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Ein Besuch in der Bibliotheca Hertziana
Vom Salon zur Forschungsstätte

Die Kölner Jüdin Henriette Hertz kaufte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rom einen Palast, veranstaltete dort Soiréen und lud ganz Rom zu Vorträgen ein. Aus ihrem mondänen Salon sollte eine der wichtigsten kunstgeschichtlichen Forschungsbibliotheken werden: die Bibliotheca Hertziana.

Von Maike Albath | 13.01.2020
Ein Passant geht am Palazzo Zuccari vorbei, dessen Eingangstür und Fenster wie Münder von Gesichtern geformt sind.
Die steinerne Fratze als Eingangstor in den Palazzo Zuccari (AFP)
Mitten in Rom oberhalb der Spanischen Treppe steht der Palazzo Zuccari, und ein paar Schritte weiter sperrt eine steinerne Fratze ihr riesiges Maul auf. Dieser Mascherone war im 17. Jahrhundert ein Gartenportal; mittlerweile ist es der Eingang zur Bibliotheca Hertziana, benannt nach ihrer Gründerin Henriette Hertz, einer Kölner Jüdin. Gemeinsam mit ihren Freunden, dem Unternehmerehepaar Mond, war sie reich geworden und hatte 1904 aus Begeisterung für Italien den Palazzo Zuccari erworben. Marieke von Bernstorff, Kunsthistorikerin, Leiterin der Hertziana-Redaktion:
"Für uns heute ist sie eine sehr faszinierende Figur, erst einmal eine total faszinierende Frau, denn in ihrer Zeit hat sie unheimlich viel auf die Beine gestellt, auch mutig in gewisser Weise. Sie war natürlich in diesem Dreiergespann, das ihr auch Rückendeckung gegeben hat. Ich stelle mir das als ein ständiges intellektuelles Geben und Nehmen vor, sich weiterbilden, sich interessieren, gemeinsames Reisen, gemeinsames Kunstkaufen auch."
Henriette Hertz erwarb außerdem eine Fülle von Büchern zur Renaissance, veranstaltete musikalische Soiréen und lud ganz Rom zu Vorträgen ein.
"Sie muss eine hervorragende Gastgeberin gewesen sein. Dieser Salon war sehr erfolgreich, sehr beliebt, und das lag daran, dass sie es verstand, verschiedene Menschen zusammenzuführen. Für uns ist sie eine visionäre Frau. 1912 testamentarisch festzulegen, das soll eine Forschungsstätte sein, die allen Nationen offensteht und eben auch Männern und Frauen die Möglichkeit gibt, über italienische Kunst zu arbeiten, zu forschen, nachzudenken, das ist ziemlich beeindruckend."
Das Schiff Hertziana
Mehr als 300.000 Bände und 800.000 Fotografien umfasst die Bibliotheca Hertziana inzwischen, die zugleich ein Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte ist. Von den Büros aus betreten wir den modernen Bau, der hell und licht wirkt. Es gibt einen gläsernen Innenhof, umgeben von fünf Stockwerken mit offenen Galerien, wo die Leseplätze sind. Die meisten Bücher befinden sich auf der anderen Seite hinter einer Ziegelmauer in Kompaktmagazinen. Die Regale laufen auf Schienen und lassen sich zu einem Würfel zusammenschieben, was enorm viel Platz spart. Schließlich kommen jedes Jahr rund 150 Meter an Büchern hinzu. Der Bibliotheksleiter Golo Maurer führt uns durch das Gebäude:
"Das ist eine Trennung, dort, wo's schön ist, sitzen die Menschen, dort, wo's dunkel ist und auch das Klima konstanter, sitzen die Bücher. Dann gibt es noch zwei Kellergeschosse auch vollgeräumt mit Büchern, und drunter, das Ganze schwebt ja, das Ganze ist ja eine hängende Konstruktion, was eine große Herausforderung für die Architekten und Ingenieure war, drunter ist eine archäologische Grabung, da ist ein Villenkomplex aus der frühen und mittleren Kaiserzeit. Auch typisch Rom, diese Lage, das ganz Alte und das ganz Moderne ist da zusammen, und links und rechts zwei historische Paläste. Vorne der Palazzo Zuccari, als Schiffsspitze, wo die wissenschaftlichen Abteilungen sind und dann am Heck der Palazzo Stroganoff, wo die Bibliotheksverwaltung ist, das ist das Schiff Hertziana, wie man sich das so vorstellen kann."
Nach einem unrühmlichen Intermezzo während des Nationalsozialismus, als jüdische Wissenschaftler emigrieren mussten, der Name der Stifterin getilgt wurde und Forschungsprojekte zu den nordischen Wurzeln italienischer Renaissancekünstler Konjunktur hatten, wurde die Hertziana im Rahmen des Adenauer-De-Gasperi-Abkommens der Bundesrepublik zurückgegeben und 1953 wieder eröffnet. Bevor wir in den Schiffsrumpf hinabsteigen, machen wir einen Abstecher in den Bug zu Tanja Michalsky, die gemeinsam mit Tristan Weddigen die Direktion innehat.
"Mir wäre wichtig festzuhalten, dass Kunstgeschichte bei allem, was vor der Kunst als Kunst liegt, meinen Bereich Mittelalter und frühe Neuzeit angeht, mehr oder weniger alles, was visuelle Artefakte umfasst, miteinschließt. Das bedeutet Architektur, das bedeutet alle möglichen Varianten von Bildproduktion, aus eigenem Interesse würde ich betonen wollen: politische Bilder - die es immer gab und geben wird und die man lesen lernen muss."
Landkarten erschaffen Räume
Zu den Dingen, die hier ebenfalls gesammelt, erforscht und kommentiert werden, gehören Karten, Atlanten, Chroniken und Reisebeschreibungen, erläutert Tanja Michalsky:
"Mir geht es tatsächlich um das Verständnis von historischem Raum, und zwar in verschiedenen Medien. Wir sind alle daran gewöhnt, Karten zu sehen von früheren Zuständen, die muss man sich aber genau daraufhin angucken, wie diese Medien selbst Räume erst erschaffen. Das gilt für Städte, das gilt für ganze Landstriche, das gilt vor allen Dingen für unsere Imagination von diesen Räumen in früheren Zeiten. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass es nicht einfach der euklidische Raum ist, der Containerraum, in dem man sich bewegt oder in dem sich die Leute früher bewegt haben, sondern immer etwas ist, was die Gesellschaft prägt oder von der Gesellschaft geprägt ist. Deshalb ist Urbanistik auch so wahnsinnig spannend. In der Abteilung beschäftigen wir uns mit Karten selbst, mit Karten als erkenntnisgenerierende Medien."
Golo Maurer ergänzt:
"Es gibt eine Sache, das ist die 1493er-Ausgabe, die deutsche Ausgabe der Schedelschen Weltchronik, das ist das einzige Exemplar dieser Edition hier in Italien, das hat noch Henriette Hertz gekauft, ein dickes, schweres Buch. Wir müssen denken, das ist gedruckt worden, als Kolumbus Amerika entdeckt hat, diese Dimensionen hat das, auf herrlichem Papier, das zum Teil aussieht, als ob es gestern gedruckt worden wäre. Das halbe Jahrtausend ist völlig spurlos daran vorüber gegangen, gute Materialität, und das ist ein Buch, das den damaligen Zustand der Welt, wie man ihn wusste, sich vorstellte und sich zurechtlegte, beschreibt in Wort, aber vor allem auch in Bild. Da sind hunderte Holzschnitte drin, das beginnt mit Stammbäumen von Königen, von imaginierten Dynastien bis zu realen Dynastien, aber vor allem auch von Städten, Städten aus der damals bekannten Welt, das alles eingebunden in einen herrlichen Schweinsleder-Einband aus der Zeit mit Schnallen, die man noch richtig schließen kann, das ist so ein bisschen unser Flaggschiff."
Zurück in den Bauch der Bibliothek, zwischen die labyrinthischen Regale. Wir schlagen auch die kostbare Chronik auf. Neapel und Marseille kommen ebenso vor wie der Turmbau zu Babel. Ein paar Gänge weiter haben die Restauratoren ihre Werkstatt.
Hier sieht es aus wie in einem Labor: Unter hellen Lampen begutachten die Mitarbeiter Neuerwerbungen aus dem 17. Jahrhundert. Der Chefrestaurator Lorenzo Civero zeigt uns, wie jedes einzelne Blatt mit einem speziellen Schwamm von Staub befreit wird, der Buchrücken repariert und defekte Seiten mit denselben Fasern geklebt werden. Manchmal frage ein Antiquar, ob sie nicht auch die eine oder andere Zeile ergänzen könnten … Das lehne er natürlich ab, es gehe um Bewahrung, die Materialien altern mit den Büchern.
Ein Reiseführer von 1523
Auf dem Rückweg machen wir Halt bei den Regalen mit den historischen Rom-Führern, von denen die Hertziana eine herausragende Sammlung hat.
"Wir fassen die ohne Handschuhe an", sagt Golo Maurer. "Wenn man saubere Hände hat, ist das völlig problemlos. Mit Handschuhen verliert man so ein bisschen die Taktilität und das Gefühl, und man würde viel eher riskieren, eine Seite einzureißen. Schau, da hinten gibt es meistens in einem Buch so ein Abspann, das sogenannte Kolophon, Finis, hier steht dann, wer das gedruckt hat, wo und wann und sogar an welchem Tag. Am 10. Februar 1523 wurde das Buch gedruckt, in Rom, in diesem Gebäude bei der Akademie. Das ist eine klassische Mirabilie, die aufführt, was es in Rom an modernen und antiken Monumenten so zu sehen gibt, modern, Stand 1523. Wir sehen einen schönen Antiqua-Druck mit Initialen aus Holzschnitt, perfektes Papier, perfekt erhalten. Das sind die Bücher, die uns die wenigsten Sorgen machen, diese ganz alten, die sind meistens so gut hergestellt und aus so gutem Material, das man nichts anderes tun muss, als sie pfleglich zu behandeln."
Wir blättern noch eine Weile in dem fast fünfhundert Jahre alten Führer und staunen, was damals als sehenswürdig galt. Nach dem Besuch in der Hertziana ist der Blick auf Rom ein anderer.

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