Donnerstag, 25. April 2024

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Ehemaliger französischer Außenminister Védrine
„Der Euro war keine Bedingung für die Wiedervereinigung“

Die französische Führung hat mit der deutschen Wiedervereinigung gerechnet. Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine sagte im Dlf, die Einheit sei jedoch eine komplizierte Operation gewesen. In Europa habe man lange gedacht, dass es sie nur im Fall eines Krieges mit der UdSSR hätte geben können.

Hubert Védrine im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.10.2020
Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine bei einer Konferenz im russischen Sankt Petersburg.
"Der Fall der Mauer war spektakulär, bewegend, einmalig für die Menschen in Berlin. Historisch aber nicht so wichtig, wie häufig behauptet wird", so der französische ehemalige Außenminister Hubert Védrine. (imago stock&people)
Man habe die deutsche Einheit mit einem sehr positiven Gefühl begrüßt, sagte der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine im Deutschlandfunk über seine damalige Regierung. Zusammen mit den internationalen Partnern sei man sehr zufrieden über die Entwicklung des Prozesses gewesen. In Frankreich habe man schon lange mit der Wiedervereinigung gerechnet, betonte Védrine. Staatspräsident Francois Mitterrand habe dies bereits 1981 gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Ausdruck gebracht. Védrine warb außerdem für eine pragmatische deutsch-französische Zusammenarbeit. Als Beispiel führte er die jüngste Einigung zwischen Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel auf den Europäischen Aufbauplan an.

Christoph Heinemann: Was haben Sie am 3. Oktober 1990, dem Tag der Vereinigung gedacht?
Hubert Védrine: Das allgemeine Gefühl war sehr positiv. Wir, ich spreche jetzt von Präsident Mitterrand, nicht von mir, wir waren zufrieden, zusammen mit unseren Partnern, natürlich dem deutschen Helmut Kohl, aber auch mit George Bushs Vater, den Briten, aber auch mit Gorbatschow, den man nicht vergessen darf, einen Prozess, der seit langem in Gang war, steuern zu können. Im Elysée haben wir mit dieser Perspektive gelebt. Präsident Mitterrand sagte im Oktober 1981 zu Bundeskanzler Helmut Schmidt, als er ihn in seinem Sommerhaus in Latche empfing: Ich bin sicher, dass in vielleicht zehn, höchstens 15 Jahren die Sowjetunion nicht mehr in der Lage sein wird, die Wiedervereinigung zu verhindern.
"Fall der Mauer historisch nicht so wichtig"
Heinemann: Gab es in Paris Befürchtungen?
Védrine: In Paris gab es nicht mehr Befürchtungen als in einem Teil der deutschen Öffentlichkeit oder bei den Briten, etwa bei Frau Thatcher, selbst bei den Amerikanern. Kein Verbündeter Deutschlands hat gesagt, wir applaudieren einfach nur und tun nichts weiter. Das war wie eine komplizierte Operation, die riskant hätte werden können. In Europa hat man sehr lange gedacht, dass es keine Wiedervereinigung geben werde, außer im Fall eines Krieges mit der UdSSR. Das war nicht einfach. Während des Verhandlungsprozesses, der damals 4 plus 2 genannt wurde, oder 2 plus 4, wie die Deutschen es lieber bezeichneten, wurde sehr gründlich gearbeitet. Und man muss feststellen, dass der Vereinigungsvertrag niemals infrage gestellt wurde.
Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Moskau, v.l.n.r.: James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnadze (UdSSR), Roland Dumas (Frankreich), Lothar de Maizière (DDR), Hans-Dietrich Genscher (BRD)
Zwei-plus-Vier-Vertrag vor 30 Jahren - Ein Friedensvertrag, der keiner war
Am 12. September 1990 unterzeichnen die BRD, die DDR, die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion ein Abkommen, das die Einheit bringt und die Nachkriegszeit beendet – so die deutsche Lesart des Zwei-plus-Vier-Vertrags.
Heinemann: Löste der Fall der Mauer 1989 in der französischen Führung einen Schock aus?
Védrine: Für niemanden in Führungspositionen war das ein Schock. Das mag erstaunlich sein, da es auf der Gefühlsebene ein so gewaltiges Ereignis war. Schon einige Monate zuvor konnten Ostdeutsche Ostdeutschland verlassen. Über Ungarn und andere Grenzen. Es gab Fernsehreportagen darüber, dass der Eiserne Vorhang zerstört war. Jeder wusste, dass das kommen würde. Ausgangpunkt war die Schwächung der UdSSR, Johannes Paul II., Walesa, alles, was in diesen Jahren passiert war. Gorbatschow, der ab 1986 gesagt hatte, dass er niemals Gewalt anwenden würde, um kommunistische Regime in Osteuropa an der Macht zu halten. Es war also ein Prozess. Aber natürlich gab es auch einen Überraschungseffekt, die Menschen sorgten für eine Beschleunigung. Die damalige Regierung in Berlin Ost wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Es gab eine sehr erstaunliche, fast romantische Verkettung von Ereignissen. Aber das war weder der Beginn des Prozesses noch sein Ende. Den Abschluss bildete das Ende der UdSSR im Dezember 1991. Das ist das wirkliche Ende des Kalten Krieges. Der Fall der Mauer war spektakulär, bewegend, einmalig für die Menschen in Berlin. Historisch aber nicht so wichtig, wie häufig behauptet wird.
"Mitterrands Reise zu Krenz war seit langem geplant"
Heinemann: Wieso ist Präsident François Mitterrand wenige Wochen nach dem Fall der Mauer nach Berlin Ost gereist, um Egon Krenz, den starken Mann des Regimes, zu treffen?
Védrine: Er hat dasselbe getan wie US-Außenminister James Baker, den Präsident George Bush geschickt hatte, um das gleiche zu tun, dieselben Leute wie Mitterrand zu treffen und das gleiche zu sagen. Ich möchte daran erinnern, dass Bundeskanzler Kohl Ende November in seinem Zehn-Punkte-Plan einen langfristigen Übergang plante. Deutschlands Verbündete, allen voran die Vereinigten Staaten und Frankreich, haben den Kanzler bei diesem Prozess begleitet. Erst im Januar 1990 hat sich die Entwicklung beschleunigt. François Mitterrand hielt sich in Ostdeutschland auf. Und das war seit einem Jahr so geplant. Er hat darüber übrigens häufig mit Helmut Kohl gesprochen. Das war keine spezielle Reise nach Berlin Ost wegen der Wiedervereinigung. Es war eine allgemeine Tour durch alle Länder Osteuropas. Wir haben allerdings die Schlacht um die Darstellung in den Medien verloren. Was über diese Reise gesagt wurde, ist vollständig absurd.
Das Interview mit Hubert Védrin in der französischen Originalversion hören Sie hier [AUDIO] .
Heinemann: Auch in Bonn glaubten einige, es handele sich um den Versuch, das Regime zu stabilisieren.
Védrine: Ich weiß nicht, wer das gedacht haben könnte. Auf jeden Fall weder Helmut Kohl, noch sein direktes Umfeld.
"Euro war keine französische Erfindung"
Heinemann: War der Euro, die gemeinsame Währung, der Preis, den Deutschland zahlen musste, damit Frankreich die Wiedervereinigung akzeptieren würde?
Védrine: Frankreich hatte keine Argumente, um diese zurückzuweisen. Warum hätte das Land das zurückweisen sollen, was Mitterrand zehn Jahre zuvor gesagt hatte? Die Europäer hatten lange zuvor viel über eine mögliche gemeinsame Währung nachgedacht. Das war keine französische Erfindung im letzten Augenblick. Es handelte sich seit Jahren um ein Vorhaben aller Europäer, darunter der Deutschen. Als sich die Dinge 1989 beschleunigten, diskutierten vor allem Kohl und Mitterrand darüber. Mitterrand sagte: Das ist der Augenblick. Jetzt müssen wir diesen Weg gehen. Helmut Kohl sagte: Ich bin einverstanden, aber die Deutschen hängen sehr an der D-Mark. Mitterrand sagte, das sei normal, die Mark sei ja auch ein großartiger Erfolg. Dennoch: Man arbeite jetzt seit Jahren an der Idee einer Gemeinschaftswährung. Und, Helmut, Sie selbst sagen doch, die Einheit Deutschlands und die von Europa bilden die beiden Seiten der gleichen Medaille. Es stimmt, im November und Dezember 1989 gab es diese Diskussion. Aber das war kein Kräftemessen oder ein Deal.
Heinemann: Keine Bedingung?
Védrine: Es war keine Bedingung im strikten Sinne des Wortes. Bundeskanzler Helmut Kohl selbst war der Meinung, es handele sich um eine zusammenhängende Entwicklung. Sie haben sich dann beim europäischen Rat Anfang Dezember 1989 geeinigt. Helmut Kohl hat gesagt: Wir machen das, wir müssen es tun, es war geplant. Aber gründlich, also auf deutsche Art. Deshalb die Diskussion über die Unabhängigkeit der Zentralbank. Es gibt also eine Verbindung. Aber es war keine Bedingung. Schon gar nicht allein von Frankreich. Vergessen Sie nicht die anderen Europäer.
Heinemannn: Vor einigen Monaten hat Deutschland wegen der Corona-Pandemie die Grenzen zwischen der Region Grand Est und den drei betroffenen Bundesländern geschlossen. Damals wurden Franzosen in Deutschland als "dreckige Franzosen" beschimpft, Deutsche in Frankreich als "Boches". Sind die Dämonen der Vergangenheit noch lebendig?
Védrine: Das ist vollkommen unbedeutend und marginal. Das sind Reaktionen von Gereiztheit zu einem bestimmten Zeitpunkt. Während einer Pandemie, die die unterschiedlichen Länder zu Beginn nicht so gut im Griff hatten. Außer Deutschland, das besser dasteht als andere. Aber man sollte nicht ständig die Erinnerungen an die Vergangenheit zum Vorschein bringen. Wir befinden uns nicht in der Welt der Dreißigerjahre. Der zwanghafte Vergleich mit der Vergangenheit: Sie stellen diese Frage zu Recht, denn viele haben diese Verbindung hergestellt. Ich beantworte diese Frage für mich so: Bei dieser Gegenüberstellung handelt es sich um intellektuelle Faulheit, denn wir leben in einer vollständig anderen Welt.
"Müssen emotionale Phase der deutsch-französischen Beziehungen hinter uns lassen"
Heinemann: Sie befürchten keine Auswirkungen solcher Beleidigungen auf die Zusammenarbeit und das Zusammenleben dies- und jenseits der Grenzen?
Védrine: Natürlich nicht. Das Problem im deutsch-französischen Verhältnis besteht darin, dass man die emotionale und romantische Phase, in der die Vergangenheit aufgearbeitet wurde, hinter sich lassen muss. Erinnern Sie sich an diesen unvergesslichen Augenblick: Helmut Kohl und François Mitterrand Hand in Hand in Verdun. Und danach? Wir werden unser Leben nicht mit Gedenken verbringen und damit, abstrakt über Freundschaft zu sprechen. Wir sind in einer Zeit, in der es das deutsch-französische Paar nicht automatisch gibt. Wenn es kein deutsch-französisches Einvernehmen gibt, funktioniert das europäische System nicht sehr gut. Wenn es sie gibt, funktioniert es besser. Inzwischen beschäftigen uns konkretere Dinge. Das haben wir jüngst gesehen, als Präsident Macron und Frau Merkel einen Teil der Ideen von Frau von der Leyens Aufbauplan aufgegriffen haben. Das hat nicht schlecht geklappt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.