Archiv


Ein elf Jahre alter Skandal zündet nicht

Schon 1999 schrieb Jörg Schindler in der Frankfurter Rundschau über Ungeheuerliches: den Missbrauch von Kindern an der Odenwaldschule durch den langjährigen Internatsleiter Gerold Becker. Warum wird erst jetzt reagiert?

Von Brigitte Baetz |
    "Wir hatten erwartet, dass wir eben einen Stein ins Wasser werfen, der Kreise zieht, weil die Odenwaldschule ist ja eine UNESCO-Modellschule. Deswegen dachten wir, dass es sicherlich aufgenommen werden wird und dass auch andere Leute diesem Ganzen noch mal nachgehen. Aber tatsächlich ist, de facto, nach der Erstveröffentlichung so gut wie gar nichts passiert."

    Schon 1999 schrieb Jörg Schindler in der Frankfurter Rundschau über Ungeheuerliches: den Missbrauch von Kindern an der Odenwaldschule durch den langjährigen Internatsleiter Gerold Becker. Betroffene erzählten von sexuellen Belästigungen, die keine Einzelfälle waren, sondern System hatten. Und sie berichteten darüber, wie der Missbrauch auch nach dem Ausscheiden Beckers an der Schule totgeschwiegen wurde. Eine Geschichte mit Fallhöhe, eine Geschichte, wie sie Journalisten eigentlich lieben müssten: einer der angesehensten Pädagogen der Bundesrepublik ein Kinderschänder. Sexueller Missbrauch in einer der bekanntesten Eliteschulen Deutschlands. Doch nur einige wenige Blätter erwähnten die Vorwürfe überhaupt, der Hessische Rundfunk berichtete kurz, doch die Mauer des Schweigens im Internat, wie sie die FR beschrieben hatte, wurde auch von den Medien nicht durchbrochen. Die Wochenzeitung Die Zeit beispielsweise, der die Vorwürfe parallel zur Frankfurter Rundschau zugetragen worden waren, berichtete gar nicht. Wie die Redaktion heute selbstkritisch einräumt, ein Versäumnis, das vermutlich mit der Freundschaft der Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff zu Beckers Lebensgefährten, dem bekannten Reformpädagogen Hartmut von Hentig zusammenhing. Aber wäre das Thema nicht wenigstens für konservative Blätter, gar für die Boulevardpresse ein Thema gewesen? Aber auch hier war wohl die Scheu vor den angesehenen Namen zu groß, meint Heribert Prantl, Ressortleiter Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung:

    "Ich glaube schon, dass das eine Rolle spielt: ein Respekt vor der Elite. Ein Respekt vor der intellektuellen, ökonomischen Elite des Landes, die dieser Schule vertraut, und ein Teil dieses Vertrauens, glaube ich, färbte publizistisch, wenn man jetzt an die Boulevards denkt, die sich nicht ran trauten, darauf ab. Man hätte vielleicht ganz gern früher der Reformpädagogik eine links und eine rechts versetzt, aber dann hätte man sich womöglich auch mit Weizsäckers, mit den großen Familien angelegt, und das traute man sich so nicht."

    Einer der Söhne Richard von Weizsäckers war Schüler am Odenwaldinternat, lebte sogar in derselben Familie, wie man es dort nennt, wie der Leiter Gerold Becker. Doch sexuellen Missbrauch zu recherchieren ist auch ohne prominente Betroffene ein schwieriges, ein heikles Geschäft. Wo endet harmlose Zuneigung und wo beginnt sexueller Missbrauch? Wenn Betroffene den Mut finden, sich zu äußern, liegen die Fälle meist Jahre zurück. Mit dem Vorwurf der Pädophilie können Karrieren ein für alle Mal beendet, der Ruf eines Menschen für immer ruiniert werden. Hilfreich für eine weitergehende Berichterstattung wäre vermutlich gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft ermittelt hätte. Doch auch die wurde nicht tätig. Und: In unserer Mediengesellschaft hält das Publikum nicht allzu viele Skandale gleichzeitig aus, sagt Angela Böhm, Landtagskorrespondentin der Münchener Abendzeitung, die selbst schon etliche politische Affären aufgedeckt hat.

    "Es ist einfach zu sagen, die Medien hätten versagt. Ich kann mich nicht mehr genau an die Zeit erinnern, aber ich könnte mir vorstellen, dass vielleicht auch etwas Spektakuläreres gefolgt ist. Das erleben wir hier auch immer: Eine bessere Geschichte ist der Feind der guten Geschichte. Das gibt es immer wieder."

    Zeitgleich zum Odenwaldskandal kam die Spendenaffäre der CDU ins Rollen und bestimmte über die kommenden Wochen und Monate die Schlagzeilen. Sie band zudem Ressourcen in den Redaktionen, die noch nie viele Kapazitäten für aufwendige Recherchen zur Verfügung hatten, so Angela Böhm:

    "Oft ist es natürlich auch eine Sache der Man- oder Woman-Power, dass die Redaktionen überhaupt nicht so viel Leute haben, dass sie jemand explizit auf die Sache ansetzen können und der- oder diejenige sich nur noch darauf konzentriert und nur in dieser Sache recherchiert. Dazu sind die meisten Redaktionen heutzutage viel zu knapp besetzt."

    Warum aber steht das Thema Odenwaldschule jetzt fast täglich auf der Agenda? Elf Jahre nach der ersten Berichterstattung darüber? Der Zeitgeist habe sich gewandelt, sagt Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Bevölkerung wie Medien seien sensibler geworden für das Thema sexueller Missbrauch. Ein Thema, das dem Zeitgeist entgegenstehe, für das die Zeit einfach nicht reif sei, werde leicht von den Kollegen übersehen oder verpuffe ohne Resonanz beim Leser. Und: Ohne die tiefe Verstrickung von katholischen Institutionen in ähnliche Fälle wäre seiner Meinung nach der Skandal Odenwaldschule nie so weit aufgerollt worden, wie er es heute ist.

    "Man darf nicht vergessen, wie die gegenwärtige Debatte, die Missbrauchsdebatte, begann. Die begann damit, dass die Skandale im Canisius-Kolleg in Berlin aufgedeckt wurden, die wurden nicht von Journalisten aufgedeckt, sondern der Rektor der Anstalt selber, ein Jesuit, hat gesagt: Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen, und ich glaube, da war so richtig ein Schleier weggerissen von der Geschichte. Und in dem Strom 'Aufdeckung der Skandale in der Kirche' bekam die Aufdeckung der Skandale in solchen Elite-Schulen eine ganz neue Dimension. Beide Seiten, echt oder vermeintlich, des Erziehungsbogens mit den gleichen Furchtbarkeiten, und ich glaube, das war das Besondere. Und jetzt hat sich ein Strom entwickelt, in dem die Bekenntnisse auch der ehemaligen Schüler treiben, in der die Skandale sich gegenseitig 'befruchten'."

    Canisius-Kolleg, Kloster Ettal und andere auf der einen, Odenwaldschule und jetzt auch Helene-Lange-Schule auf der anderen Seite: Die publizistische Welle, die vom Canisius-Kolleg ausgelöst wurde, wird so schnell nicht zu stoppen sein, sagt Angela Böhm von der Münchener Abendzeitung.

    "Und wenn eine solche Welle entsteht, baut sich die in der Presse, in der Öffentlichkeit, meist wie ein Tsunami ja auf, und dort werden natürlich ja auch alte Fälle, wie damals bei der Odenwaldschule, wieder nach oben geschwemmt und werden wieder interessant."