geburtstag wurde in Köln der Film des Regisseurs Dietrich Schubert mit dem Titel "In Deutschland unerwünscht – Hermann Graebe" uraufgeführt. Und jetzt hat der Verlag zu Klampen in Lüneburg eine deutsche Übersetzung der Biographie dieses deutschen Judenretters publiziert. Geschrieben wurde sie von dem amerikanischen Presbyterianer-Pfarrer Douglas K. Huneke, der auch durch eigene Holocaust-Studien hervorgetreten ist. Die wichtigste Quellenbasis der Biographie sind viele persönliche Gespräche, die Huneke mit Hermann Gräbe in San Francisco führte. Die schon 1985 erschienene amerikanische Ausgabe des Buches trägt den sprechenden Titel: "The Moses of Rowno. The Stirring Story of Fritz Graebe, a German Christian Who Risked His Life to Lead Hundreds of Jews to Safety During the Holocaust".

    Douglas K. Huneke: "In Deutschland unerwünscht. Hermann Gräbe. Biographie eines Judenretters". zu Klampen Verlag, Lüneburg. 325 Seiten, Euro 24.