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Ehemaliger türkischer Regierungschef kritisiert Europäische Union

Der ehemalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz hat die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Regierung in Ankara kritisiert. Die Europäische Union sei im Umgang mit der Türkei nicht ehrlich, sagte Yilmaz. Immer wieder gebe es Verzögerungen. Eine privilegierte Partnerschaft wie sie Bundeskanzlerin Merkel vorschlägt lehnte Yilmaz ab. Dies sei ein Status 2. Klasse. In der Debatte um eine mögliche Kandidatur des türkischen Regierungschefs Erdogan für das Präsidentenamt meinte Yilmaz, dies würde die innenpolitische Krise nur verstärken und die Bevölkerung weiter spalten.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: Als Partnerland der Hannover-Messe präsentiert sich die Türkei in diesen Tagen ökonomisch selbstbewusst. Mit dem kräftigen Wachstum der letzten Jahre im Rücken drängt der türkische Ministerpräsident Erdogan auf schnellere Verhandlungen über den EU-Beitritt. In der "Süddeutschen Zeitung" fordert er heute erneut ein festes Zieldatum. Doch die Verhandlungen sind zäh und vor allem, wie Angela Merkel immer wieder betont, ergebnisoffen. In der Türkei selbst konzentriert man sich im Moment auf die Frage, ob Erdogan im Mai Präsident werden will. Mit einer absoluten Parlamentsmehrheit seiner islamisch geprägten Partei stehen ihm alle Wege offen. Hunderttausende sind am Wochenende in der Türkei auf die Straße gegangen, um für die Trennung von Staat und Religion und gegen eine Kandidatur zu protestieren.

    Ich habe darüber vor der Sendung mit Mesut Yilmaz gesprochen, in den 90er Jahren Ministerpräsident der Türkei, und ihn zunächst gefragt, warum der Widerstand gegen Erdogan so groß ist.

    Mesut Yilmaz: Die Angst der Türken vor der Errichtung eines Religionsstaates kann mit der Sensibilität der Deutschen dem Nationalsozialismus gegenüber verglichen werden. Der Laizismus ist ein wesentlicher Grundsatz der türkischen Verfassung, der Ewigkeitscharakter besitzt. Das heißt der Laizismus stellt ein unwiderrufliches Prinzip des türkischen Staates dar und kann nicht abgeändert werden. Am Misstrauen von weiten Teilen der türkischen Bevölkerung ist es zu erkennen, dass man Erdogan und seiner Partei, der Regierungspartei, nicht zutraut, dass der Grundsatz des Laizismus voll verinnerlicht wurde und in aller Konsequenz umgesetzt wird, dies vor allem, wenn die Regierungspartei AKP nicht nur die absolute Parlamentsmehrheit auf sich vereint, sondern auch noch den Posten des Staatspräsidenten kontrolliert.

    Remme: Was würde denn Ihrer Meinung nach eine Präsidentschaft von Erdogan aus Ihrer Sicht bedeuten?

    Yilmaz: Ich befürchte, dass die innenpolitischen Krisensituationen, wie sie in den vergangenen vier Jahren immer wieder zu beobachten waren, unter einer Präsidentschaft Erdogans zu einer fortgesetzten Krise ausarten könnten. Wenn sich die obersten Organe des Staates in einer permanenten Selbstblockade verfangen, würde die Türkei ungeahnten Schaden nehmen.

    Remme: Was meinen Sie genau?

    Yilmaz: Ich meine durch den engen rechtlichen Rahmen, den die Verfassung wie bereits erwähnt vorgibt, sehe ich keine unmittelbare Gefahr für die Trennung von Staat und Religion. Seit einigen Jahren aber erlebt die Türkei eine tief greifende Spaltung der Bevölkerung in zwei unvereinbare Pole: einerseits säkuläre und andererseits religiöse. Wächst diese Auseinandersetzung weiter, würde dies zweifelsohne zu einer Zerreißprobe für die Einheit der Türkei werden und gleichzeitig eine veritable Gefahr für die Demokratie bedeuten.

    Remme: Herr Yilmaz, wie bewerten Sie denn die bisherigen Verdienste von Ministerpräsident Erdogan?

    Yilmaz: Erdogan ist es gelungen, alle Reformen, die schon seine Vorgängerregierung begonnen hat, als seinen persönlichen Erfolg zu verkaufen: vor allem in der EU-Politik, aber auch in der Wirtschaftspolitik. Außerdem ist die große Parlamentsmehrheit, die Erdogan kontrolliert, dem überholten türkischen Wahlrecht geschuldet. Mit nur einem Drittel der Stimmen vereint die AKP weit über 60 Prozent der Parlamentssitze auf sich. Der Rückhalt in der Bevölkerung ist deshalb bei weitem nicht so groß wie dauernd kommuniziert.

    Remme: Sehen Sie denn die Trennung von Staat und Religion in der Türkei auf Dauer in Gefahr?

    Yilmaz: Ich sehe das nicht in Gefahr, aber ich sehe die Dauer der Demokratie in Gefahr.

    Remme: Herr Yilmaz, wir haben in den vergangenen Wochen beobachtet: Der Widerstand gegen Erdogan wird auch vom Militär getragen. Ist das Militär in diesem Falle eher eine Stütze der demokratischen Entwicklung oder eine Gefährdung?

    Yilmaz: Rein rechtlich gesehen ist das Spektrum des Militärs relativ eingeschränkt und wird vom Ausland regelmäßig überbewertet. Der nationale Sicherheitsrat, dessen Mitglieder auch einige Militärs umfasst, hat rein beratenden Charakter. Außerdem muss betont werden, dass die Militärs auch in diesem Gremium in der Minderheit sind. Das Militär kann weder in die täglichen Regierungsgeschäfte eingreifen, noch in die Entscheidungen der zivilen Gerichte. Die Macht des Militärs liegt in der medialen Präsenz. Jedenfalls aber sieht sich das Militär streng dem Laizismus verpflichtet, also der Trennung von Staat und Moschee, aber die gesetzliche Regelung, wonach dieser auch mit militärischen Mitteln verteidigt werden müsste, gibt es nicht.

    Remme: Sie haben gesagt, rein rechtlich gesehen ist das so. Heißt das, dass praktisch der Einfluss des Militärs größer ist?

    Yilmaz: Ja, das ist ein offenes Geheimnis.

    Remme: Herr Yilmaz, Erdogan hat die deutsche EU-Präsidentschaft mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen in den vergangenen drei Monaten kritisiert. Hat er Recht?

    Yilmaz: Ja, er hat Recht. Aber der Fehler ist schon viel früher passiert und damals hat Erdogan noch glücklich mit den EU-Vertretern in die Kameras der Pressefotographen gelacht. Als nämlich festgelegt wurde, dass der Abschluss eines jeden der über 30 Verhandlungskapitel von allen EU-Regierungschefs einstimmig bestätigt werden muss, hätte Erdogan diese Bedingung nicht akzeptieren dürfen. Genau dasselbe gilt für das Zypern-Problem, das nur verschoben und nicht gelöst wurde. Genau diese Themen sind es, die die Verhandlungen mit der Türkei jetzt derart verzögern.

    Remme: Und das sind Themen, die reichen ja zurück bis in die Zeit, als Sie in der aktiven Regierungspolitik waren. Mangelt es der EU immer noch an Ehrlichkeit gegenüber der Türkei?

    Yilmaz: Das geben auch die EU-Vertreter selbst zu.

    Remme: Herr Yilmaz, als CDU-Vorsitzende, nicht als Bundeskanzlerin, aber als Parteichefin, da tritt Angela Merkel für eine privilegierte Partnerschaft der Türkei an. Ist das für Sie eine mögliche Alternative zum Beitritt?

    Yilmaz: Nein, ganz und gar nicht. Ich war damals Ministerpräsident, als wir die von der Kohl-Regierung angebotene privilegierte Partnerschaft offiziell abgelehnt hatten. Das ist keine neue Idee und wird von der Türkei als ein Status der zweiten Klasse angenommen. Alles was uns die EU dabei geben kann haben wir schon. Seit 1996 sind wir Mitglied der Zollunion. Noch viel weitgehendere Versprechen wurden uns schon 1963 im Abkommen von Ankara gegeben. Sie wurden aber nie eingehalten. Meine Kritik an der Zollunion bezieht sich auf die Entscheidungsfindung der EU in diesem Bereich. Alle Übereinkommen, die die 27 Mitgliedsstaaten treffen müssen, müssen von der Türkei mitgetragen und umgesetzt werden. Mitsprache hat die Türkei aber keine. Eine privilegierte Partnerschaft heißt also genau das: du trägst die Kosten, über die Vorteile bestimmen aber die anderen.

    Remme: Herr Yilmaz, was kann die Türkei der EU geben?

    Yilmaz: Wenn die EU künftig ein globaler Player sein möchte, dann muss sie die Türkei unbedingt aufnehmen. Ohne die Türkei kann die EU keine Nahost-Politik und keine Sicherheitspolitik verfolgen. Die Türkei kann aus der EU aus dem politischen Zwerg eine globale Macht schaffen. Ich glaube der Beitritt der Türkei in die EU wird für beide Seiten von Vorteil sein.

    Remme: Letzte Frage, Herr Yilmaz. Was geschieht, wenn die Verhandlungen scheitern?

    Yilmaz: Das kann man heute nicht voraussehen. Das bedeutet für die Türkei natürlich eine Katastrophe, aber das wird auch katastrophale Folgen für die EU haben.

    Remme: Mesut Yilmaz war das, der frühere Ministerpräsident der Türkei.