Freitag, 29. März 2024

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Ehemaliger ARD-Korrespondent zu Tschernobyl
"Zehn Tage wurde ungehindert Radioaktivität rausgeschleudert"

Der ehemalige ARD-Korrespondent Johannes Grotzky war einige Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl selbst vor Ort. In der evakuierten Stadt habe er grausige Szenen gesehen, sagte er im DLF. Er erinnert sich an verstrahlte Autos und Wohnungen in Prypjat, aber auch an Bilder von Kühen mit mehreren Köpfen, Schweine mit sechs Beinen - die Spätfolgen des GAUs.

Johannes Grotzky im Gespräch mit Peter Kapern | 26.04.2016
    In Tschernobyl explodierte ein Reaktor am 26. April 1986, hier eine Aufnahme vom 1. Oktober 1986
    "Die damalige Sowjetunion hat diesen Unglücksfall nicht gemeldet" (imago stock&people)
    Kapern: Das Nichtwissen damals war verständlich. Der Kreml glaubte nämlich tatsächlich eine Zeit lang, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die sich heute vor 30 Jahren ereignete, verheimlichen zu können. - Guten Tag, Johannes Grotzky.
    Johannes Grotzky: Einen schönen guten Tag, Herr Kapern.
    "Diese ganzen Autos, die verstrahlt waren"
    Kapern: Wann und wie haben Sie zum ersten Mal davon erfahren, dass da in der Ukraine irgendwas passiert sein musste?
    Grotzky: Durch einen Anruf aus Deutschland interessanterweise, weil nämlich in Schweden ja Messungen vorgenommen wurden bei einem Kernkraftwerk, wo man meinte, vielleicht sei da ein Leck. Es hat sich herausgestellt, das Kernkraftwerk funktioniert, aber aus dem Osten kam eine Wolke. Das wurde dann gemeldet und das war der erste Hinweis. Dann habe ich genau das getan, was ich dann geschildert habe, verzweifelt herumgehorcht, Leute angerufen, alle Nachrichten durchgewühlt. Absolutes Schweigen! Es hat dann tatsächlich ja eine Weile gedauert, bis eine kurze vierzeilige TASS-Meldung kam. Die habe ich mir bis heute aufgehoben. Da stand, eine Havarie sei dort passiert und eine staatliche Kommission ist eingesetzt worden und man kümmert sich jetzt um die Beseitigung der Folgen. Mehr gab es erst mal nicht. Und das Allerschlimmste: Die Bevölkerung, die auch betroffen war, hat da ungefähr 36 Stunden ausgehalten, bevor sie evakuiert wurde, und mit den Evakuierungen sind ja dann katastrophale, wie ich finde, Fehler passiert, über die ich allerdings erst später gelernt habe, nachdem ich selbst in Tschernobyl war und selbst in Prypjat, dieser evakuierten Stadt, denn dort gab es grausige Szenen zu sehen, beispielsweise alle diese ganzen Autos, die verstrahlt waren, die Helikopter vom Einsatz, die verstrahlt waren. Die wurden in den Jahren danach geplündert, das Ganze wurde auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft. Die Wohnungen, die überstürzt verlassen wurden, weil es hieß, nur zwei, drei Tage ginge man weg - die Leute konnten nicht zurückkommen -, diese wurden auch geplündert, diese Wohnungen. Die Sachen landeten auch auf dem Schwarzmarkt, verstrahlt wie sie waren. Und eine Sache hat mich am meisten irritiert, die mir später dann der Pressesprecher des Kernkraftwerkes gesagt hat: Nach der Evakuierung durfte pro Familie einer zurückkommen, um die wichtigsten Dokumente noch rauszuholen. Das heißt, sie haben in dieses hochverstrahlte Gebiet doch noch mal Leute reingelassen.
    "Es hat 18 Tage gedauert, bis Gorbatschow an die Öffentlichkeit ging"
    Kapern: Wann genau, Herr Grotzky, haben Sie denn diese Unglücksregion rund um den Reaktor besuchen können? Wie lange lag da die Katastrophe zurück?
    Grotzky: Die ersten wurden ja praktisch zweieinhalb Jahre danach zugelassen. Der erste, der vom Westen das überfliegen durfte, war Hans Blix. Das war der Chef der Atomenergiebehörde in Wien. Der hatte zwei ganz wichtige Nachrichten dann mitzuteilen. Erstens, dass in der Tat Russland und die damalige Sowjetunion diesen Unglücksfall nicht gemeldet hat. Die Sowjetunion wäre verpflichtet gewesen, sie hat es nicht getan. Das zweite aber, was er gesagt hat: Das sei kein Hinderungsgrund, die Kernenergie weiter auszubauen. Das ist ja auch in Russland bis heute passiert.
    In der Tat gibt es eine sehr bemerkenswerte Konstellation. Gorbatschow hatte einen Monat vorher den 26. Parteitag beendet. Da hat er verkündet, Glasnost und Perestroika. Die ganze Welt hat gehofft, jetzt kommt auch wirklich dort die Wahrheit auf den Tisch. Es hat 18 Tage gedauert, bis Gorbatschow an die Öffentlichkeit ging mit folgender Nachricht: Das Kernkraftwerk ist schlimm. Schlimmer aber noch ist die Bundesrepublik und noch schlimmer Amerika, die daraus eine Medienkatastrophe gemacht hätten. In der Tat hatte ja die "New York Times" geschrieben, 15.000 Tote seien dort registriert worden, was nicht stimmte.
    Und das Zweite: Gorbatschow hat dann ein paar Jahre danach zu einem der denkwürdigen Tage zu Tschernobyl gesagt und auch geschrieben: Die Katastrophe von Tschernobyl hat mehr zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen als die Politik von Glasnost und Perestroika.
    Kapern: Hat er damit recht?
    Grotzky: Wahrscheinlich ja. Es ist einfach der Glaube an die Autorität, an die Allmacht des Staates tatsächlich verschwunden gewesen. Es gab ja dann wahnsinnige Einsätze, um dieses Kernkraftwerk unter Kontrolle zu bringen. Diese Flamme, die dort aufgebrochen ist, hat ja ungefähr bis 1100 Meter in den Himmel hineingeragt. Zehn Tage lang konnte ungehindert die Radioaktivität rausgeschleudert werden. Eine Betondecke von ungefähr tausend Tonnen wurde ja dort in die Luft gesprengt, und das Ganze nur, weil man einen Testlauf gemacht hat, der schon im anderen, nämlich im Block drei nicht funktioniert hat. Den hat man noch mal dort wiederholt und der ist dann schiefgegangen, es ist alles außer Kontrolle geraten. Und da ist der Glaube an die Allmacht des Staates, auch an die Politik von Gorbatschow zunächst mal mächtig demoliert worden und ich glaube, dass Gorbatschow selbst sich in dem Ansehen in der Bevölkerung nie von diesem Kernkraftwerkunglück erholt hat.
    "Die Hubschrauberpiloten haben am schlimmsten gelitten"
    Kapern: Herr Grotzky, ich erinnere mich an Luftaufnahmen vom explodierten Reaktor, bei dem durch die Ritzen zwischen den Trümmern der glühende Reaktorkern zu sehen war. Ich erinnere mich an schwerverhüllte Gestalten, die mit der Schüppe in der Hand versucht haben, auf dem Dach des Reaktorgebäudes die Katastrophe irgendwie einzugrenzen. Was haben Sie eigentlich vom Schicksal dieser sogenannten Liquidatoren mitbekommen, die ja im Prinzip auf einer Selbstmordmission waren?
    Grotzky: Ich war ja später mit Liquidatoren unterwegs, aber die waren dann schon nur bei der Erdkruste beteiligt, dann das abzugraben. In den eigentlichen Teil - das war ja viel zu gefährlich - hätte nie einer rein können. Ich habe aber Kontakte zu Ärzten gehabt, die dort im Einsatz waren. Zwei Arten, russische Ärzte und auch amerikanische. Das war in der Tat dramatisch, denn die Leute durften ja manchmal nur 20 bis 40 Sekunden im Einsatz sein, wurden sofort wieder mit Hubschraubern abgeholt. Die Hubschrauberpiloten waren die, die dann am schlimmsten gelitten haben. Es sollen ja bis zu 400.000 Menschen bei der Liquidation dieses Unglücks im Einsatz gewesen sein. Man hat die Hubschrauberverbände aus Afghanistan abgezogen, weil man nicht genug im eigenen Land hatte, um diese ganzen Einsätze zu fliegen. Es musste ja Bor, Sand und alles reingeschmissen werden, um irgendwas zu löschen. Das hat aber nie wirklich zur Löschung dort beigetragen. Und es wurde nie die Wahrheit erzählt über die wirklichen Opfer.
    "Die Spätfolgen waren dramatisch"
    Die Ärzte, die dort waren, haben damals mir von schlimmeren Opfern erzählt, von Strahlungsopfern, mehr als, ich glaube, diese 28 Feuerwehrleute, die offiziell als die ersten Opfer gelten. Und die Spätfolgen waren dramatisch. Es ist dann etwas passiert, das haben wir schon vergessen. Etwa einen Monat später oder nicht mal einen Monat später ist dann die Öffentlichkeit aufgebrochen, die Medien haben dann alles gebracht und im Jahresrhythmus wurden dann die schlimmen Folgen auch bildlich gezeigt, beispielsweise die vielen Verunstaltungen von Hunden oder Kühen mit mehreren Köpfen, Schweine mit sechs Beinen, die dort zur Welt gekommen sind. Denn eines hat man nicht gemacht: Man hat ja nicht das Vieh geschlachtet aus dieser Zone, sondern hat es mit dem anderen Vieh der umliegenden Kolchosen außerhalb dieser 30-Kilometer-Zone vermischt und auch die Milch hat man vermischt. Ich habe gesagt, das kann doch nicht wahr sein. Die sagten, nein, nein, dann ist die Verstrahlung so gering, dass sie für die Menschen nicht schädlich ist, wenn es mit der gesunden Milch vermischt wird. So dramatisch und naiv ging das und da hat die Presse dann wirklich zugegriffen.
    Kapern: Johannes Grotzky, vor 30 Jahren ARD-Hörfunkkorrespondent in Moskau. Danke, Herr Grotzky, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.