Dienstag, 16. April 2024

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Ehe für alle
"Die Romantik ist einerseits sehr schön"

Dass die Ehe für alle geöffnet werde, hieße vielleicht am Ende nur, dass alle ein Recht auf das Glücksversprechen der Ehe hätten - aber auch darauf, den Ehealltag zu erleiden, sagte der Literaturwissenschaftler Andreas Kraß im DLF. Freude und Bürde liefen in der Ehe parallel, ganz unabhängig davon, ob sie jetzt zwischen Mann und Frau, Mann und Mann oder Frau und Frau geschlossen würden.

Andreas Kraß im Gespräch mit Birgid Becker | 02.07.2017
    Die Regenbogenflagge über dem Brandenburger Tor nach der Abstimmung über die Ehe für alle.
    Nach der Abstimmung über die Ehe für alle, wehte eine Regenbogenflagge über dem Brandenburger Tor in Berlin. (imago - ZUMA Press)
    Birgid Becker: Wer der Ansicht ist, dass Politik langweilig ist, überraschungsarm und berechenbar, der dürfte in der Spanne vom vergangenen Montagabend bis zum vergangenen Freitag eines Besseren belehrt worden sein. Weniger als fünf Werktage und schon war die Ehe, wie wir sie bislang kannten, hinweggefegt und hinweggefegt war die Union als Heimstatt der Konservativen im Land und dem Untergang geweiht ist ferner auch das sperrige Verpartnern von Menschen, die eigentlich lieber Ehepaare geworden wären. Fünf Werktage und das Land und seine Ehepaare, so wie wir sie kannten, gibt es bald nicht mehr. Zeit, einen kulturgeschichtlichen, einen literarischen Abgesang auf die Ehe, so wie wir sie kennen, anzustimmen, und wer könnte das besser als ein Gesprächspartner, der sich eh auf ungewöhnliche Anpaarungen, Verbindungen und Lieben spezialisiert hat. Andreas Kraß hat schon geschrieben über die Liebe von Meerjungfrauen oder über die schwierige Freundesliebe unter Männern. Er ist Professor für ältere deutsche Literatur. Und jetzt mal sprachästhetisch betrachtet – das habe ich ihn vor der Sendung gefragt: Dass man sich bald nicht mehr verpartnern muss, wenn man eigentlich heiraten will, das kann der Literaturwissenschaftler doch nur als Fortschritt sehen, oder?
    Andreas Kraß: Auf jeden Fall. Das Wort Verpartnern ist natürlich nicht sehr romantisch und nicht sehr klangvoll. Das wird man künftig wahrscheinlich nur noch parodistisch verwenden können.
    Becker: Literarisch betrachtet müsste es ja eher ein Übel sein, wenn es künftig die Ehe für alle gibt. Die Ehe steht am Ende aller Liebesromane, danach kommt nichts mehr. Oder, um es mit Kant zu sagen: Eifersucht, Schmerz der Verliebten, das ist vor der Ehe Würze für den Leser, in der Ehe aber Gift. Literarisch betrachtet ist die Ehe dann wieder der reine Liebestöter?
    Kraß: Na ja. Die literarischen Geschichten wie auch die Filme handeln ja vor allen Dingen die Probleme ab, die die Liebe mit sich bringt, und ich glaube, dass kein Roman langweiliger ist oder kein Film öder, der nur von den Freuden einer Ehe erzählen kann. Oft ist es ja so, dass mit dem Kuss dann der Roman oder der Film auch schließt. Das ist etwas, was mir bei dem Buch über die Meerjungfrauen aufgefallen ist, dass gerade so im 19. Jahrhundert in diesen Geschichten verhandelt wird, dass der Mann eine Wahl treffen muss, die er eigentlich gar nicht treffen kann, nämlich zwischen der Frau, die man heiratet, um ein bürgerliches Leben zu führen, und der Frau, die man gerade nicht heiratet, einer Frau, die man als Nymphe imaginiert, mit der man dann eine Liebespassion haben kann. Aber das zeigt, dass seit der Romantik, als es dieses Modell der romantischen Liebesehe gibt, die Liebesehe auch gleich zum Problem wird, denn die Frage, die sich stellt, ist, wie kann man eigentlich die Ehe als bürgerliche Gemeinschaft in Einklang bringen mit einer passionierten Liebesbeziehung.
    "Das ist auf der einen Seite ein großes Glücksversprechen"
    Becker: Jetzt haben wir die Ehe für alle, also Kuss und Schluss. Ist das das Ende der Romantik, oder der Anbeginn einer ganz neuen romantischen Phase?
    Kraß: Na ja. Die Romantik ist einerseits sehr schön. Darauf basiert auch jede kirchliche Hochzeit in ihrer Bildlichkeit. Das ist auf der einen Seite ein großes Glücksversprechen, dass man ja auch niemandem nehmen möchte, und auf der anderen Seite weiß man, dass die Romantik sich ja im Alltag bewähren muss und dass das nicht immer so klappt, und wenn die Ehe für alle geöffnet wird, dann heißt das vielleicht am Ende nur, dass alle ein Recht haben auf das Glücksversprechen der Ehe und dass auch alle ein Recht darauf haben, den Ehealltag zu erleben, zu erleiden und sich daran zu erfreuen.
    Becker: Jetzt spreche ich ja mit jemandem, der von Haus aus Mediävist ist, also die ältere Literatur betrachtet, und da weisen Sie schon mal darauf hin: So ganz beispiellos im breiten historischen Wurf ist es ja nicht, dass es auch Rituale gibt für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
    Kraß: In den mittelalterlichen Romanen, in den mittelalterlichen deutschen Romanen hat man immer wieder die Konstellation, dass es eine Art von Rivalität oder Konkurrenz gibt zwischen den Beziehungen, die der männliche Held hat mit einer Frau und mit einem anderen Mann. Es gibt immer wieder eine Konkurrenz zwischen Freundschaft zwischen Männern einerseits und dann der Liebe des Mannes zur Frau andererseits, und es ist für die Helden oft sehr schwer, diese beiden Ansprüche übereinzubringen. Und das zeigt auch, dass im mittelalterlichen Zusammenhang die Liebe zwischen Mann und Frau als Thema auch in gewisser Weise erst entdeckt werden muss, dass es auf der anderen Seite als selbstverständlich angesehen wird, dass Männer vor allen Dingen Beziehungen mit anderen Männern eingehen, Freundschaftsbeziehungen eingehen, die auch ritualisiert werden können, und dafür gibt es durchaus auch Modelle im frühen Christentum, sozusagen Verlobungsformulare, die Eheriten sehr ähnlich sind und in denen es darum geht, dass Männer miteinander Lebensgemeinschaften eingehen. Damit ist gar nicht von Sexualität die Rede, sondern es geht um Partnerschaften zwischen Männern, die auf Treue beruhen und die für ein ganzes Leben lang geschlossen werden.
    Becker: Das Zusammenkommen von Menschen ist also vielfältiger, als das auf den ersten Blick den Anschein hat?
    Kraß: Auf jeden Fall.
    Becker: Die letzten heimatlosen Konservativen betrauern jetzt aber gleichwohl, dass dieser Wesenskern, der Markenkern der Ehe nicht mehr existiert. Kann man das wirklich betrauern? Wenn man es auf die längere Sicht sieht, hat sich ja das, was Markenkern der Ehe ist, mehrfach geändert.
    Kraß: Ja. Ich weiß nicht, ob die Konservativen es auch immer noch betrauern, dass die Frau inzwischen berufstätig sein darf ohne die Erlaubnis des Mannes.
    Becker: Das wollen wir ihnen jetzt doch nicht unterstellen, oder?
    Kraß: Das wollen wir nicht tun. Ich glaube, dass die Halbwertszeiten für diese alten Modelle dann doch gering sind und man schon bald sich an die Stirn fassen wird, wie es jemals anders gewesen sein konnte. Im Übrigen glaube ich, dass dieses Argument, dass die Ehe und die Familie die Keimzelle des Staates seien, dass das gar nicht zutrifft, denn der Staat ist ja erst einmal ein abstraktes Gebilde und die Reproduktion des Staates läuft ja über Wahlen, über demokratische Vorgänge und nicht darüber, dass Menschen Kinder haben.
    "Nur wenn man den Dingen die Geschichte entzieht, werden sie zu Naturtatsachen"
    Becker: Wobei ja auch dieser Gedanke, dass die Ehe, die Familie Keimzelle des Staates sei, auch kein so altes Konstrukt ist, nicht wahr?
    Kraß: Ja, auf jeden Fall. Sie haben gerade von den fünf Tagen gesprochen, in denen sich viel verändert hat. Es hat sich auch in den letzten Jahrhunderten viel verändert und es ist ganz wichtig, finde ich, dass man einen Blick auch wirft auf die Geschichte der Ehe, denn nur wenn man den Dingen die Geschichte entzieht, werden sie erst zu Naturtatsachen. Und man kann ja zum Beispiel sehen, dass erst seit der Romantik, also erst seit dem 19. Jahrhundert überhaupt es die Vorstellung gibt, dass die Ehe eine Liebesehe sein sollte, dass die Ehe in der Weise umgedeutet wird, dass sie nicht mehr nur eine ökonomische und eine politische Verbindung ist, sondern dass sie auch der Ort der Liebe, der Intimität zwischen Mann und Frau sein soll. Diese Bürde ist der Ehe ja erst relativ spät auferlegt worden.
    Becker: Ist es denn eine Bürde?
    Kraß: Na ja. Das ist natürlich eine Ermessensfrage. Ich glaube, dass es einfach immer gilt, dass Freude und Bürde parallel laufen bei der Ehe, ganz unabhängig davon, ob sie jetzt zwischen Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau abgeschlossen wird.
    Becker: Zu Ehen gehört ja auch immer, dass sie sich trennen, und wenn wir das Ganze jetzt betrachten im politischen Betrieb, dann scheint ja in diesen fünf Tagen, über die wir gesprochen haben, in diesen fünf Tagen der Veränderung, einiges in der Beziehung auf der politischen Ebene jetzt schiefgelaufen zu sein. Die Große Koalition, wenn man sie als politische Ehe betrachtet, kann sich eigentlich nicht mehr erholen von dieser Art – was war es eigentlich – Vertrauensbruch, Liebesentzug oder gar Betrug?
    Kraß: Na ja. Das Interessante ist ja, dass in dem Moment, wo die Ehe für alle geöffnet wird, es politisch gesehen zu einer Art Scheidung kommt. Das ist schon eine paradoxe Entwicklung. Aber ich würde mal sagen, das Parlament ist ja auch keine Liebesgemeinschaft, sondern ist ein Ort der Verhandlungen, und neben den Reden, die dann in der Öffentlichkeit gehalten werden, gibt es wahrscheinlich auch die privaten Treffen zwischen Politikern und Politikerinnen verschiedener Couleur. Da ist es dann vielleicht auch nicht anders als im Alltag. Aber ich bin gespannt darauf, welche neue Konstellation wir haben werden nach der nächsten Wahl.
    "Ich fand den Verlauf eigentlich ganz erfreulich"
    Becker: Und wie liebesfähig die dann sein wird?
    Kraß: Ja. – Muss sie gar nicht sein! Ich möchte gar nicht, dass unsere Politikerinnen und Politiker einander lieben, sondern ich möchte nur, dass sie sehr demokratisch und sehr liberal unseren Staat gut verwalten und schützen und versorgen.
    Becker: Muss ja nicht gleich Liebe sein. Aber wenn es wie am vergangenen Freitag doch zu sehr emotionalen Momenten im Bundestag kommt, wenn der Bundestag ein Ort der Gefühle wird, lässt Sie das so ganz kalt, oder fühlen Sie da mit?
    Kraß: Ich finde das eigentlich sehr gut. Ich habe die Debatte verfolgt auf dem Bildschirm und habe gedacht, das Erfreuliche daran ist, dass durch die verschiedenen Stimmen, die zu Wort gekommen sind, auch die verschiedenen Stimmen zu Wort gekommen sind, die es in der Gesellschaft gibt. Ich glaube, das war in der Breite der Argumente, aber auch in der Breite der Affekte, die ins Spiel gekommen sind, dass das ein ganz gutes Abbild war unserer Gesellschaft, und das sollte das Parlament ja auch sein. Ich fand den Verlauf eigentlich ganz erfreulich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.