Dienstag, 19. März 2024

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Ehemaliger Übersetzer der US-Armee
Sondervisum ist Frage von Leben und Tod

"No one left behind" - keinen zurücklassen, das gilt für jeden US-Soldaten. Das müsse auch für die Übersetzer gelten, die täglich ihr Leben für die US-Einheiten in Afghanistan riskiert hätten, fordert ein Netzwerk. Tatsächlich kommt aber schon jetzt für die Hälfte der früheren Armeeübersetzer jede Hilfe zu spät.

Von Doris Simon | 27.07.2021
US-Soldaten in der Provinz Helmand
Viele US-Veteranen würden angesichts der Nachrichten aus Afghanistan von Schuldgefühlen geplagt. (dpa/AP/U.S. Marine Corps)
"Die Afghanen sind unsere längsten Kriegsverbündeten überhaupt, es ist Amerikas längster Krieg. Sie dienten mit uns Schulter an Schulterm über 20 Jahre lang. Und wir haben die Basis in Bagram verlassen und die Lichter ausgeschaltet, ohne es zu sagen. Schande über uns, Schande über uns."
Matt Zeller war Army Captain in der US-Armee, zweimal in Afghanistan. Vor 13 Jahren überlebte Zeller ein Gefecht mit den Taliban nur dank seines afghanischen Übersetzers Janis Shinwari. Zusammen mit seinem früheren Übersetzer Shinwari hat Zeller "No one left behind" gegründet, Niemanden zurücklassen, eine gemeinnützige Organisation, die in den vergangenen Jahren Tausende von afghanischen Ortskräften in die USA geholt und ihnen geholfen hat, hier ein neues Leben zu beginnen.
"Sie wurden beschossen. Sie wurden in die Luft gejagt. Sie wurden verletzt. Sie wurden getötet. Als unsere Partner. Sie haben alle typischen Kriegsverletzungen, von fehlenden Gliedmaßen über posttraumatische Belastungsstörungen und Lungenverletzungen bis hin zu Schädel-Hirn-Traumata. Was sie nicht haben, sind die Möglichkeiten, die ich als Amerikaner habe, weil sie am falschen Ort geboren wurden."

Rund 18.000 Übersezter akut gefährdet

In Afghanistan sind rund 18.000 Übersetzer der US-Armee und ihre Familienangehörigen akut gefährdet. Doch die US-Behörden haben in diesem Jahr nur 2.500 Sondervisa genehmigt. Der hochbürokratische Visumsprozess umfasst 14 Schritte, dauert Jahre und endet oft in einer Ablehnung, weil irgendein Papier fehlt. Das Sondervisum ist für Amerikas loyale Ortskräfte eine Frage von Leben und Tod in diesen Tagen. In seinem Podcast Wartime Allies sprach Matt Zeller vor Kurzem mit einem afghanischen Übersetzer, dessen Bruder, Mutter und zuletzt Vater von den Taliban ermordet wurden.
Wer ihm diesen Verlust ersetze, fragte der Mann, der sich jetzt in einem Ziegenstall verstecken muss. Viele Jahre habe er für die US-Armee gearbeitet, und jetzt werde er einfach zurückgelassen? Er habe Angst, dass auch seine Kinder getötet würden.
Danach brach die Verbindung mit dem früheren Übersetzer mitten im Gespräch ab, Matt Zeller hat den Mann nicht wieder erreicht. Gruppen wie "No one left behind" sind Teil einer breiten Koalition von Kirchen, Veteranenverbänden, Menschenrechtsorganisationen in den USA, die alle dafür kämpfen, afghanische Ortskräfte und Familien in die USA zu holen. Sie haben dem Kongress und der Regierung schon vor Monaten vorgeschlagen, die Afghanen nach Guam zu evakuieren.
Ein gepanzertes Fahrzeug mit aufgedruckter Deutschlandfahne fährt durch staubige Landschaft
Bundeswehreinsatz in Afghanistan
Nach fast 20 Jahren ist der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan beendet. Ziel war es, die Region nach Bürgerkrieg und den Anschlägen vom 11. September 2001 von den Taliban zu befreien. Die NATO-Mission, an der sich Deutschland beteiligte, läuft aus.

Das US-Gebiet im Pazifik liegt nur eine Flugzeugtankfüllung von Kabul entfernt und nahm bereits in der Vergangenheit frühere US-Verbündete auf: 1975 kamen 130.000 Südvietnamesen, 1996 blieben kurdische Kämpfer aus dem Nordirak einige Monate auf Guam, bis ihre Einreise in die USA geklärt war. Guam sei auch diesmal dazu bereit, sagt Matt Zeller, und auch sonst sei die Rettung von 75.000 Afghanen keine unmögliche Aufgabe.
"Wir haben die Zeit, das Personal, die Ausrüstung, die Ressourcen, den politischen Willen. Wir können die Menschen retten. Aber in der Regierung fehlen anscheinend Mut und Überzeugung, um das Richtige zu tun."

USA evakuieren Afghanen nur mit Spezialvisa

Die US-Regierung will nur Afghanen, die Spezialvisa erhalten haben, direkt in die Vereinigten Staaten evakuieren. Wer einen bearbeiteten Antrag hat, bei dem noch Unterlagen fehlen, soll in einen Drittstaat ausgeflogen werden, wie Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Tadschikistan oder Usbekistan.
Veteranenverbände fürchten, dass viele dort jahrelang unter schlimmen Umständen in Lagern leben müssten. Alle, deren Spezialvisasanträge wegen der langen Covid-Schließung der US-Botschaft in Kabul nicht bearbeitet wurden, werden erst mal nicht evakuiert.

Angst davor, Terroristen ins Land zu holen

Dahinter stecke die Angst, die USA könnten sich Terroristen ins Land holen, sagt Steve Miska, früher Bataillionskommandeur im Irak und unter Präsident Obama Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates. Dabei seien die afghanischen Ortskräfte extrem überprüft, die Dienste hätten sie während ihrer Beschäftigung alle sechs Monate genauestens unter die Lupe genommen.
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Enttäuschte Hoffnungen
Afghaninnen und Afghanen, die für die Bundewehr gearbeitet haben, sind nach dem Truppenabzug in Sorge, nun zur Zielscheibe der Taliban zu werden. Die Bundesregierung gewährt ihnen ein Visum nach Deutschland. Aber die bürokratischen Hürden sind hoch.

Der langjährige Militär ist ein anerkannter Experte zur Bedeutung von soft networks, der Bedeutung loyaler Einheimischer für Armeen. Miska hat gerade ein Buch veröffentlicht über seine Bemühungen, vom Tod bedrohte irakische Partner in die USA zu bringen. Neben der moralischen Verpflichtung hält Miska die Fürsorge für die loyalen Unterstützer auch aus Eigeninteresse für geboten: Überall auf der Welt seien US-Soldaten, das FBI und die Geheimdienste jetzt und in Zukunft auf Unterstützung durch Ortskräfte angewiesen.
"Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt eine Bombe hochgeht, haben die USA innerhalb von Stunden FBI-Agenten am Tatort, um besser zu verstehen, was passiert, um die USA zu schützen. Welcher Informant wird hier lebenswichtige Informationen weitergeben, wenn er nicht sicher ist, ob die USA in der Lage sein werden, ihn zu schützen?"

Veteranen plagen Schuldgefühle

Traumatisch sei die aktuelle Situation auch für US-Veteranen, berichtet der frühere Bataillionskommandeur Miska: Viele würden angesichts der Nachrichten aus Afghanistan von Schuldgefühlen geplagt.
Tatsächlich kommt in Afghanistan schon jetzt für die Hälfte der früheren Armeeübersetzer jede Hilfe zu spät. Wer nicht im Großraum Kabul lebt, hat wegen des Vormarsches der Taliban und der Räumung der US-Stützpunkte im Land praktisch kaum mehr Chance, herauszukommen. Viele Kontakte mit Übersetzern, die Matt Zeller um Hilfe gebeten hatten, sind in den letzten Wochen abgebrochen. Was bald geschehe werde, könne jeder auf der Welt live verfolgen, sagt der Afghanistan-Veteran voraus: Die Taliban würden ihre Morde an den US-Übersetzern in Videos über die sozialen Netzwerke verbreiten. Dieses Vermächtnis, so Zeller, werde nie vergehen.