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"Ein Ausdruck lebendiger innerparteilicher Demokratie"

Grünen-Parteichefin Claudia Roth musste bei der Urwahl eine deutliche Niederlage einstecken. Ob daraus ein echter Karriereknick folge, werde sich weisen. Spannender sei, ob es ihr gelingen werde, den Parteivorsitz zu verteidigen, sagt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann.

Everhard Holtmann im Gespräch mit Dirk Müller | 10.11.2012
    Dirk Müller: Vier standen zur engeren Auswahl, vier, die sich ernsthafte Chancen ausrechnen konnten, die Urabstimmung ihrer Partei für sich zu entscheiden: Claudia Roth und Renate Künast, Katrin Göring-Eckhardt und Jürgen Trittin – ein parteiinterner Machtkampf darüber, wer die Grünen in den Bundestagswahlkampf führt. Mit Katrin Göring-Eckhardt und Jürgen Trittin haben die Grünen zwei neue Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl im kommenden Jahr im Herbst 2013. Darüber sprechen wollen wir nun mit Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag!

    Everhard Holtmann: Guten Tag, Herr Müller!

    Müller: Herr Holtmann, wissen Sie, was das Ganze überhaupt soll?

    Holtmann: Nun, ich denke, es ist in der Tat ein Ausdruck lebendiger innerparteilicher Demokratie. Die 62 Prozent derer, die sich beteiligt haben, das ist durchaus ansehnlich, und wie durch eine unsichtbare Hand fast gesteuert, hat das Votum der Vielen ja doch bewirkt, dass im Ergebnis zwei Parameter grüner innerparteilicher Ausgewogenheit nach wie vor in Geltung bleiben, nämlich zum einen der Geschlechterproporz, und zum anderen auch das bereits angesprochene Links-Rechts-Strickmuster, wobei man allerdings sagen muss, dass die Konturen, die inhaltlich besetzten Konturen zwischen sogenannten Realpolitikern, Realos, und sogenannten Fundamentalisten, Fundis, längst verblasst sind. Auch Jürgen Trittin verkörpert ja im Grunde genommen längst in seiner Ansprache und Resonanz auch einen großen Teil der Mitte der Partei.

    Müller: Wir reden ja von Spitzenkandidaten, Herr Holtmann, nicht von Kanzlerkandidaten. Aber braucht eine Partei, die acht, neun, zehn Prozent bekommt, zwei Spitzenkandidaten?

    Holtmann: Das ist Ausdruck des innerparteilichen Selbstverständnisses der Grünen. Im Grunde rückt man damit ja auch wieder von der anderen Praxis wie im Falle Jürgen von Fischer geschehen ab: Man kehrt zurück zu einer Art von Proporz, der gewissermaßen noch zu den selbst erklärten Heiligtümern der Partei zählt, also Strömungen in den Vordergrund zu rücken und im Grunde vorzugeben, wider alle Dynamik moderner Wahlkämpfe, dass die Spitzenkandidaten eigentlich nicht so wichtig sind, sondern wichtiger seien immer noch die damit verknüpften Inhalte. Das ist im Grunde genommen eine Praxis, die eher auf innerparteiliche Befindlichkeiten Rücksicht nimmt, denn auf die Handlungslogik moderner Wahlkämpfe.

    Müller: Also ist das gar nicht so clever mit Blick auf den Wähler?

    Holtmann: Nun, auf der einen Seite – oder man wird schon sagen dürfen, dass das auch im Prinzip auf die kommenden Wahlkämpfe durchaus nicht unvernünftig ist. Denn zum einen kann man ja mit einem solchen Tandem auch die innerparteilichen Strömungen stärker einbinden, aktivieren, mobilisieren. Das ist nicht nur in präsidentiellen Demokratien, wie den USA gerade gesehen, ein wichtiger Faktor des Wahlerfolges, die Mobilisierung auch der eigenen Anhänger, und man kann zum anderen damit möglicherweise auch das Spektrum der Ansprachen nach außen, also Wähler über die eigene Stammwählerklientel hinaus an sich zu ziehen, stärker bedienen.

    Müller: Mindestens eine Frau musste es werden, es konnten also auch zwei Frauen werden. Es gab keine Quote für den Mann – brauchen die Grünen eine Männerquote?

    Holtmann: Das glaube ich nicht, denn wenn man sich die Spitze und auch die zweite und dritte Reihe der grünen Politiker betrachtet, dann ist es ja nicht so, dass wir jetzt hier von einer umgekehrten Prädominanz der weiblichen Parteieliten sprechen können. Ich denke, es tut auch der politischen Kultur der Bundesrepublik, nicht nur der der grünen Partei, gut, wenn wir es auch mal umgekehrt haben. Was sollte daran so schwierig sein?

    Müller: Also das ist völlig in Ordnung?

    Holtmann: Ich halte es für völlig in Ordnung, dass in diesem Fall auch mal das Pendel zur anderen Seite hin ausschlägt, wenn wir uns die politischen und zumal die Wirtschaftseliten dieser Republik insgesamt anschauen, dann besteht, was das aufholende Element der Repräsentanz von Frauen betrifft, durchaus noch entsprechender Nachholbedarf.

    Müller: Reden wir über die Frauen, die sonst noch im Rennen waren, die sich große Hoffnungen gemacht haben, das Rennen auch für sich zu entscheiden: Die Parteichefin Claudia Roth hat das nicht geschafft. Sie ist offenbar mit den 24 Prozent der Stimmen nicht mehr mehrheitsfähig in der Partei. Muss man da Konsequenzen ziehen?

    Holtmann: Es ist zunächst mal sicherlich für beide jetzt ehrenvoll Unterlegenen eine Schlappe. Ob daraus ein echter Karriereknick folgen wird, das wird sich weisen. Auf der einen Seite wird man in Rechnung stellen müssen, sollte es denn, was ja derzeit demoskopisch durchaus kein Selbstläufer ist, zu einer Neuauflage einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene kommen, dann sind ja auch noch über diese jetzt besetzten Ämter hinaus entsprechende Positionen, Spitzenpositionen zu vergeben, Fraktionsvorsitz, Ministerämter und dergleichen mehr, also ich kann mir schon vorstellen, dass beide da auch dann noch mal entsprechend zum Zuge kommen können. Auf der anderen Seite, das wird eine spannende Frage sein, wie, inwieweit es Claudia Roth gelingen wird, den Parteivorsitz, den sie ja nach wie vor auch anstrebt, zu verteidigen – mag sein, dass da so eine Art Wiedergutmachungseffekt dann auch zu ihren Gunsten sich bemerkbar macht.

    Müller: Wir haben das eben in den Deutschlandfunk-Nachrichten auch gemeldet, es gibt die ersten Stimmen, die da sagen, jetzt ist Katrin Göring-Eckhardt eben Spitzenkandidaten, zugleich Vizepräsidentin des Bundestages. Geht das zusammen?

    Holtmann: Ich denke, das geht im Prinzip schon zusammen, denn das Amt des Bundestagspräsidenten ist ja ein in dem Sinne gerade nicht parteipolitisch profiliertes Amt. Es ist ein Amt, was vor allen Dingen – stellvertretendes zumal –, was vor allen Dingen nach innen wirkt, was dazu dient, den Bundestag, das Parlament, mit eben parteiübergreifendem Grundverständnis zu führen und zu steuern. Ich gehe nicht davon aus, dass es hier zu einem echten Interessenkonflikt kommen könnte.

    Müller: Kommen da normalerweise nicht die Politiker, Politikerinnen hin, die es in der eigenen Partei und Fraktion nicht geschafft haben?

    Holtmann: Das war in der Vergangenheit vielleicht bei dem einen oder anderen so in der Außenwahrnehmung der Fall, aber ich denke, damit täte man dem Ansehen, das dem Parlament als einem Verfassungsorgan gebührt, auch gewiss Unrecht. Denn es ist ja auch so, dass das Parlament stärker nach außen wirkt und nach außen wirken muss, und das tut es nicht zuletzt auch durch seine gewählte Spitze, also durch die Repräsentanten, die im Bundestagspräsidium versammelt sind.

    Müller: Professor Everhard Holtmann, wir reden ja auch über die politikwissenschaftliche und demokratiewissenschaftliche Sicht der ganzen Dinge. Wenn eine Bundestagsvizepräsidentin oder Bundestagspräsident zugleich Spitzenkandidat einer Partei ist, haben wir dann einen Parteienstaat?

    Holtmann: Wir haben in jedem Fall ja einen Parteienstaat, und zwar in einem guten und konstruktiven Sinne. Man sollte den Begriff und den Sachverhalt des Parteienstaates keineswegs nur über die ihn ja durchaus auch kennzeichnenden negativen Strukturmerkmale wie zum Beispiel bestimmte Auswirkungen oder Ausuferungen der Patronage definieren. Es ist nun einmal so, dass in einer parlamentarischen Demokratie wie der unseren das Parteienelement ein tragendes Element darstellt, sich des Staates zwar nicht bemächtigt, aber doch auch ausgestattet mit einem Mandat von Mitgliedern und Wählern Schlüsselfunktionen in der staatlichen Politik übernimmt. Und deshalb sage ich dezidiert auch als Politikwissenschaftler, der Parteienstaat charakterisiert das Grundmuster und auch die Praxis unserer parlamentarischen Demokratie. Und ich denke, aus dieser Perspektive muss man auch die Frage einer möglichen Kollision von Spitzenkandidat und Bundestagspräsidium oder Mitgliedschaft zum Bundestagspräsidium ansehen. Ich denke nicht, dass man hier einer Entpolitisierung das Wort reden sollte.

    Müller: So weit würden wir ja gar nicht gehen wollen, auch in der Fragestellung. Aber viele Bürger werden sich ja dann doch vielleicht fragen, das Bundestagspräsidium soll ja etwas neutraler, etwas parteipolitisch zurückgezogener sein. Wenn man zur gleichen Zeit Spitzenkandidat, Kandidatin ist, geht das dann?

    Holtmann: Ich könnte mir vorstellen, dass Frau Göring-Eckhardt hier auch zu einer der Sache oder dem Sachverhalt angemessenen eigenen Regie kommen wird. Sie ist ja vielleicht auch deshalb gewählt worden, weil sie durch ihr habituell unaufgeregtes Auftreten besticht. Und in manchem stellt sie für mich auch – in manchem jedenfalls – so eine Art weibliches protestantisches Pendant zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann da. Also beide stehen ja nicht für eine aufgeregte Politisierung, und ich kann mir vorstellen, dass sie dieses auch in den Wahlkampf mit hineinnehmen wird. Ich sage es noch mal, ich sehe da nicht unbedingt eine ernste Kollision mit der Vizepräsidentschaft des Bundestages. Der Bundestag insgesamt ist ein politisches Organ.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Holtmann: Wiederhören, Herr Müller!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.