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Drei-Prozent-Klausel
"Ich bedauere dieses Urteil"

Die Drei-Prozent-Klausel für die Europawahl zu kippen, sei keine zukunftsweisende Entscheidung, sagte Helmut Brandt, Fraktionsjustiziar der CDU/CSU, im Deutschlandfunk. Sichere Mehrheiten im Europaparlament würden schwieriger. Jetzt müsse auf europäischer Ebene eine einheitliche Richtlinie für alle Länder beschlossen werden.

Helmut Brandt im Gespräch mit Silvia Engels | 26.02.2014
    Europaparlament in Straßburg
    Im Europaparlament sind jetzt schon insgesamt 167 Parteien vertreten. (picture alliance / dpa / Foto: Anthony Picore)
    Silvia Engels: Seit heute Morgen steht fest, dass die Europawahl für deutsche Wähler unter anderen Bedingungen stattfindet, als bisher gedacht. Da entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die deutschen Parteien, die sich im Mai bei den Europawahlen bewerben, keiner Drei-Prozent-Hürde unterliegen. Ein Erfolg für kleine und Splitterparteien, eine Niederlage für die großen.
    Die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl ist also gekippt, auch eine Ohrfeige für die Fraktionen des Bundestages. Die hatten nämlich mit Ausnahme der Linken dieses Gesetz verabschiedet.
    Am Telefon ist nun Helmut Brandt. Er ist der Fraktionsjustiziar der CDU im Bundestag und hatte mit einem solchen Ausgang gerechnet. Guten Tag, Herr Brandt!
    Helmut Brandt: Schönen guten Tag, Frau Engels!
    Engels: Wie sehen Sie nun diesen Urteilsspruch?
    Brandt: Sie haben es gerade schon gesagt: Ich hatte mit Bedauern schon vorher mit diesem Ausgang gerechnet. Das war in der mündlichen Verhandlung im Dezember so ein bisschen ablesbar, dass das Gericht sich nicht insgesamt würde von unseren Argumenten überzeugen lassen. Insofern bedauere ich natürlich dieses Urteil.
    Auf der anderen Seite ist eine gewisse Tendenz beim Gericht insoweit zu erkennen, als die Entscheidung 2011 mit sechs zu zwei Stimmen damals bei der Fünf-Prozent-Hürde ausging, jetzt, wie man hört, heute fünf zu drei. Das heißt, wir haben zumindest mal einen Richter von unserer Position überzeugen können. Dennoch bin ich der Auffassung, dass das Urteil uns da auch ein wenig isoliert. Wir sind neben den Niederlanden praktisch das einzige Land in Europa, das jetzt keine Sperrklausel zur Europawahl haben wird. Ich halte die Entscheidung insoweit auch für nicht zukunftsweisend.
    Engels: Kommen wir gleich noch auf die zukunftsweisenden Sprüche des Bundesverfassungsgerichts in diesem Zusammenhang. Bleiben wir erst einmal bei der Verantwortung auch des Bundestages. Wenn Sie schon befürchtet haben, das könnte schwierig werden, und ja in der Tat schon einmal eine Fünf-Prozent-Sperrklausel für Europawahlen gekippt worden war, warum haben Sie das überhaupt gemacht?
    Brandt: Zunächst einmal ist zutreffend, dass es auch immer schon Bedenken gab, auch in den Fraktionen, ob es nach der Entscheidung 2011 überhaupt opportun ist, jetzt in einem zweiten Anlauf mit einer geringeren Hürde von drei Prozent einen neuen Anlauf zu wagen. Dass dies ein risikobehaftetes Unternehmen war, war, glaube ich, allen klar. Dennoch haben wir es versucht, weil wir der Auffassung waren und, ich denke, auch immer noch sind, dass der Bundestag hier auch eine Entscheidungskompetenz hat im Hinblick darauf, wie soll sich künftig und wie wird sich künftig das Europaparlament entwickeln. Ist es nicht doch erforderlich, auch jetzt schon für Mehrheiten, für sichere Mehrheiten im zukünftigen Europaparlament mit Sorge zu tragen. Das war unsere Motivation, dies mit einem zweiten Anlauf zu versuchen. Wir sind damit leider gescheitert, aber das muss man jetzt erst einmal neu überdenken.
    Ich glaube, die Alternative wird nicht sein, jetzt hier einen dritten Anlauf zu machen, sondern einfach auch dann nach der Wahl des Europaparlaments eine europäische gemeinsame Linie zu finden, die wir im Augenblick nicht haben. Die Situation im Augenblick ist ja die, dass jedes Land für sich nach seinem Wahlrecht das bestimmen kann, und ich denke, dass wir da zukünftig doch erwarten müssten und dürften, dass das Europaparlament dann selbst eine Entscheidung trifft, die da besagt, für alle Länder gelten gleiche Richtlinien bei den Wahlen und bei allen wird dann auch eine angemessene, natürlich auch die kleineren Parteien berücksichtigende – das war mit drei Prozent nach unserer Auffassung gegeben – Regelung gefunden.
    "Vereinheitlichung wäre sinnvoll"
    Engels: Kurz zusammengefasst: der Bundestag unternimmt dann nicht noch mal einen neuen Anlauf, sondern verschiebt das jetzt an Europa?
    Brandt: Ich denke, das ist sinnvoll, einmal, weil man auch beobachtet, dass es eben doch sehr unterschiedliche Regelungen gibt, bis zu Sechs-Prozent-Hürden in den einzelnen Ländern, und ich meine, dass hier eine Vereinheitlichung schon sinnvoll ist. Zum anderen auch: Das Europaparlament gewinnt zunehmend an Bedeutung und insofern sollte es dann auch selber darüber entscheiden, wie europaweit letztlich mit einer solchen Wahlbeeinträchtigung für kleine – das ist außer Zweifel, das hat auch nie jemand in Zweifel gezogen, aber es gibt auch andere, höherrangige Werte, nämlich dass sichere Verhältnisse in einem Parlament bestehen müssen.
    Ich erinnere nur an die Weimarer Zeit, wo wir eine schlimme Parteiensplitterung hatten, die zu der katastrophalen Entwicklung geführt hat. Wir wollen natürlich, dass Europa stabil ist und bleibt, und das ist auch, glaube ich, dann der richtige Weg, über Europa dann auch diese neuen Wahlrechtziele zu vereinheitlichen.
    Engels: Das heißt, Sie denken, das Europäische Parlament ist nun weniger handlungsfähig, weil eine Zersplitterung kommen wird?
    Brandt: Wir können letztlich sicherlich und müssen damit leben. Ich glaube aber auch, Sie müssen ja sehen: Im Europaparlament sind ja jetzt schon insgesamt 167 Parteien. Man weiß nicht, wie viel es im neuen Parlament sein wird. Es gibt zwei große Blöcke, das ist einmal die EVP, also die Konservativen, zu denen auch die Christlich Demokratische Union gehört, und dann die Sozialisten, zu denen die SPD gehört, und ich fürchte so etwas, dass die beiden großen dann noch mehr gemeinsam gegen die Masse an kleineren sich werden verbünden müssen. Ob das im Sinne einer demokratischen Entwicklung ist, wage ich zu bezweifeln.
    Engels: Sie hatten also als Vertreter einer großen Partei gehofft, auch unliebige Konkurrenz der kleinen Parteien auszubremsen?
    Brandt: Ich glaube nicht, dass es darum geht. Das ist eigentlich auch nie unsere Motivation gewesen, sondern die Motivation war von vornherein, dass wir für verlässliche Mehrheiten sorgen, die natürlich schwanken sollen und schwanken können, auch mit der einen oder anderen kleineren Partei. Aber mit einer so großen Vielzahl halte ich es persönlich und halten wir es insgesamt für fast unmöglich, dann verlässliche Mehrheiten, stabile Mehrheiten zu gewährleisten. Und wir wollten ja auch – und das haben wir auch in der mündlichen Verhandlung ja versucht darzustellen – die höhere Bedeutung, die das Europaparlament jetzt schon hat und bekommen wird, damit in die Wagschale werfen, und ich meine auch, dass der Bundestag hier, dass das Bundesverfassungsgericht vielleicht hier auch die Entscheidungsfreiheit, die dem Bundestag auch in dieser Frage verbleiben muss, zu wenig gewichtet hat.
    Verlässliche Mehrheiten müssen gewährleistet werden
    Engels: Fürchten Sie nun den Einzug vor allen Dingen rechtsradikaler Gruppen bei der Europawahl?
    Brandt: Das ist jetzt genauso wenig auszuschließen wie alle anderen Gruppierungen. Die NPD hat ja mit geklagt und wird sich jetzt auch insbesondere über ein solches Urteil freuen. Andere sicherlich auch. Es geht mir aber eigentlich nicht so sehr darum, den einen oder anderen auszuschließen. Das war nicht unsere Motivation bei dem Gesetz, sondern unser Motiv ist – und ich wiederhole das -, für sichere, für verlässliche Mehrheitsbeschaffungen im Parlament zukünftig Sorge zu tragen.
    Engels: Gehen wir auf die Bundesebene zurück. Wir haben eben Heiko Maas gehört, den Justizminister. Der fürchtet nicht, dass man aus diesem Urteil auch etwas für Sperrklauseln in Deutschland ableiten kann. Sehen Sie auch so, dass die Fünf-Prozent-Klausel für den Bundestag durch so etwas nicht angesprochen wird?
    Brandt: Ich muss das Urteil und die Urteilsbegründung noch mal abwarten, ob sich daraus Hinweise herleiten lassen. Ich denke, dass Herr Maas da das richtig einschätzt. So schätze ich es auch ein. Auf der anderen Seite muss man natürlich ganz klar sehen – und deshalb habe ich auch den Hinweis auf die Entscheidungshoheit des Bundestages eben gelegt -, dass wir schon auch als eines der wichtigsten Organe innerhalb eines demokratischen Staates erwarten können, dass wir eine gewisse Entscheidungsfreiheit haben. Ich glaube, das hat man auch bei der Urteilsverkündung heute gehört, dass das Verfassungsgericht schon sieht, dass es einen deutlichen Unterschied macht zwischen den Verhältnissen im Bund, wo es eben um eine Regierungsbildung geht, wo es stabile Verhältnisse für eine gewählte Regierung dann geben muss, und das in Vergleich gesetzt zum Europaparlament, wo das nach Auffassung des Verfassungsgerichts nicht in der Form darzustellen ist. Das ist schon ein wesentlicher Unterschied und deshalb bin ich auch zuversichtlich, dass wir da bei der Fünf-Prozent-Hürde im Bund nichts zu befürchten haben, was nach meiner Auffassung auch eine äußerst negative Bedeutung hätte, wenn das in Frage gestellt würde.
    Engels: Andererseits: Mit dem Ruf nach mehr direkter Demokratie könnte es ja auch sein, dass die Zeit der Sperrklauseln einfach zu Ende gehen muss.
    Brandt: Ich halte von diesem Ruf insofern recht wenig und verweise dabei immer wieder auf Entscheidungen, die in unserem Nachbarland, in der Schweiz getroffen wurden, die von vielen und auch zurecht kritisiert werden. Wenn wir solche Verhältnisse in Deutschland wollen? - Aber ich will die nicht.
    Engels: Das war Helmut Brandt, Justiziar der Bundestags-Unionsfraktion. Wir sprachen mit ihm über die Konsequenzen der Tatsache, dass Karlsruhe die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl gekippt hat. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Mittag.
    Brandt: Danke, Frau Engels. Alles Gute.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.