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Dreßler

Volker Finthammer |
    DLF: Herr Dreßler, politisch war das ja, trotz der bevorstehenden Sommerferien, eine ereignisreiche Woche - vor allen Dingen in zwei Fragen, die auch Sie betreffen: In Camp David sind die Verhandlungen zwischen den Palästinensern und den Israelis vorerst gescheitert. Sie werden in wenigen Wochen als Deutscher Botschafter nach Israel gehen und fortan mit diesen Fragen ja konfrontiert sein. Und zum Zweiten hat sich – und das ist der innenpolitische Blick – der Bundeskanzler mit einer von nahezu allen Seiten begrüßten positiven Halbzeitbilanz in den Sommerurlaub verabschiedet. Lassen Sie uns deshalb auch zuerst über die Innenpolitik sprechen. Welche Bilanz der zweijährigen Regierungszeit der rot-grünen Koalition ziehen Sie denn?

    Dreßler: Sie ähnelt derjenigen von Schröder. Es begann holprig, hektisch – zu hektisch. Manche haben uns nicht zu Unrecht vorgeworfen: Wir haben zu viel auf einmal gemacht. Dadurch haben sich technische Fehler eingeschlichen, und wir haben es nicht fertiggebracht in den ersten 6-7 Monaten, dass, was wir ‚Sofortprogramm‘ genannt haben, also eine Korrektur von Leistungsgesetzen in der Gesellschafts- und Sozialpolitik, die versprochen waren im Wahlprogramm, denjenigen, für die diese Korrekturen gedacht waren, näher zu bringen, weil nach meiner Wahrnehmung wir zum gleichen Zeitpunkt Signale ausgeströmt haben, die jedenfalls mit der Programmatik, die wir beschlossen hatten im Sofortprogramm, nicht deckungsgleich waren – Stichwort ‚Schröder-Blair-Papier‘, Stichwort ‚Veröffentlichung von Büchern und Aufsätzen‘, die den Eindruck hinterließen, wir würden unsere gesellschaftspolitischen Grundlagen verändern wollen. Und meine These ist nicht erst seit gestern: Es besteht zwischen einem konservativen und einem sozialdemokratischen Wählerpublikum ein gravierender Unterschied. Der Versuch bei der SPD, es tun zu wollen, oder das Signal, es eventuell tun zu können, wird bereits abgestraft, ohne dass wir es jemals getan hätten. Bei der CDU/CSU wurde erst die 8., 9. oder 10. Tat abgestraft. Insoweit ist die Wählerklientel der SPD auf diesem Sektor nach meiner Wahrnehmung sensibler, und sie ist dann im Effekt auch – in der Antwort – brutaler. Man straft uns sofort ab. Die Wahlniederlagen des Jahres 99 waren Beleg genug.

    DLF: Erstaunlich ist aber dennoch anzusehen, wie ruhig es ja in den Koalitionsfraktionen – trotz der Entwicklung des vergangenen Jahres – geworden ist. Offensichtlich hat es da doch eine Wende gegeben. Im vergangenen Sommer wurde beispielsweise ziemlich hart die Gerechtigkeitsdebatte in der Fraktion, in der ganzen Koalition geführt, bis sie eigentlich dann auf dem Berliner Parteitag nahezu eingehegt wurde. Ist das Thema für die Partei abgehakt, oder gibt es da eigentlich überhaupt offene Flanken?

    Dreßler: Es war das Thema über einen Eindruck, nicht über tatsächliche Gesetze oder Gesetzentwürfe. Das ist genau der Blick für das, was ich soeben bei meiner Empfindung habe versucht, auszudrücken. Es hat sich dann hinterher gebessert. Wir haben, nicht zuletzt auch durch den Niedergang der CDU, Stichwort ‚Spendenaffäre‘, wieder Fuß gefasst. Wir haben das Leitmotiv des Bundeskanzlers, was er schon im Sommer – ja, fast im Frühjahr – letzten Jahres formuliert hat: ‚Genauigkeit geht vor Eile‘, dann endlich umgesetzt, und es wurden handwerkliche Fehler, die in den ersten Monaten ganz zweifellos offenkundig geworden sind, nicht mehr gemacht. Und diese Gesamtsituation, inklusive der Stabilisierung der inneren Parteiorganisation, hat dann zu Veränderungen geführt, die auch in der Wählergunst und in den Umfragen uns wieder positiv haben dastehen lassen. Insoweit ist, gemessen am Gesamtergebnis, nach ungefähr zwei Jahren Regierungstätigkeit ein positiver Schlussstrich zu ziehen. Und jetzt kommt es eben darauf an: Was wird nun in den kommenden zwei Jahren getan? Haben wir aus den Lehren des Jahres 99 gelernt? Wir dürfen also nicht den Eindruck erwecken, wir würden unsere Programmatik, unsere grundsätzliche Programmatik ändern, nicht Detailfragen - die müssen immer auf den Prüfstand. Haben wir daraus gelernt, vermitteln wir den Eindruck nicht erneut? Das ist die spannende Frage.

    DLF: Sie waren ja immer einer der wenigen, der sich auch wirklich kritisch zu Wort gemeldet hat – von manchen deshalb auch als ‚Betonkopf‘ in der Fraktion bezeichnet. Aber wie man jetzt aus ihrer jüngsten Abschiedsrede im Deutschen Bundestag heraushören konnte, halten Sie ja an Ihren drei Prinzipien ‚Gleichheit‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Glaubwürdigkeit‘ fest. Aber gibt es da nicht auch gleichzeitig den resignierten Rudolf Dreßler, der spüren musste, dass er bei der Partei und teilweise auch in der eigenen Fraktion keinen Anklang mehr fand?

    Dreßler: Ich kann diese Bewertung so nicht teilen. Es hat bis zur Stunde keinen Parteitag gegeben, der sich – bezogen auf die Grundpositionen, die ich vertrete, von denen ich glaube, dass sie deckungsgleich sind mit dem Programm meiner Partei, mit dem Wahlprogramm meiner Partei und auch mit der Koalitionsvereinbarung – dass sich ein Parteitag davon verabschieden würde. Ich kann eher erkennen, dass die Intensionen des sogenannten ‚Schröder-Blair-Papiers‘ bisher auf keinem Parteitag eine Rolle gespielt haben, also nicht in Veränderungen angegangen sind unserer eigenen Programmatik. Insoweit kann ich auch die These, ich würde mit meiner Partei oder mit der Programmatik der SPD nicht mehr in Einklang stehen - die kann ich nicht teilen. Richtig ist wohl, dass ich mit den Signalen, die andere ausgesendet haben in Aufsätzen oder Reden und Interviews, dass ich damit – wenn Sie so wollen – nicht übereinstimme. Das ist wohl korrekt. Aber das ändert ja nichts daran, dass ich mit der Grundsatzprogrammatik meiner Partei nach wie vor übereinstimme. Und solange sie diese nicht ändert, sehe ich auch nicht, dass ich mich in irgendeiner Form ins Abseits gestellt hätte. Dass einige, die andere Auffassungen vertreten – was in einer Volkspartei auch normal ist –, diesen Eindruck zu vermitteln versuchen, das ist ein internes parteipolitisches Problem. Mit dem muss man immer umgehen, wenn man in einer Volkspartei arbeitet. Eine Volkspartei kann nie stromlinienförmig operieren. Entscheidend war für mich immer die Grundlage dessen, was die Partei beschließt.

    DLF: Aber welche Versuche sind stärker? Sind nicht die Versuche stärker, die – wie auch immer geartete – ‚neue Mitte‘ zu gestalten? Sie haben sich im November des vergangenen Jahres mit zwei jungen Parteikollegen mit einem Papier gegen den Schröder-Blair-Kurs zu Wort gemeldet und für eine Modernisierung der SPD im Sinne ihrer Traditionen plädiert. Welche Fraktion setzt sich da durch, was ist die Entwicklung, mit der Sie rechnen?

    Dreßler: Also, Ihre Frage unterstellt zunächst einmal, dass das, was im Schröder-Blair-Papier formuliert worden ist, modern sei. Ich habe den Terminus ‚modisch‘ dafür gefunden. Unter ‚modern‘ verstehe ich, dass eine Gesellschaft vom Zuschnitt der Bundesrepublik es fertig bringt und auch in der Vergangenheit es fertiggebracht hat, unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen zueinander zu führen, also zu vereinnahmen, sie zusammenzuführen und sie nicht zu spalten. Das, was im Schröder-Blair-Papier stand, war nach meiner Auffassung eine Abkehr von dem, was uns bisher stark gemacht hat und wofür wir auch gewählt worden sind; es hat sich ja auch bisher in den Gesetzen nicht niedergeschlagen, es hat ja auch auf dem letzten Bundesparteitag der SPD keine Rolle gespielt. Insoweit war es ein Diskussionsbeitrag – richtiger weise in einer Volkspartei –, der aber bisher jedenfalls keine Veränderung unserer Programmatik in dieser grundsätzlich – mir jedenfalls grundsätzlich – vorkommenden Art nach sich gezogen hat.

    DLF: Aber wandeln sich trotzdem nicht die Stimmungen in der Partei?

    Dreßler: Es ist richtig, dass in meiner Partei darüber zur Zeit diskutiert wird und auch zum Teil in der Vergangenheit heftig diskutiert wurde, und ich vermute auch: Die vergangenen Debatten werden auch in der Zukunft gegenwärtig sein, zumal wir ja eine Programmkommission eingerichtet haben. Das muss auch so sein. Entscheidend ist für mich nicht der Diskussionsprozess, sondern das Ergebnis. Und wir werden sehen, welches Ergebnis in zwei oder drei Jahren vorgelegt wird. Ich glaube: Wenn die SPD ihren identitätsstiftenden Charakter, den sie zweifellos in den vergangenen Jahrzehnten in der Gesellschaftspolitik innerhalb der Bevölkerung erreicht hat, preisgibt, wird sie wahlmäßig Schaden nehmen. Die Belege des Jahres 99 – ich habe soeben von ‚Verdacht‘ gesprochen, der von uns signalisiert worden ist: Wir könnten es ja tun, obwohl wir es nie getan haben, wurde schon abgestraft – dieser Beleg des Jahres 99 ist für mich Gradmesser, was eine Partei vom Zuschnitt der SPD nicht tun sollte oder tun darf, wenn sie nicht in dieser Form abgestraft werden soll. Und ich hoffe, dass die Lehren aus dem Jahre 99 auch für die zukünftige Zeit gezogen wurden.

    DLF: Wenn es darum geht, die Lehren zu ziehen, und wenn im Endeffekt das Ergebnis stimmt, was die Wähler honorieren müssen oder nicht honorieren müssen: Schauen wir uns mal konkret die Rente an. Da ist ja auch nicht unbedingt das eingehalten worden oder es zeichnet sich nicht unbedingt das ab, was die SPD 1998 im Wahlkampf als ihr Rentenmodell verbreitet hat. Die Entwicklungen, die Herr Riester eingeleitet hat – die Widerstände beispielsweise in den Gewerkschaften, auch in vielen sozialdemokratischen Lagern sind enorm. Ist das die Reform, die die SPD guten Gewissens nach außen hin verkaufen kann?

    Dreßler: Das, was jetzt vorgelegt ist, ist nicht mehr deckungsgleich mit dem programmatischen Ergebnis der SPD aus dem Jahr 1997. Dort hatte sie eine Rentenkommission eingesetzt, die ein Jahr gearbeitet hat und dann ein Ergebnis vorlegte, das in seinen Inhalten von dem, was jetzt angeboten wird, unterschiedlich ist, und zwar zum Teil gravierend. Ich selbst habe das jetzige Ergebnis nicht für richtig gehalten, halte es nach wie vor nicht für richtig, weil es einen Paradigmenwechsel in der Rentenversicherung einleitet. Dieses ist übrigens nicht verfassungswidrig, sondern erlaubt. Aber es ist – gemessen an der Programmatik der SPD – etwas anderes. Und weil ein Paradigmenwechsel, also etwa beispielhaft die Auflösung der Hälftelung der Beitragsaufkommen, so etwas einleiten würde – auch im Hinblick auf andere Sozialversicherungssysteme, etwa die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Pflegeversicherung – halte ich diesen Weg nicht für richtig, sondern sogar für gefährlich. Rentenversicherung als Beispiel ist nicht irgendein Versicherungssystem in unserem Land, sondern war immer und ist nach wie vor ein Stück ‚Kitt‘ der Gesellschaft. Und diesen Kitt – glaube ich – darf man nicht lösen, zumal die Hälftelung des Beitragsaufkommens selbst bei den Unternehmern und bei den Unternehmensverbänden grundsätzlich unumstritten war. Und wenn man es jetzt auflöst – wie es beabsichtigt ist –, dann verlässt man diesen Weg und geht einen Weg, der dann andere logischerweise interessen-geleitete Forderungen nach sich ziehen wird – für die anderen Systeme.

    DLF: Aber findet da nicht insgesamt auch ein Stimmungswechsel statt oder hat da nicht auch ein Stimmungswechsel stattgefunden? Die Wertschätzung für das Umlagesystem tendiert doch in vielen Bereichen gegen null – oder das, was zumindest öffentlich proklamiert wird, und die ganzen Hoffnungen richten sich beispielsweise auf die kapitalgedeckte Vorsorge. Das Rentenniveau soll langfristig sinken, und über die private Vorsorge soll der Ersatz ja möglicherweise noch ein Stück Ergänzung geschafft werden. Zuschüsse soll es für Geringverdiener und Familien mit Kindern geben. Das ist doch offensichtlich die von allen Seiten getragene Reform, die in die Zukunft weisen soll.

    Dreßler: Also wir wissen noch nicht, was zum Schluss herauskommt. Wir sind in einem Diskussionsprozess. Nur: Die Formel ‚das Rentenniveau soll sinken‘ hat größere Bedeutung nach meiner Auffassung, als sie zunächst einmal vom Anschein her haben könnte. Wenn ich das Rentenniveau auf einen Satz senke, der die Legitimation eines Zwangsbeitragssystems – was unsere Deutsche Rentenversicherung ist – hinauskatapultiert, dann komme ich an eine Grenze - mit der Fragestellung: Darf ich noch einen Zwangsbeitrag erheben, wenn das Äquivalent – die Leistung – diesem Zwangsbeitrag nicht mehr entspricht? Dann entsteht automatisch eine Verfassungsfrage. Die ist nicht kleinlich, sondern das ist eine ganz entscheidende, weil, wenn die Legitimation in das System, wie wir es konzipiert haben – als Zwangssystem –, fällt, fällt logischerweise das Rentenversicherungs-System deutscher Art. Und wenn man ein solches System möglicherweise über diesen Weg zur Disposition stellen könnte oder würde, dann würde man mehr aufs Spiel setzen als irgendein Versicherungssystem.

    DLF: Sie haben vorhin gesagt, ‚wir befinden uns aber – dieses ganze Problem betreffend – noch mitten in der Diskussion‘. Sehen Sie denn noch Chancen, dass sich da überhaupt noch etwas ändert?

    Dreßler: Die Rentendebatte 89 dauerte eineinhalb Jahre. Wir sind jetzt gerade zwei Monate in der Debatte, und sie wird noch Monate währen. Sie wird durch das Parlament gehen müssen. Ich sehe das Ende der Fahnenstange - im Sinne ‚das ist die Lösung und daran wird nichts mehr geändert‘ - noch lange nicht erreicht, zumal in diesem gesellschaftlichen Prozess jeder, der die Mehrheit hat, wissen muss, dass es opportun ist, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erzielen. Also eine Rentenversicherung gegen Gewerkschaften, eine Rentenversicherung gegen Sozialverbände, die maßgebend und meinungsbildend sind in Deutschland, ist keine kluge Lösung. Und deshalb glaube ich nicht, dass heute schon die letzte Antwort auf die Fragestellung gegeben ist. Ich sehe da noch eine Menge Bewegungsspielraum. Wir werden sehen, ob sich diese grundsätzliche Frage ‚Auflösung der Hälftelung der Beitragsaufkommen‘ noch verändert oder nicht. Ich werbe dafür, es zu tun – das heißt, die Hälftelung der Beitragszahlung nicht aufzulösen, weil ich die Gefahr für die anderen Sozialversicherungssysteme auf uns zukommen sehe. Mit welcher Berechtigung sollen Arbeitgeberverbände die Hälftelung der Krankenversicherung nach wie vor aufbringen, wenn es bei der Rentenversicherung eliminiert worden ist.

    DLF: Ungleich schwieriger wird es ja in der Frage der Gesundheitspolitik werden, obwohl die Ministerin ja und Sie zusammen ein abgespecktes Gesetz durchgebracht haben. Ihr langjähriger Gegenspieler Horst Seehofer sagte kürzlich, man werde sich als Opposition wohl sehr genau überlegen müssen, ob man sich in dieser Frage überhaupt noch einmal zu Konsensverhandlungen einlasse – schließlich sei die Gesundheitspolitik im Unterschied zur Rente ein ‚vermintes Gelände‘, von Ihnen stammt der Ausdruck ‚ein Haifischbecken‘. Sie haben einmal gesagt: Eine wirklich große Gesundheitsreform kann es, und das füge ich jetzt an, aus diesen Gründen – des Haifischbeckens eben – gar nicht geben. Ist die Gesundheitsministerin Andrea Fischer damit jetzt schon zum Scheitern verurteilt?

    Dreßler: Nein, das, was wir am 1. Januar diesen Jahres ins Gesetzblatt geschrieben haben, ist strukturpolitisch viel gewaltiger als die Interessen zugeben. Interessen sind Leistungserbringer, sind natürlich auch Opposition und sind andere Verbände. Ich habe im Bundestag gesagt: Wenn dort nur wenig drinstünde, das Gesetz relativ unbedeutend wäre – warum laufen Sie bereits seit Monaten mit Schaum vor dem Mund durch Deutschland und kämpfen gegen dieses Gesetz? Gegen ein unbedeutendes Gesetz muss man in dieser massiven Form nicht antreten. Also es steht viel mehr drin als man zugibt. Der entscheidende Punkt ist, ob die Selbstverwalter – Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhäuser – mit dem, was sie jetzt übertragen bekommen haben als Selbstverwaltung, wie sie damit umgehen, ob sie es umsetzen, ob sie das, was nach meiner Sicht als Chance in diesem Gesetz steht, auch tatsächlich dann realisieren und damit die Milliardenbeträge, von denen ich glaube, dass sie im System unnütz ausgegeben werden, freisetzen, um sie für anderes Sinnvolleres zu verwenden.

    DLF: Das Gesetz als Puzzlestück in einem unendlichen Spiel?

    Dreßler: Das ist so im Gesundheitswesen. Es ist wahnsinnig kompliziert. Darum der Begriff ‚Minenfeld‘ – wo Sie hintreten, geht eine hoch, weil immer handfeste Interessen damit verbunden sind. Das gilt für Beschäftigte wie für Unternehmer. Eine Arztpraxis in Deutschland ist ein kleines Unternehmen, das sich amortisieren muss. Wenn es sich nicht amortisiert, kann der Arzt seiner ethischen Berufung – Arzt zu sein – ja nicht nachkommen. Und diesen Konflikt kann Politik nicht nehmen. Der ist täglich in einem solchen Unternehmen vorhanden. Der zweite Punkt ist, ob es eine gesetzgeberische Mehrheit auch im Bundesrat gibt für strukturelle Veränderungen. Da ist die CDU natürlich gefordert und die CSU gefordert. Und das hat die Union jetzt bei dem in Rede stehenden Gesetz vom 1. Januar diesen Jahres verweigert.

    DLF: Aber es scheint sich in einigen Punkten geradezu noch zuzuspitzen. Was sagen Sie denn dazu, dass die Südländer Bayern und das Bundesland Baden-Württemberg gegen den bundesweiten Risikostrukturausgleich der Krankenkassen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen wollen – aus Sorge, es würde ihnen zu teuer werden?

    Dreßler: Ich glaube, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg mit einem solchen Weg eine sehr kontraproduktive Richtung einschlagen, weil sie wissen müssen, dass der Risikostrukturausgleich, den wir 1993 – also zur Regierungszeit von Helmut Kohl – mit der Zustimmung von Baden-Württemberg und mit der Zustimmung von Bayern ins Gesetzblatt geschrieben haben – wenn der aufgelöst wird, würden sofort von den ungefähr in Deutschland bestehenden 530 Krankenkassen an die 200 Konkursfragen beantworten müssen, weil die unterschiedliche Verteilung der Risiken in Deutschland genau darin begründet liegt, den Risikostrukturausgleich zu praktizieren. Und das, was wir damals gemeinsam auf den Weg gebracht haben, heute aus kurzsichtigen, länderegoistischen Motiven aufs Spiel zu setzen, das halte ich schon für sehr, sehr, sehr bedenklich.

    DLF: Ein Sprecher des bayerischen Sozialministeriums sagte, der Bund habe überhaupt nicht die Kompetenz für eine solche Regelung, die auf Kosten der Länder gehe und unwirtschaftliche Strukturen darüber in anderen Ländern subventioniere.

    Dreßler: Also, um es höflich zu sagen, ist dieses Argument ‚Kokolores‘. Es ist deshalb Kokolores, weil die Länder – bezogen auf Ausgaben der Krankenkassen – keine Kosten haben. Die Krankenversicherung finanziert sich ausschließlich aus Beiträgen. Sie kennt keine staatlichen Zuschüsse, weder von Seiten der Länder noch von Seiten des Bundes. Also ist das Argument – ‚zu Lasten der Länder‘ – schlicht und ergreifend frei erfunden. Das gibt es gar nicht. Entscheidend ist, dass die Länder ihren Einfluss auf Krankenkassen, die landesverbandsorganisatorisch konzipiert sind, über diesen Weg verstärken wollen. Also nehmen wir das Beispiel der AOK Bayern oder der AOK Baden-Württemberg, die - wenn sie keinen Risikostrukturausgleich zahlen müssten - mehr Einnahmen hätten und an andere, mit größeren Risiken behaftete Krankenkassen, nichts abtreten müssten. Dieses Argument ist aber mit dem Risikostrukturausgleich alleine nicht beantwortet. Diese Länder haben eine – wenn Sie so wollen – regionalpolitische Auffassung von Krankenkassen. Sie betrachten die AOK Bayern und die AOK Baden-Württemberg als eine länderspezifische Veranstaltung. Und sie ignorieren, dass es eine Bundes-AOK gibt, die in sich selbst sehr wohl verpflichtet ist – nach meiner Auffassung –, für Landesteile zu zahlen, die schlechtere Risiken haben. Das gilt übrigens nicht nur für neue Länder im Osten, das gilt auch für Länder in Norddeutschland. Und dieses Theater besteht seit Jahren und ist ein AOK-internes Problem. Aber daraus nun ein länderspezifisch politisches zu machen – bezogen auf Landesregierung –, das ist albern.

    DLF: Herr Dreßler, sozialpolitische Fragen gibt es gewiss noch viele, und ich weiß, dass Sie gewiss zu vielen noch eine Antwort hätten. Sie waren es als Sozialpolitiker gewohnt, ihre Stimme lautstark zu erheben. Jetzt treten Sie in den diplomatischen Dienst ein, wo - die Bezeichnung sagt es ja schon - leisere Töne geboten sind. In wenigen Wochen werden Sie Deutscher Botschafter in Israel sein. Wollen Sie dennoch Politik und - im konkreten Fall - politische Beziehungen mitgestalten? Und wie wollen Sie das tun?

    Dreßler: Das wird überhaupt nicht gehen. Wenn man im Ausland ist, kann man die inländische Politik maximal zur Kenntnis nehmen. Und wenn man im diplomatischem Dienst ist als Botschafter, kann man sie auch nicht kommentieren, sondern man hat dann andere Aufgaben. Insoweit werde ich mich von dieser Art Debatte – Auseinandersetzung zwangsläufig verabschieden müssen. Das fällt mir aber deshalb nicht schwer, weil ich es zwanzig Jahre gemacht habe. Und ich bin arrogant genug zu sagen: Ich glaube, ich habe es auch ganz gut gemacht. Ich habe keine Wehmut, auf das zurückzublicken, was in diesen zwanzig Jahren Arbeitsergebnis ist – bei aller Kritik im Detail. Das Zweite ist: Ich mache seit 19 Jahren für die Fraktion Israelpolitik, davon zehn Jahre federführend. Und ich bin nicht einmal in diesen 19 Jahren bei diesem sensiblen Feld Israel unangenehm aufgefallen. Das würde ein Vertreter des diplomatischen Chores vom Ergebnis her ‚höchst diplomatisch‘ nennen.

    DLF: Vor 19 Jahren hat Herbert Wehner Sie richtig ‚ausgeguckt‘ – die Beziehung mit Israel zu pflegen . . .

    Dreßler: . . . mit anderen . . .

    DLF: . . . mit anderen. Was ist das für eine persönliche Geschichte? Ist das die Geschichte des Rudolf Dreßler, die - ob der vielen sozialpolitischen Fragen - in Vergessenheit geraten ist?

    Dreßler: Nein, das war eine Arbeit im Innenverhältnis. Sie war nicht für Presseagenturen und Medien bestimmt, weil sie sonst gar nicht hätte geleistet werden können. Und diese Arbeit im Innenverhältnis, die keine Schlagzeilen macht, ist dann logischerweise weitestgehend unbekannt. Aber diejenigen, die davon wussten, haben das als Grund genommen, um mich zu fragen, ob ich diese Rolle als Botschafter übernehmen wolle in den kommenden Jahren. Und da ich nun 19 Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet habe – politische Erfahrungen habe –, habe ich keinen Grund gesehen, ‚nein‘ zu sagen, zumal es eine sehr spannende, sehr bedeutende, vielleicht die sensibelste Aufgabe überhaupt ist für gerade deutsche Politik.

    DLF: Bleiben wir noch einmal dabei. In dieser Woche sind die israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen in Camp David gescheitert. Die Hardliner auf beiden Seiten freuen sich natürlich. Die Politiker geben aber nicht auf. Heute wollen sie möglicherweise die Verhandlungen weiterführen. Welche Rolle spielt denn die Bundesrepublik in den Bemühungen um ein friedliches Nebeneinander im Nahen Osten, und welche Rolle sollte sie aufgrund ihrer Geschichte spielen?

    Dreßler: Ich übernehme zunächst einmal den Terminus von Präsident Clinton: ‚Die Gespräche sind nicht gescheitert, sondern sie sind unterbrochen‘ – hat er gesagt. Und der Blick dafür ist bereits in dieser Woche erbracht worden, weil schon neue Gespräche – was ganz wichtig ist – vereinbart worden sind. Die Deutschen können, was diese Gespräche betrifft, sich nicht unmittelbar einschalten. Das ist nicht ihre Sache. Aber jeder in Israel weiß, dass wir ein hohes Interesse am Erfolg dieses Friedensprozesses haben, weil wir es beiden Völkern wünschen. Die Alternative wäre, wenn diese Gespräche scheitern, Konflikt. Das ist eine höfliche Formulierung. Und an diesem Konflikt können beide Völker kein Interesse haben, und logischerweise auch die Repräsentanten der Politik beider Länder nicht. Darum ist meine These: Jede Seite weiß, sie hat keine andere Chance, als diese Gespräche – so lange es auch dauern mag – zum Erfolg zu führen. So lange verhandelt wird, wird nicht geschossen.