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Durchschlag am Gotthard

Am Gotthardbasistunnel werden die letzten Meter Fels durchbohrt. Dann ist der Durchbruch für den längsten Eisenbahntunnel der Schweiz geschafft. Der Bau wurde per Volksentscheid abgesegnet, denn die Schweizer stimmen über alle großen Bauprojekte ab.

Von Pascal Lechler | 15.10.2010
    63,6 Prozent der Schweizer stimmten 1992 für den Bau des Gotthardbasistunnels. Das Großprojekt wurde nicht von oben, von gewählten Repräsentanten diktiert, sondern die Eidgenossen wurden in die Diskussion miteinbezogen, um am Ende durch Ja oder nein darüber zu befinden. Deshalb liegt es auf der Hand: Läge Stuttgart in der Schweiz, wäre auch über Stuttgart 21 abgestimmt worden. Das Motto: Friss oder stirb, gibt es nicht. Der Stimmbürger hat in der Schweiz meist das letzte Wort: Das ist für Marco Kirschbaum auch der entscheidende Vorteil der direkten Demokratie der Schweiz gegenüber der repräsentativen Demokratie wie in Deutschland.

    "Ich finde es gut, weil man über alle Themen abstimmen kann. Es gibt immer auch Themen, die einem aufstoßen oder wo man nicht einverstanden ist. Aber auch dort hat man die Möglichkeit etwas zu sagen."

    Kritiker des Schweizer Systems führen an, dass der Bürger mit komplexen Entscheidungen, gerade wenn es um milliardenteure Großprojekte wie den Gotthardbasistunnel geht, überfordert seien. Außerdem geben die Kritiker zu bedenken, dass das Volk die Konsequenzen von Abstimmungen nicht absehen könne – siehe das Bauverbot von Minaretten. In der Tat sind manche Sachvorlagen in der Schweiz derart komplex, dass der Stimmbürger überfordert sein könnte, befürchtet der Politologe Thomas Eberle.

    "Ich denke, häufig verstehen sie die Sache nicht adäquat. Aber sie haben doch die Möglichkeit sich eine Meinung zu bilden, aufgrund. so quasi der reduzierten Form, wie sie gegenüber Parteiparolen und Mediendiskussionen verbreitet werden. Es ist interessant, dass viele Politologen sagen, also im Nachhinein hätte das Volk oft weise entschieden."

    Abgesehen von einem oder zwei Ausreißern stimmen die Schweizer also in der Regel erstaunlich vernünftig ab. Den Abstimmungen gehen oft jahrelange Diskussionen voraus. Die erste Idee für den neuen milliardenteuren Gotthardbasistunnel gab es beispielsweise bereits in den 1940er-Jahren. Jahrzehntelang stritten die Schweizer über die beste Variante, wie die Alpen ein weiteres Mal zu bezwingen seien. Erst 1992 folgte die Volksabstimmung über den Gotthardbasistunnel. Für den Politologen Hans Peter Kriesi ist klar, dass die direkte Demokratie im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie deutlich langsamer ist. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

    "Der ganze Prozess der direkten Demokratie verlangsamt den politischen Entscheidungsprozess, schleift die spannungsgeladenen, extremeren Vorschläge ab und führt dazu, dass schließlich Mittelwege gewählt werden, die nach langen Diskussionen allgemein akzeptabel sind."

    Die in der Konsensdemokratie der Schweiz einmal getroffenen Entscheidungen sind auf jeden Fall belastbar. Proteste gegen Großprojekte oder gar Streiks sind in der Schweiz selten. Es überrascht letztlich dann auch nicht weiter, dass es in der Schweiz kein Verfassungsgericht im Sinne des obersten Streitschlichters gibt. Der Fokus liegt auf der Volkssouveränität, so der Politologe Adrian Vatter.

    "Ich denke das Besondere an der schweizerischen Demokratie, mit eben dieser ausgeprägten halbdirekten Demokratie, also wir müssen auch betonen halbdirekt, weil wir auch ein repräsentativ-demokratisches System durchaus haben in der Schweiz, ist die Tatsache, dass das Prinzip der Volkssouveränität in der Schweiz wohl weitaus stärker gewichtet wird, als das Rechtsstaatsprinzip, wie wir das in den meisten anderen Demokratien, insbesondere auch Deutschland sehen. Die Rolle beispielsweise der Gerichte ist eine weitaus geringere in der Schweiz. Hingegen sind der Einfluss der Stimmbürgerschaft und eben auch das Prinzip, dass die letzte Souveränität bei der stimmberechtigten Bevölkerung liegen soll, ein zentrales Merkmal."

    Natürlich gab es auch in der Schweiz in den letzten Wochen hier und da noch einmal Kritik am Gotthardbasistunnel. Wenn heute aber die letzten Steine fallen und der längste Eisenbahntunnel der Welt gegraben ist, die Schweizer in Sachen Tunnelbau Weltmeister sind, dann wird aber auch diese Kritik verstummt sein.

    Mehr dazu bei dradio.de und im Netz:
    Mythos Gotthard - der Pass, die Schweiz und Europa
    Noch 1,2 Meter Fels: Durchbruch im Gotthard-Basistunnel steht bevor
    Nur noch wenige Meter:Durchschlag am Gotthard-Basistunnel
    Homepage: Hauptdurchschlag am Gotthard-Basistunnel