Wiese: Nun sind Bundestagsabgeordnete laut Grundgesetz einzig und allein ihrem Gewissen verpflichtet und nicht irgendeiner Parteiräson, aber wenn man die Reaktionen etwa von SPD-Fraktionschef Franz Müntefering sich anschaut – "kleinkarierte Feiglinge", nannte er die Abweichler -, dann könnte man glauben, er wolle das imperative Mandat und den demokratischen Zentralismus längst vergangener Zeiten wieder einführen.
Falter: Ja, solche Versuche gibt es immer mal wieder. So klar, so deutlich ist es mir nicht in Erinnerung gewesen. Das grenzte ja schon an öffentliches Mobbing, was hier stattgefunden hat. Wenn man sich Artikel 38 des Grundgesetzes anschaut, dann haben wir ganz klar das sogenannte freie Mandat, da ist der Abgeordnete nur seinem Gewissen und dem Volk insgesamt gegenüber verantwortlich, nicht seinem Wahlkreis, nicht seiner Partei, nicht seiner Fraktion.
Wiese: Auch nicht seinem Kanzler.
Falter: Nicht seinem Kanzler, aber wir haben natürlich ein von Parteien getragenes Fraktionenparlament, und Regieren kann nur auf Dauer klappen, wenn die Fraktion insgesamt dann doch im Allgemeinen hinter der Regierung steht, sonst hätten wir eine fröhliche Anarchie und die totale Unplanbarkeit des Regierens, der Gesetzgebung. Also das ist ein bisschen ein Spannungsverhältnis und Fraktionsdisziplin hat es immer schon gegeben, auch Disziplinierungsversuche. Fraktionszwang in dieser Form darf es nicht geben. Das wäre grundgesetzwidrig.
Wiese: Wo fangen also Ihrer Meinung nach Gewissensentscheidungen an beziehungsweise wo hört die Parteidisziplin auf? Kritiker und Abweichler fiel als Gewissenentscheidung immer nur in diesem Zusammenhang jetzt die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden ein.
Falter: Bei der Todesstrafe war es so – das liegt schon lange zurück, aber das war mal heftig umstritten im Deutschen Bundestag. Es liegt bei den Indikationslösungen, bei der Abtreibung ist dies der Fall gewesen, dass wirklich schwerwiegende Fragen, ethische Fragen eigentlich immer als frei von Fraktionszwang und Disziplin galten. Man hat das bisher so gehandhabt, dass man gesagt hat, eher operative Fragen, eher Kleinigkeiten, ob der Steuersatz um ein halbes Prozent hoch- oder runtergesetzt wird, fällt eigentlich nicht in den Gewissensbereich. Nur haben wir ein Problem: Gewissen ist das Ureigenste, was ein Mensch hat. Das kann er nur selbst entscheiden, was innerhalb seines Gewissens fällt, was gegen sein Gewissen verstößt. Das kann keine Fraktionsführung, keine öffentliche Meinung. Insofern ist die Sache eigentlich klar. Es liegt am einzelnen Abgeordneten.
Wiese: Ist es eine operative Frage, wie sie gerade sagten, ob man Ja oder Nein zu einem massiven Sozialabbau sagt, wie er jetzt geplant ist? Ist das nicht auch eine Gewissensentscheidung?
Falter: Ja, das kann durchaus eine Gewissensentscheidung sein. Mit operativ meine ich das Drehen an den Stellschrauben, wenn es darum geht, dort ein wenig abzumildern, an der anderen Stelle vielleicht die direkte Verwandtschaft aus der Verpflichtung herauszunehmen, bei Arbeitslosigkeit einzuspringen. Das ist sicherlich in der Qualität – da sind sich die meisten Leute einig – nicht zu vergleichen, nicht gleichzusetzen mit solchen Dinge wie der Frage des Paragraphen 218 oder eines Kriegseinsatzes.
Wiese: Noch einmal zu den Rücktrittsdrohungen des Kanzlers. Wie beurteilen Sie diese Methode der Politik, wenn er immer sagt, er tritt zurück, wenn nicht alle nach seiner Pfeife tanzen? Ist das als Ausweis politischer Souveränität nicht gerade eine Schwächeerklärung?
Falter: Ja, eigentlich genauso wie die ständige Bemühung der Richtlinienkompetenz, was ja Schröder in der ersten seiner Legislaturperioden zwischen 1998 und 2002 sehr häufig getan hat, auch bei Dingen, wo man sagen würde, das hat absolut nichts mit Richtlinienkompetenz zu tun, sondern da regiert er hinein dann in die einzelnen Ressorts. Es könnte ausgelegt werden als ein Zeichen von Schwäche, aber wenn es so oft Erfolg hat, wie es bei ihm Erfolg hatte, dann bestätigt es ihn selbst – das ist eine reine pädagogisch-psychologische Angelegenheit -, dass er damit Erfolg hatte. Also wird er es wieder anwenden, wenn die ähnliche Situation kommt. Andererseits gewinnt man den Eindruck, OK, es ist alles knapp, aber indem er alles aufs Spiel setzt, setzt er sich letzten Endes durch, und auf diese Weise macht er vielleicht sogar längerfristig Punkte bei der Bevölkerung.
Wiese: Ist das nicht gerade umgekehrt? Nutzt sich solch ein taktisches Machtmittel nicht durch zu häufigen Gebrauch ab? Die Leute sagen doch mittlerweile, wenn er so häufig droht, soll er es doch eigentlich mal tun.
Falter: Ja, die Leute sagen das vielleicht, aber nicht die Leute seiner Fraktion, und das möchte er in diesem Falle, wobei das noch gar nicht das schwierigste Mittel war. Sein letztes Mittel ist natürlich die Vertrauensfrage, die ja dann ein formelles Mittel ist. Eine Rücktrittsdrohung, die steht im Raum, ob sie dann wahrgemacht wird oder nicht, das weiß man nicht. Bei der Vertrauensfrage ist es klar: Kriegt er seine Mehrheit nicht, dann hat er wirklich die Möglichkeit, den Bundespräsidenten zu bitten, den Bundestag aufzulösen, Neuwahlen auszuschreiben. Ich mache einmal die vorsichtige Voraussage, wenn es nicht klappen sollte mit den Kanzlermehrheiten jetzt im Verlauf der Reformgesetze, wird ihm nichts anderes übrigbleiben als vielleicht doch noch einmal zur Vertrauensfrage zu greifen, und dann stellt sich die Gretchenfrage für die Abgeordneten. Vorher war es zunächst einmal ein psychologisches Druckmittel.
Wiese: Aber dann regiert der Kanzler eigentlich mehr für die Fraktion als für das Volk, und damit wären wir eigentlich schon wieder beim Anfang unseres Gesprächs.
Falter: Wäre ich Herr Schröder, würde ich Ihnen heftig widersprechen. Er regiert ganz sicher in seinen Augen auch für das Volk, indem er dringend notwendige Reformmaßnahmen, die leider auch ein gewisses Quantum an Sozialabbau enthalten, einleitet, versucht durchzuführen, es durchzuhalten, weil Deutschland nun mal angesichts der sich ändernden weltwirtschaftlichen Lage von Globalisierung, aber vor allen Dingen der demographischen Änderungen unseres Volkes, der Überalterung unseres Volkes dringend solche Reformen braucht, sonst fallen wir irgendwann einmal allmählich ab auf den Status eines Drittweltlandes.
Wiese: Vielen Dank für das Gespräch.