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Dschihadismus in Deutschland
Nur noch wenige schließen sich den Terrormilizen an

Jahrelang galten Ausreisen junger Islamisten in die Gebiete des sogenannten Islamischen Staats als Zeichen für eine wachsende Bedrohung durch den islamischen Terrorismus. Doch jetzt kommen die Behörden nach Medieninformationen zu dem Schluss, dass diese Reisetätigkeit praktisch zum Erliegen gekommen ist.

Von Kersten Mügge | 17.11.2016
    Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS, darunter der Militärchef und gebürtiger Georgier Abu Omar al-Shishani (links)
    Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS, darunter den früheren Militärchef und gebürtiger Georgier Abu Omar al-Shishani (links) (Archiv) (AFP / HO / Al-Itisam Media)
    Anil O. ist vor gut einem Jahr nach Syrien ausgereist. Das Kalifat des IS, ausgerufen im Sommer 2014, hatte auf den Medizinstudenten aus Aachen eine große Anziehungskraft: "Ich habe seit der Ausrufung des sogenannten Islamischen Staats immer mit dem Gedanken gespielt, gar nicht mich so sehr an Kampfeinsätzen zu beteiligen, sondern meine Religion frei zu praktizieren."
    Was für ihn zunächst nur ein Gedankenspiel war, änderte sich, als die Behörden ihm den Reisepass wegnahmen. So wollten sie eigentlich eine Ausreise verhindern, erreicht haben sie das Gegenteil: "Das war der Punkt, bis hierher und nicht weiter. Der Gedanke mit dem ich vorher spielte, wurde an dem Tag konkret."
    Anziehungskraft des IS lässt deutlich nach
    Inzwischen ist Anil. O. aus Syrien zurückgekehrt und sitzt in Untersuchungshaft. Sein Fall wurde bekannt, da er als Kronzeuge gegen den in der vergangenen Woche verhafteten Prediger "Abu Walaa" ausgesagt hat. Diese von Anil O. geschilderte Anziehungskraft des IS hat inzwischen deutlich nachgelassen. Das geht nach Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung aus der bisher umfassendsten Erhebung über die deutsche Dschihadisten-Szene hervor.
    Polizei und Verfassungsschutz haben dafür 784 Fälle genau ausgewertet. Reisten demzufolge zu Hochzeiten im Jahr 2014 fast 100 Personen pro Monat nach Syrien und in den Irak aus, waren es seit dem Sommer 2015 durchschnittlich weniger als fünf pro Monat. Die Schlussfolgerung lautet daher - Zitat: "Das vom sogenannten Islamischen Staat ausgerufene Kalifat entfaltet bei Dschihad-affinen Personen in Deutschland kaum mehr eine Sogwirkung. Und es sind derzeit keine Anzeichen dafür erkennbar, dass es in absehbarer Zeit erneut zu massiven Ausreisebewegungen kommt."
    IS ruft verstärkt auf, 'zu Hause' Anschläge zu begehen
    Als Entwarnung ist das aber nicht zu verstehen, denn die Untersuchung gibt ausdrücklich keine abschließende Auskunft über die Gründe für diese Entwicklung. Zitat: "So hat die Ideologie und die Propaganda des IS nichts an ihrer Virulenz verloren. Der IS ruft mittlerweile verstärkt seine Unterstützer dazu auf, 'zu Hause' zu bleiben und dort Anschläge zu verüben."
    Die an der Untersuchung beteiligten Behörden haben auch die Gründe für die Radikalisierung der Dschihadisten untersucht. In gut einem Viertel der Fälle spielen Koranverteilaktionen eine Rolle - ausdrücklich erwähnt wird die Lies-Kampagne der Vereinigung "Die wahre Religion", die Innenminister Thomas de Maiziere am Dienstag mit dieser Erklärung verboten hat: "Bisher sind, nachdem sie an Lies-Aktionen teilgenommen haben, rund 140 junge Menschen nach Syrien oder in den Irak ausgereist, um sich dort dem Kampf terroristischer Gruppierungen anzuschließen."
    Auch das Internet spielt für Radikalisierung eine - wie es in der Studie heißt, wichtige Rolle. In den meisten Fällen sind aber persönliche Kontakte ausschlaggebend, etwa zu Freunden oder in Moscheen. Die Auswertung soll Ende November der Innenministerkonferenz vorgelegt werden.