Archiv


Drogenkrieg - Mexikos größtes Problem

Im Mittelpunkt der Untersuchung von Jeanette Erazo Heufelder stehen die Veränderungen, die der mexikanische Drogenkrieg im Bewusstsein der Menschen verursacht. Der Blick in den Abgrund ist jedoch kein Abgesang: Neben dem Schrecken dokumentiert die Autorin immer wieder auch Akte zivilen Widerstands gegen die Gewalt.

Von Peter B. Schumann |
    Jeanette Erazo Heufelder hatte ihre Reise durch den Nordwesten Mexikos schon vor zehn Jahren geplant, als die Situation noch relativ ungefährlich war. Und ursprünglich wollte die deutsche Ethnologin ecuadorianischen Ursprungs auch nur ein Buch über die Corridos schreiben. Das sind populäre Balladen, in denen alltägliche Dramen und berühmte Personen der Region besungen werden: eine ethnologische Fundgrube. Als sie Anfang des Jahres endlich nach Mexiko aufbrechen konnte, hatte sich die Lage allerdings verschärft:

    "Diese Corridos hatten sich inzwischen in Narcocorridos verwandelt, da mittlerweile der Drogenkrieg ausgebrochen war. Und das war die Grundidee: über die Narcocorridos zu erzählen, was im Nordwesten Mexicos passiert. Man könnte sagen, dass in manchen Regionen diese Narco-Kultur schon so alltäglich geworden ist, dass sie im Grunde die Normalität darstellt."
    Dieser kulturelle Ansatz ist ein besonderer Gewinn des Bandes, denn die meisten Darstellungen dieses Krieges zwischen den Kartellen und der Kartelle gegen den Staat blenden die Auswirkungen auf die Kultur weitgehend aus. Aber das organisierte Verbrechen versteckt sich nicht dort. Es demonstriert sogar seine scheinbar unbegrenzten Mittel in einer kitschigen Neureichen-Kultur. Sie zeigt sich im Bau pompöser Gräber und Villen, in der Kleidung, dem Fuhrpark und in vielen anderen Äußerungsformen. Im Mittelpunkt der Untersuchung von Jeanette Erazo Heufelder stehen jedoch die Veränderungen, die der Krieg im Alltag, in den Lebensweisen und im Bewusstsein der Menschen verursacht hat. Die Autorin strebt keine politologische Analyse des Drogenphänomens von außen an, sondern beleuchtet die Folgen der Gewalt von innen, von den Betroffenen her. Dafür wählt sie die Reportage:

    "In meiner Form von Reisereportage war das Wichtige, dass die Leute bereit waren, mich an ihrem Alltag teilhaben zu lassen. Das heißt: Ich blieb zwei, drei Tage an einem Ort und habe gar nicht so sehr das formelle Interview geführt, als wie ein Ethnologe teilgenommen und mich in Form von Alltagsgesprächen mit ihnen unterhalten und gehofft, dass ich so etwas einfange von dem, was wirklich ihren Alltag lähmt."
    Dazu gehört die Angst, durch Zufall in eine der tödlichen Auseinandersetzungen zu geraten oder gar von der Mafia oder auch von den Staatsorganen als verdächtige Person ausgemacht, verschleppt, gefoltert und ermordet zu werden. Denn die Staatsgewalt verhält sich oft genauso brutal wie die Narcos. "Die Angst sitzt in den Knochen" – schreibt Jeanette Erazo Heufelder und zeigt am Beispiel der alten Rosalia, wie sie deren Seele krank macht. Viele solcher Einzelschicksale dokumentiert sie in "Drogenkorridor Mexiko". Sie begnügt sich aber nicht damit, sondern stellt sie in gesellschaftliche, politische und historische Zusammenhänge, in den Kontext der Entwicklung des Landes. Sie zeigt, dass die heutige Gewalt eine Folge "jahrzehntelanger Korruption auf allen politischen Ebenen" ist:

    "Edgardo Buscaglia, der bekannte mexikanische Drogenexperte, meinte, dass der Krieg, den die Regierung führt, ein Krieg gegen ihren eigenen historischen Schatten ist, den sie gar nicht gewinnen kann. In den letzten 20 Jahren fand ja auch die Globalisierung der Wirtschaft statt, und so wie sich die Wirtschaft globalisierte, hat sich auch die Gewalt globalisiert. Das heißt: Heute gibt es ein Gewaltphänomen, das sich vom Drogenmarkt loskoppelt."
    Es äußert sich in blutigen Exzessen und Massenmorden, aber vor allem auch an der Brutalität gegenüber Frauen. Ihrer Ermordung ohne Strafe, dem sogenannten Feminizid, hat Jeanette Erazo Heufelder ihr eindringlichstes Kapitel gewidmet:

    "Der Feminizid ist ein Begriff, der auf der Basis der mexikanischen Frauenmorde formuliert wurde und der mittlerweise ein rechtlicher Begriff ist. Das ist der Mord an Frauen, der durch den Staat, durch das Laisser-faire, durch diese gesellschaftliche Komplizenschaft überhaupt erst ermöglicht wird. Und was in Wirklichkeit stattfindet, ist, dass sich parallel zur allgemeinen Gewalt der Grad der Gewalt an Frauen überproportional erhöht hat. Während man für den Zeitraum Mitte der 90er bis 2006/2007, als der Drogenkrieg ausbrach, insgesamt von ein paar Hundert Frauenmorden gesprochen hat, ist das die Zahl, die in den letzten zwei Jahren auf das Konto des Feminizids allein im Bundesstaat Chihuahua geht."
    An seiner Grenze zu den USA liegt Ciudad Juárez, das dafür berüchtigte Zentrum. Die Autorin führt aus, dass der Feminizid keine Folge des Drogenkriegs, sondern des gesellschaftlichen Verfalls ist. Er hat lange zuvor begonnen, durch die Mafia ist er eskaliert. Die Verbrechen an der Bevölkerung haben viele Facetten. Die Kunst von Jeanette Erazo Heufelder besteht darin, sie zu veranschaulichen, den Fakten Gesichter zu verleihen und die tieferen Schichten von Mexikos größtem Problem auszuloten. Der Blick in den Abgrund ist jedoch kein Abgesang. Wie ein roter Faden ziehen sich durch den Schrecken die kleinen und großen Akte zivilen Widerstands:

    "Ich habe von einigen Leuten, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um diese Gesellschaft zu ändern, gesagt bekommen: Im Grunde haben die Mexikaner die politische Klasse abgeschrieben. Es besteht die Hoffnung für eine echte Zivilgesellschaft."
    Jeanette Erazo Heufelder ist mit "Drogenkorridor Mexiko" die erste umfassende Darstellung der Thematik gelungen, die auf der Basis von Reportagen die Wirklichkeit ergründet.

    Peter B. Schumann war das über: Jeanette Erazo Heufelder: "Drogenkorridor Mexiko". Das Buch ist bei Transit verlegt, zählt 240 Seiten und kostet 19 Euro 80.