Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Ein Archiv für Sprachen

Jeder zweite Mensch auf der Erde verständigt sich in dominanten Sprachen wie Chinesisch und Englisch. Dafür sind andere Sprachen akut vom Aussterben bedroht. Eine Initiative hält sie in einem Archiv fest.

Von Alexander Budde | 13.06.2013
    Jeder zweite Mensch auf unserer Erde verständigt sich heute in einer von nur 20 dominanten Sprachen wie etwa Chinesisch, Englisch und Spanisch. Drei Viertel aller übrigen bekannten Sprachen haben dagegen derart geringe Sprecherzahlen, dass diese in der Summe gerade einmal ein Prozent der Menschheit ausmachen. Viele dieser meist schriftlosen Kleinsprachen sind akut bedroht, für alle Zeiten zu verstummen. Die Förderinitiative Dokumentation bedrohter Sprachen, kurz DoBeS genannt, hat die beteiligten Wissenschaftler zu Feldeinsätzen auf entlegene Pazifikinseln, in die Eiswüste der Arktis und in die Regenwälder des Amazonas geführt.

    Diese Schauplätze könnten unterschiedlicher kaum sein, doch die Gründe für den rapiden Niedergang der sprachlichen Vielfalt seien fast überall dieselben, sagt Nikolaus Himmelmann von der Universität zu Köln. Der Vorsitzende der Gesellschaft für bedrohte Sprachen ist einer der Initiatoren und treibende Kraft hinter dem Forschungsprogramm.

    "Sprachen sind bedroht, Sprachen verschwinden, wenn Eltern mit ihren Kindern nicht mehr die Muttersprache erwerben. Das ist eine Entscheidung der Elterngeneration. Es ist nicht der Wunsch der Jugend, die Sprache nicht zu erwerben. Sondern es sind Eltern, die die Entscheidung treffen, mit ihren Kindern nicht in der Muttersprache zu kommunizieren. Im Prinzip kann man sagen, es hat was damit zu tun, dass die Eltern die Einschätzung machen, dass es für die Kinder besser ist, in einer anderen Sprache aufzuwachsen als die Muttersprache, weil diese andere Sprache zum Beispiel im Erziehungssystem eine Rolle spielt, weil es die dominante Nachbarsprache oder die Nationalsprache ist."

    Wie Musik und Tanz zählt die Sprache zu den immateriellen Kulturgütern. Solange die sprachliche Vielfalt einer breiteren Öffentlichkeit nicht einmal als schützenswertes Allgemeingut ins Bewusstsein gekommen ist, verhallen die Kassandrarufe der Linguisten und Ethnologen ungehört. In der Niederlausitz ist Hauke Bartels bemüht, die niedersorbische Sprache in die Zukunft hinüberzuretten. Und damit auch Märchen, Bräuche, überliefertes Wissen, letztlich die Geschichte der weit in den deutschen Sprachraum hineinreichenden slawischen Besiedlung.

    "Da sind die letzten Familien in den 1950er-Jahren dazu übergangen, vom Niedersorbischen als Haus- und Muttersprache zum Deutschen. Und das ist der Grund dafür, dass heute das Niedersorbische extrem bedroht ist. Sozioökonomische Faktoren spielen dann auch wieder eine Rolle, wenn man versucht, Sprachen zu revitalisieren. Weil dann ist natürlich das Lernen einer Sprache eine ganz andere Sache. Man lernt sie nicht mehr nebenbei, zwanglos, sondern dann muss man wirklich Energie aufwenden, Zeit aufwenden. Man muss Grammatik lernen, man muss Vokabeln lernen. Und dann braucht man Motivation."

    Auf der Tagung erzählt Ulrike Mosel von ihren Feldeinsätzen. Die Linguistin aus Kiel war mit einer Bugwelle der Begeisterung in die Südsee gereist, wo sie das ozeanische Teop erforscht. Den in der Zunft noch weit verbreiteten Zettelkasten habe sie fortgeworfen, erzählt Mosel zur Erheiterung des Publikums. Nicht die umfassende lexikalische Edition steht im Fokus ihres wissenschaftlichen Interesses. Sie nimmt Alltagsgespräche, Mythen, Zeremonien mit dem Tonband auf. Entstanden ist ein Wörterbuch für den Schulunterricht, das Beschreibungen zu Fischfang und Bootsbau enthält.

    "”Grob verallgemeinernd kann man sagen, dass vor allem ein junger Forscher, der jetzt seine Doktorarbeit schreiben muss, in so einem Dokumentationsprojekt erst einmal Daten sammeln möchte für seine persönlichen linguistischen Interessen. Zu Satzkonstruktionen oder zum Lautsystem. Das sind Dinge, die die Sprachgemeinschaft selber nicht so interessiert. Denn die Sprachgemeinschaft ist in der Regel daran interessiert, jetzt zum Beispiel ein Wörterbuch zu haben oder Schulbücher zu haben. Eine Märchensammlung, Lesematerial zu haben. Von dem ein naiver Linguist glaubt, das ist sozusagen eigentlich wertlos für die Forschung.""

    Die sprachlichen Talente sind auch in Papua-Neuguinea ungleich verteilt. Der eine ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, die andere kann wunderbar die Bedeutung von Wörtern explizieren.

    "”Und dann versuche ich herauszufühlen, welche Talente haben sie. Einer zum Beispiel hat eine viel ältere Mutter, die sehr viele Märchen kennt. Und dann kann ich ihm zeigen, wie man das Tonaufnahmegerät benutzt und wie er seine Mutter interviewt und die Tonaufnahmen macht. Der Mann kann aber vielleicht jetzt gar nicht gut schrieben. Das heißt, er kann keine Transkription machen. Dann gibt es aber seine Tochter, die auf die Highschool geht, an ein Internat, und die kann schreiben. Dann gibt es Lehrer, die sind daran interessiert, mitzuarbeiten. Und die haben natürlich Orthografieregeln im Kopf.""

    Sprachen sind komplexe Systeme, die nicht nur auf Zeichen beruhen, sondern auch auf anderen Ebenen funktionieren, zum Beispiel der Sprachmelodie. Forscher wie Nicholas Evans von der Universität Canberra lauschen daher auch dem Liedgut einer australischen Südseesprache. Die Transkription von Liebesliedern habe geholfen, komplizierte grammatikalische Rätsel zu knacken.

    "In Iwaidja gibt es diese Richtungspräfixe: hin und her. Aber es gibt Kombinationen. Zum Beispiel: 'ich und du', wo es sehr schwierig ist, einen normalen Gebrauch zu finden, um diese Kombinationen zu illustrieren. Dann kamen diese Liebeslieder, die ganz voll sind mit diesen Richtungspräfixen, weil sie über Emotionen von Trennung von Wiederzusammensein berichten. Und am Ende haben wir fast das ganze Paradigma ausgefüllt, mit Kombinationen, die nur in diesen Liebesliedern waren."

    Digitale Audiorekorder und Videokameras hätten nicht weniger als einen Paradigmenwechsel für die Sprachforschung gebracht, sagt Nikolaus Himmelmann.

    "Wir haben jetzt durch die technologische Entwicklung erstmals die Möglichkeit, uns mit der Lautsprache in ihrem eigentlichen Zusammenhang zu beschäftigen. Beim Video sehen sie tatsächlich das lebendige Interagieren, wozu eben auch Gestik und Mimik gehören."

    Ihre Materialsammlung speisen die Forscher in das sogenannte "Language Archive" am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen ein. Über die Jahre ist so eine gigantische virtuelle Forschungsbibliothek entstanden. Ulrike Mosel ist überzeugt, dass die Forscher in Zukunft aus ihren Korpora Erkenntnisse über sprachliche Phänomene gewinnen werden, die sie noch nicht einmal ahnen können. Die technische Pionierarbeit sei womöglich der wertvollste Beitrag der DobeS-Inbitiative gewesen, meint auch Nicholas Evans. Was bleibt, sei aber auch das weltweite Netzwerk von Sprachwissenschaftlern, Musikologen, Ethnobiologen und Anthropologen, das in den letzten Jahren entstanden ist.

    "Über 15 Jahre hat DoBeS eine weltweite wissenschaftliche Gesellschaft gebildet. Und jährlich hat es diese Workshops gegeben in Nimwegen, wo man voneinander lernt. Und fast jedes Jahr gibt es eine neue Entwicklung. Und das finde ich sehr toll."