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Edition Poeticon
Literarische Reflexionen zu Geschlecht, Geschichte, Gruppendynamik, Tradition

Das Berliner Verlagshaus J. Frank präsentiert eine neue Reihe zur literarischen Reflexion, die Edition Poeticon. Die Reihe soll Themen behandeln, die in der gegenwärtigen Literatur eine Rolle spielen. Vier Bände sind jetzt erschienen: Geschlecht, Geschichte, Gruppendynamik, Tradition.

Von Volkmar Mühleis |
    Bücher liegen am 23.04.2014 zum Welttag des Buches in der früheren Stadtbibliothek in Calbe/Saale (Sachsen-Anhalt) auf einer Waage. In der im Jahr 1911 eröffneten und Ende 2012 geschlossenen Bibliothek findet täglich ein Flohmarkt statt. Dabei wird der Bestand der Bücherei nach Gewicht verkauft. Bisher wurden 19.869 Medien veräußert.
    Bücher liegen auf einer Waage. Sie werden in der früheren Stadtbibliothek in Calbe/Saale nach Gewicht verkauft. (dpa picture alliance/ Jens Wolf)
    Poetisiert Euch. Damit wirbt das Berliner Verlagshaus J. Frank für seine Edition Poeticon. Was wie ein Schlachtruf klingt, wird ohne Ausrufezeichen geschrieben. Der Imperativ ist eine Aufforderung, ein Spiel mit der politischen Ladung dieser Aufrufe, wie sie seit Stéphane Hessels Schrift Empört Euch! in Mode gekommen sind. Ein Band zur Politik findet sich nicht unter den ersten vier Ausgaben dieser neuen Reihe. Nach Schlagworten ist sie geordnet, und sie beginnt mit Essays zu Geschichte, Geschlecht, Tradition und Gruppendynamik. Herausgeber der Reihe ist Asmus Trautsch, ein junger Lyriker und Philosoph, während die Idee von dem Verleger Johannes Frank stammt. Klein und kompakt ist jeder Band gestaltet, kartoniert und mit dem Logo einer Schreibmaschine versehen. Das Spiel mit der eigenen Zunft hat inhaltlich aber nichts mit einem Handbuch zu tun, auch wenn der Name Edition Poeticon mit dem Begriff der Poetik kokettiert, der Lehre vom Schreiben. Johannes Frank meint selbst zu der Reihe:
    Frank: "Also die Reihe ist so konzipiert, dass sie irgendwann eine Art Sammellexikon sein soll, von Begriffen, die in essayistischer Form von Lyrikern und Lyrikerinnen reflektiert werden. Also da geht es aber erst mal um die Form des Essays und nicht unbedingt um die Lyrik. (...) Wir gehen sozusagen davon aus, dass die Lyrik eine deutliche Beziehung zu solchen Begriffen hat, nicht nur über Subjekte. Und dass wir unsere Lyrikerinnen und Lyriker fragen diese Begriffe zu beschreiben, in einem essayistischen Format, um verschiedene Positionen einzunehmen, aber auch Positionen zu beziehen. Dass reine Positionen einnehmen ist ja eine Übung, die auch schnell langweilig werden kann, und für den Leser auch wenig erquicklich irgendwann wird."
    Mühleis: Es geht um nichts weniger als einen Ausweg aus der postmodernen Unverbindlichkeit, mit ihrem Erbe. Das ist der Zwiespalt für jeden Neuanfang: Es gibt kein Zurück, aber nach vorne geht es nur über das Alte hinaus. Was bedeutet also das Lyrische Ich im Diskurs? Oder eine Sprache jenseits davon? Swantje Lichtenstein präsentiert hierzu eine Passage aus ihrem Essay Geschlecht:
    Lichtenstein: "Das Gedicht hat eine gute Figur. Kein Gramm zu viel, bricht nicht, ist kompakt und doch kräftig. Vielgestaltig in der Handhabung (nicht -gebung, eher nehmend). Das Manuskript steckt in der künstlichen Hüfte (Knie) fest und verdingt sich zwischenzeitig als Gürtelrose. Die blüht. Verblüht. Ist Dorn. Erwartet nichts, weiß aber. Möchte das Herz essen. Vom Gedicht. An den Knotenpunkten ist es etwas paradox. Doch Text. Von ganz nah. Ich möchte das nicht. Ich möchte das nicht aushalten müssen. Ich möchte nicht in etwas hinein hören, das ich mir nicht ausgesucht habe. Möchte nicht einen anderen Körper mithören. Mitklingen lassen. Möchte mit dem Ich ein bisschen herumzaudern und es nicht gegen ein anderes mit all diesen Subjektansprüchen abgleichen. Von mir zu dir und wieder zurück. Dann also Ruhe. Mit dem Gedicht."
    Mühleis: Gerade der Band von Swantje Lichtenstein ist eine unablässige Durchdringung von Sprachspiel und Gedankengang. Das Geschlechtliche findet sich in der Figur des Gedichts, in der Taktilität und zueignenden Handhabung, in der Krankheit des corpus, des Körpers, des Textes, im handgeschriebenen, handgetippten Manuskript. Der Konflikt zwischen Körper und Geist, Intellekt, dem Kopf, der Konflikt mit dem Andern. Welche Rolle spielt da das Gedicht? Eine Retourkutsche ist die Antwort: ‚Dann also Ruhe. Mit dem Gedicht.' So geht es weiter, in einem Parforceritt durch die Möglichkeiten des Geschlechts im Gedicht, in der Sprache. Mehr beschreibend als in dieser Dichte zugespitzt sind die anderen drei Bände, von Jan Kuhlbrodt zum Thema Geschichte, von Bertram Reinecke zur Gruppendynamik unter Schreibenden und von Tobias Roth zur Frage der Tradition. Tradition wird dabei von Roth gerade im Zusammenspiel mit Kreativität gedacht:
    Roth: "Natürlich ist Kreativität einfach viel Rekombination. Und arbeitet eben viel mit vorgefundenem Material. Und auf welche Art und Weise das gefunden wird und dann rekombiniert wird, das ist eben eine klassische Angelegenheit der Poetik. Und ich denke nicht, dass wir jetzt neben der Poetik auch das Exzerptenbüchlein wieder stark machen, dass wir die Äneis lesen, die schönen Wendungen herausschreiben und wenn wir ein Bild für einen schönen Sommertag brauchen, dann hängt die Schnelligkeit unserer Gedichtproduktion von der Ordentlichkeit unseres Exzerptenbuches ab, das, glaube ich, kann es nicht sein."
    Mühleis: Einerseits richten sich die Autoren gegen die Verengung von Literatur auf die Künstlerbiografie, zum Beispiel im Deutschunterricht an den Schulen, andererseits sprechen sie sich für das Lehren des Schreibens an Literaturakademien aus. Um den letzten Punkt hat nicht zuletzt Florian Kessler eine Debatte entfacht, mit seiner erfrischenden Polemik Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!, erschienen in der Zeit, über ein konformistisches und saturiertes Bild von Literatur, das gerade die Bücher diplomierter Hochschulautoren abgeben würden. Als Dozent am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig sieht Bertram Reinecke das durchaus anders. Zum Vergleich von Deutschunterricht und Literaturstudium meint er mit Blick auf sein Buch Gruppendynamik:
    Reinecke: "Es ist ein deutliches Plädoyer für Literaturhochschulen. Der Unterschied zum Deutschunterricht ist erstens, alle Leute sind freiwillig da, und es müsste im Prinzip – jedenfalls, wenn man es geschickt einrichtet –, es müsste nichts zensiert werden. Denn ganz viele Verschiebungen in der Vermittlung geschehen dadurch, dass der Deutschlehrer auch irgendwas prüfen muss. Also das ganze Verstehen wird dermaßen überschätzt, weil der Deutschlehrer abfragen muss, ob in irgendeiner Form, (...) ob die Kinder was verstanden haben und irgendwo werten muss. Und dadurch kommt einfach ein völlig falscher Fokus auf die Literatur zustande, und das muss nicht sein, wenn man das an der Hochschule treibt."
    Swantje Lichtenstein meint dazu:
    Lichtenstein: "Wenn ich in Mexiko bin oder in Armenien oder in der Türkei, dann sind das auch Lyriker, die Literatur unterrichten, das ist ja nicht nur im angelsächsischen Bereich, aber da (sind) natürlich die Hochschulen an denen überhaupt Schreibkurse oder Schreiben als Studiengänge eingeführt (sind) viel umfangreicher, und eben nicht Literaturwissenschaft, sondern eben auch Schreiben mit einem Master of Fine Arts, muss man auch noch mal sagen. Also im Unterschied zu Deutschland sind das ja auch Kunsthochschulen, an denen gemeinsam künstlerische Fächer und eben auch Schreiben unterrichtet wird. Das haben wir ja eben auch nicht, in der Form, außer eben in Leipzig, in Hildesheim ist es vom Abschluss schon wieder anders, und an der Universität für angewandte Künste in Wien ist es auch so, dass es eine Kunsthochschule ist. Also da gilt dieses Modell, aber das haben wir sonst im deutschsprachigen Raum nicht. Und ich glaube, da besteht genau der Knackpunkt, letztendlich."
    Die Frage einer möglichen Konformierung der Literatur durch Literaturhochschulen ist sicher eine Verkürzung des Blicks, mit wenig Sicht für die Art und Weise, wie das Schreiben international im akademischen Rahmen gefördert wird. An der Kunstakademie Düsseldorf zum Beispiel gibt es gleichfalls einen Lehrstuhl für Poetik, den im Augenblick Durs Grünbein innehat. Das Thema lässt sich also bildungspolitisch weitaus vielfältiger darstellen. Und es zeigt, wie konkret die poetologischen Überlegungen bisweilen sind, die in der Edition Poeticon behandelt werden. Im Ganzen liegt der Reiz der Reihe weniger darin, sie als eine bloße Abfolge zu begreifen, als vielmehr die Schlagworte und ihre Behandlungen als offene Kartografie des Schreibens und Lesens zu betrachten. So bildet der Essay zur Geschichte von Jan Kuhlbrodt in vielerlei Hinsicht ein Komplement zur Frage der Tradition bei Tobias Roth, und verhält sich die soziale Gruppendynamik bei Bertram Reinecke ebenso zur Geschichte wie die Tradition zum Bereich von Gattung und Geschlecht bei Swantje Lichtenstein. Innerhalb dieser Kartografie klafft die eigene Gegenwart zum Teil als Leerstelle auf, wie in Jan Kuhlbrodts Feststellung, in der Lyrik der Gegenwart spiele Geschichte kaum eine Rolle, oder als Paradox, wenn Bertram Reinecke etwa Handwerk nicht als Lehre, sondern nur als Übung und Einübung begreift, oder wiederum als verspielter Witz, wenn Swantje Lichtenstein bei all den Gattungen und Geschlechtern fragt, ob für die Poetik denn auch das Heiraten in Frage kommt. Es geht nicht mehr um Subjekt oder Diskurs, sondern um Figuren der Gegenwart. In der Edition Poeticon werfen manche davon ihre Schatten.
    Swantje Lichtenstein, Geschlecht
    Jan Kuhlbrodt, Geschichte
    Bertram Reinecke, Gruppendynamik
    Tobias Roth, Tradition
    Jeweils 48 Seiten, 7,90 Euro, Edition Poeticon, Verlagshaus J. Frank