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E-Book und Internet als Chance

Die Schriftstellerin Cornelia Funke bewertet die Digitalisierung von Büchern positiv. Sie glaube, dass bei der Umstellung auf E-Books ein ganz natürlicher Prozess stattfinde und die menschliche Natur sich daran anpasse. Auch die Veröffentlichung von Texten im Internet ohne die Selektion durch Verlage hält Funke für eine Chance.

Cornelia Funke im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.04.2010
    Christoph Heinemann: Noch greifen alle zum Buch, aber wie lange noch? Der Untertitel eines Essays des Schriftstellers Ferdinand von Schirach im "Spiegel" lautet: "Warum das iPad die Zukunft des Lesens ist." Was bedeutet diese Neuheit für das Buch?

    Wie geht es einer der größten Erfindungen der Zivilisation, fragen wir heute am Welttag des Buches, und wir haben darüber vor dieser Sendung mit der Schriftstellerin Cornelia Funke gesprochen, die Erfinderin unter anderem der "Wilden Hühner" und natürlich der "Tintentrilogie". Wir haben das Gespräch nachmittags aufgezeichnet und da Cornelia Funke an der Westküste der USA lebt, begann dieses Gespräch wegen der Zeitverschiebung mit: Guten Morgen, Frau Funke.

    Cornelia Funke: Guten Morgen!

    Heinemann: Ich nehme an, in Ihrem persönlichen Kalender gibt es etwa 365 Tage des Buches?

    Funke: Das ist ganz genau richtig, ja.

    Heinemann: Ein gutes Buch besteht mindestens aus zweierlei: einem spannenden und interessanten Inhalt und einer sorgfältigen Herstellung, Papier, Einband, Schrifttyp und so weiter. Texte werden sicherlich auch noch in Zukunft geschrieben, aber werden sie mit Blick auf E-Book und iPad auch in 20 oder 50 Jahren noch gedruckt?

    Funke: Ich bin da nicht so sicher, gebe ich zu. Ich wünsche mir das, weil ich ja nun selber auch Illustratorin bin und sehr verliebt in das Papier und die Herstellung und auch in alte Bücher bin. Aber ich bin nicht so sicher, wenn ich meinen 15-jährigen Sohn zum Beispiel beobachte, oder auch Leute, die gerade mal 30 sind und schon auf ihrem iPhone die Bücher lesen, ob das wirklich passieren wird, und vielleicht sollten wir uns das für unsere Wälder ja sogar wünschen, dass das nur noch elektronisch passiert.

    Heinemann: Warum?

    Funke: Ich habe es zum Beispiel bei meinen Büchern, dass die oft auf Papier gedruckt werden, das aus kontrolliertem Waldanbau stammt, aber da ist ja manchmal der Bedarf schon gar nicht mehr zu stillen, durch Recyclingpapier, durch die richtige Qualität von Papier, und natürlich kann das manchmal durchaus ein Problem sein, all das Papier von irgendwo herzubekommen, gerade wenn sie dann vielleicht Millionenauflagen haben.

    Heinemann: Nutzen Sie denn E-Books oder iPad?

    Funke: Ich gebe zu, ich habe das versucht. Ich habe gedacht, ich muss mir das ja mal ansehen, und habe mir ein Kindle besucht, und ich habe den wieder verschenkt, weil ich mich einfach nicht daran gewöhnen kann. Ich bin aber nun auch schon 51. Das heißt, für mich ist das sehr langweilig, kein Papier zwischen den Fingern zu haben, und ich liebe auch das Gefühl, einen Stapel Bücher einzupacken in den Koffer, auch wenn das lästig ist, und danach zu sagen, guck mal, das habe ich jetzt gelesen und das stelle ich ins Regal, das andere hat mir nicht gefallen, das verschenke ich oder tue es sonst wo hin.

    Heinemann: Was stört Sie an der elektronischen Fassung?

    Funke: Ich glaube, dass für mich das einfach sehr schön ist, dass ich erstens von keiner Energiequelle abhängig bin, wenn ich lese. Ich denke, das sind wir schon viel zu viel. Dann ist es wirklich das sinnliche Gefühl, umzublättern. Das bedeutet mir doch sehr viel. Dann habe ich natürlich auch gerne Bücher mit Illustrationen darin und ich erwische mich oft dabei, dass ich mit dem Finger über die Seiten streiche, oder dass ich wirklich Spaß am Blättern habe.

    All das ist beim elektronischen Buch dann natürlich verschwunden. Außerdem arbeite ich fünf bis sechs Stunden jeden Tag mindestens am Computer und möchte den dann eigentlich nicht auch noch auf dem Schoß habe, wenn ich lese.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Interview mit der Schriftstellerin Cornelia Funke.

    Frank Schirrmacher, Herausgeber der "FAZ", warnt in seinem Buch "Payback" vor einer digitalen Überforderung. Er meint, dass das Gehirn vor allem der digital Immigrants, der sogenannten, also derjenigen, die nicht mit dem Internet groß geworden sind, einfach nicht mehr mitkommt. Wenn das stimmt, was bedeutet diese Überforderung für die Literatur?

    Funke: Ich halte das ehrlich gesagt für … nein, sagen wir nicht Blödsinn, aber ich glaube einfach, dass das ähnlich ist wie die Schreckensmeldung, als der erste Zug fuhr, oder als die Kinder zu viel fernsahen, dass es immer wieder diese Umstellung für den menschlichen Geist und für die menschliche Rezeption gibt, dass unsere Welt immer extremer wird, was diese Reize betrifft. Das ist wahr.

    Aber ich glaube, dass dort ein ganz natürlicher Prozess stattfindet und die menschliche Natur sich daran anpasst. Ich sehe das bei meinem Sohn, der so selbstverständlich mit Computer, Multitasking, iChat und halbwegs noch nebenher seine Hausaufgaben machen umgeht, der mir meinen Computer neu einrichtet und mir zeigt, wie man das und dies noch machen kann, dass ich einfach glaube, dass sich der menschliche Intellekt da ganz auf selbstverständlichste Weise umstellen wird.

    Heinemann: Hat er denn auch Spaß an komplizierten Texten?

    Funke: Der hat … Spaß an komplizierten Texten - das hat mein Sohn nicht. Das hat aber nichts damit zu tun, denn mein Sohn hatte immer mehr Spaß an seinem Skateboard als an Texten. Das hat, fürchte ich, nichts mit der digitalen Revolution zu tun.

    Ich sehe andere Jungen in seinem Alter hier, die sehr wohl Spaß an sehr komplizierten Texten haben. Ich glaube auch, dass da wahrscheinlich etwas anderes passieren wird, dass die oft mit einer Art von Kompliziertheit umgehen können, mit der wir nichts anfangen können, dass zum Beispiel Informationen eben übers Internet, übers Bild, über bewegendes Bild kommen, dass sie das alles auf ganz andere Art und Weise zusammenfügen.

    Ich habe halt nur großes Zutrauen in den Hunger des menschlichen Geistes und ich glaube, dass das, was im Moment digital passiert, nur der Ausdruck dessen ist; und dass unser Intellekt auf ganz andere Weise Informationen verarbeiten wird, auf ganz andere Weise Dinge in Frage stellen wird.

    Ich bin eigentlich sehr aufgeregt über die derzeitige Entwicklung, weil ich denke, dass auch diese unendliche Kommunikation, die da plötzlich möglich ist, sowohl politisch sehr interessante Konsequenzen hat, weil es einfach nicht mehr so leicht ist, den Menschen zu regieren, und außerdem uns allen viel mehr das Gefühl gibt, vernetzt zu sein, was meiner Meinung nach sowieso der Fall ist, aber was eben manchmal nicht leicht zu leben war.

    Heinemann: Sind diese Bedenken, die ich eben geäußert habe, typisch deutsch?

    Funke: Ja! Da kann ich mehr nicht zu sagen. Gerade wenn man lange im Ausland gelebt hat und hört dann über solche Bedenken, dann sagt man sich natürlich gleich, oh, das ist jetzt aber sehr deutsch. Und das muss ja nicht immer etwas Schlechtes sein. Manchmal kann dadurch ja vielleicht auch etwas vorausgesehen werden, was etwas optimistischere Nationen nicht so sehen.

    Aber ich glaube, tendenziell reagieren wir leider auf alle Änderungen, auf jede Schwierigkeit, auf jede durchaus problematische Entwicklung immer damit, dass wir nur die negative Seite sehen, ohne uns zu sagen, gut, was könnte da denn jetzt auch an Positivem drinstecken.

    Heinemann: Und wir bleiben bei dieser Fragestellung im Zusammenhang mit Ihrem Beruf. Im Zeitalter des Internets kann ja jeder Mensch Schriftsteller werden, ohne vor den strengen Augen eines Verlagslektors Gnade finden zu müssen. Ist das eine Chance, liegt darin eine Chance, oder bedarf Literatur der professionellen Auswahl und der Auslese?

    Funke: Nein. Literatur bedarf der professionellen Auslese durch den Leser. Das heißt, was passieren wird, ist, dass einerseits das eine große Chance ist, an eben Lektoraten, Verlagen und auch den kommerziellen Bedenken von Verlagen vorbeizukommen, denn es ist ja nun oft so, dass natürlich ein Verlag danach gucken muss, ist dieser Autor kommerziell verkaufbar. Dass das nicht - Gott sei Dank immer noch nicht - ein Kriterium bei Verlagspolitik ist, ist eine wunderbare Sache, aber trotzdem ist es sicherlich so, dass der Geschmack eines Lektors sehr individuell ist und ich das für eine Chance halte.

    Ich glaube aber sicher, dass dann nur die Texte viele Leser finden werden, die auch vielen Menschen gefallen. Das sind nicht immer gute Texte, aber da können wir ja nun mal nicht zensieren.

    Heinemann: Frau Funke, was erwarten Sie von einem guten Buch? Ich weiß, Sie könnten jetzt eine Stunde wahrscheinlich antworten, aber schön wäre, wenn wir es in einer Minute zusammenfassen.

    Funke: Oh, das ist jetzt ja ganz schwer. Ich erwarte zum einen, dass es gut geschrieben ist. Das heißt, ich bin sehr intolerant, wenn es um Sprache geht. Wenn ich das Gefühl habe, da hat jemand ein Sprachklischee nach dem anderen aneinandergehängt, kann ich das schwer lesen. Das liegt aber auch daran, dass ich mit Sprache umgehe. Das geht anderen gar nicht so. Die wollen einfach nur eine gute Geschichte haben.

    Gute Geschichte ist für mich auch sehr, sehr wichtig. Ich mag nicht sehr gerne Literatur, die sehr narzisstisch oder - ja, narzisstisch ist eigentlich das richtige Wort - ist. Ich mag es schon, wenn ich auch noch den Rest der Welt und nicht nur den Schriftsteller darin wahrnehme, im Text, und ich mag auch sehr gerne, wenn das Buch sehr schön ausgestattet ist.

    Heinemann: Wie geht es Ihnen, wenn Sie den ersten Satz einer Geschichte schreiben, oder zu Papier gebracht haben, oder in den Computer getippt haben?

    Funke: Dann sage ich mir, mal gucken, ob das der erste Satz bleibt. Wahrscheinlich bleibt er es nicht. Wahrscheinlich schreibe ich den jetzt noch 35 Mal um.

    Heinemann: Tatsächlich 35 Mal? Ist das schon mal vorgekommen?

    Funke: Oh, das kann gut passieren. Ja, absolut. Ich schreibe jedes Buch etwa fünf bis sechs Mal vollkommen um. Das heißt, ich fange bei dem ersten Satz wieder an und da passiert es selten, dass nicht jeder Satz irgendwie geändert wird, aber es gibt dann so einige Kapitel, wo man nachher zurückguckt und sagt, das hast du bestimmt 30 Mal geschrieben. Ich denke, das ist der eigentliche Spaß am Schreiben.

    Heinemann: Dann sind wir bei der Tintentrilogie. Ich rechne gerade: bei 15.000, 20.000 Seiten ungefähr, die Sie geschrieben haben.

    Funke: Ja, das hat sieben Jahre gedauert.

    Heinemann: Sieben Jahre?

    Funke: Ja.

    Heinemann: Welches Buch oder welche Bücher lesen Sie gegenwärtig?

    Funke: Ich lasse mir im Moment vorlesen, weil ich gerade die Illustration zu meinem neuen Buch selber gemacht habe, und das waren 52 Illustrationen. Dadurch saß ich natürlich mehrere Monate am Zeichentisch. Da habe ich mir all die wunderbaren Bücher von Neil Gaiman von ihm selber auf Audiobuch vorlesen lassen.

    Heinemann: Und vielleicht können Sie uns einen ganz kurzen Einblick geben in das neueste Werk?

    Funke: Da kommt so einiges zusammen, was in meinem eigenen Leben wahrscheinlich auch eine Rolle spielt: meine ganzen deutschen Wurzeln und all die grimmschen Märchen, mit denen ich aufgewachsen bin, meine Sehnsucht nach Europa und gleichzeitig auch das aufgeregte Gefühl, in einer anderen Welt zu leben.

    Das heißt, es wird um zwei Brüder gehen, die Jakob und Wilhelm heißen, Jacob and Will, und es wird um eine andere Welt gehen, die sie hinter einem Spiegel finden und in der das Ganze so nach 19. Jahrhundert Europa schmeckt und vielleicht ein bisschen nach Wien, vielleicht ein bisschen nach Prag, gleichzeitig aber die grimmschen Märchen auch sehr lebendig sind, sodass man denkt, dass die vielleicht alle durch den Spiegel gekrochen sind.

    Heinemann: Das ist der Blick zurück. Könnten Sie sich vorstellen, dass nach der Tintenwelt die Netzwelt den Rahmen eines Ihrer Werke bilden könnte?

    Funke: Nein. Ich glaube, dass die Netzwelt sowieso in gewisser Weise, interessanterweise, als ich jetzt den Titel recherchierte, weil es mir ja in meinem Buch um eine Spiegelwelt geht, stellte ich fest, dass die Netzwelt die Spiegelwelt auch manchmal genannt wird in einigen Internetveröffentlichungen, Gott sei Dank nicht als Marke, sondern dass das aber durchaus als Begriff passiert, dass dadurch, dass wir immer mehr imaginierte Welten digital kreieren, das scheinbar so ist, dass wir das durchaus als Spiegelwelten begreifen.

    Ich glaube, dass wir als Schriftsteller das wahrscheinlich schon immer getan haben, dass wir einfach digitale Welten in unseren Köpfen haben entstehen lassen.

    Heinemann: Die Schriftstellerin Cornelia Funke in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
    Die Autorin Cornelia Funke im November 2003
    Autorin Cornelia Funke (AP Archiv)