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Jean Malaquais: “Planet ohne Visum”
Ein Epos über Flucht und Widerstand

Jean Malaquais war einer der großen Abenteurer der europäischen Literatur. 1942 saß er in Marseille fest und hoffte auf seine Ausreise. “Planet ohne Visum” erzählt von Hoffnung, Korruption und Verfolgung. 75 Jahre nach seinem Erscheinen gibt es den Roman jetzt auch auf Deutsch.

Von Fabian Wolff | 04.09.2022
Jean Malaquais: "Planet ohne Visum"
Zu sehen sind das Buchcover und der Autor
Jean Malaquais' Roman "Planet ohne Visum" von 1947 erscheint erstmals auf Deutsch. (Buchcover: Edition Nautilus / Foto: Tino Picos)
Arthur Koestler, der große Zeuge des vergangenen Jahrhunderts, schrieb am Ende seines Berichts über seine Monate in einem französischen Internierungslager 1940 einen bemerkenswerten Satz. Für, so Koestler, einen Zentraleuropäer der gebildeten Bürgerklasse seiner Generation mit einem Minimum an Integrität, sei es völlig normal gewesen, verfolgt oder verbannt gewesen zu sein und Bekanntschaft mit Gefängnis und Konzentrationslager gemacht zu haben.
Der Satz erklärt jene Literatur, die von dieser Generation geschrieben wurde über eben diese Verbannung, Verfolgung, Haft und Mord. Viel von dieser Literatur ist vergessen und verstreut, ein Rest ist Teil von dem, was sich in Deutschland Erinnerungskultur nennt. Eine Mahnung, die Beschreibung eines unvorstellbaren Grauens – also auch ein Grauen, das ganz fern zu sein scheint, fern bleiben muss. Völlig normale Erfahrung, meint hingegen Koestler.

Die verwickelte Biografie eines Autors

Selbst unter den Biographien dieser Generation ist die von Jean Malaquais besonders verwickelt. Geboren 1908 als Vladimir Malacki in Warschau, ein Kind des jüdischen Kleinbürgertums in Polen, Mitglied in kommunistischen Splitterparteien, Häftling auf mehreren Kontinenten, Spanienkämpfer, Gefangener der Wehrmacht. Malaquais war ein Rebell, ein Abenteurer mit klaren, auch harten Idealen.
1926 kommt er, nach einer Reise durch Afrika, über den Hafen von Marseille nach Frankreich, für ihn das Land der Revolution und der Freiheit. Aus Vladimir Malacki wird Jean Malaquais, er wird von André Gide gefördert. Sein Debüt “Les Javanais” gewinnt Preise und wird von Trotzki persönlich gelobt.
16 Jahre später ist er wieder in Marseille. Diesmal um zu fliehen, aus Frankreich und aus Europa, bevor es zu spät ist. Malaquais hat Glück, im Oktober 1942 rettet ihn ein Schiff nach Südamerika. Noch in Marseille beginnt er einen Roman über diese Station seines Lebens, den er später in Mexiko und den USA beenden wird. “Planète sans Visa” erscheint 1947 auf Französisch und Englisch.

Ein Text, der andere überstrahlt

Jetzt, 75 Jahre später, erscheint “Planet ohne Visum” auch auf Deutsch, bei Edition Nautilus von Nadine Püschel sorgfältigst übersetzt. Einer der zentralen Texte über Exil, Flucht, Faschismus, der vieles, was an Literatur über diese Themen bekannt ist, in neuem Licht erscheinen lässt, teilweise sogar überstrahlt.
“Seit Jahren schon wanderten sie in einem Europa herum, das aus dem Bauch blutete, schleppten ihre Krampfadern und sein Asthma überallhin mit, auf der Flucht aus Deutschland und Österreich und Tschechien und nun auch aus Frankreich, in ein Brasilien, aus dem ihre Söhne sie verzweifelt zu sich winkten. Smith fragte sich, wie diese siebzigjährigen Leutchen es geschafft haben mochten, dem Teufel eine lange Nase zu drehen, ohne dass ihnen auch nur die Zwicker von selbiger rutschten. Nun standen sie trotz aller Dornen und Sümpfe und Stacheldrahtzäune und Blutgerinnsel tatsächlich kurz davor, sich nach Brasilien einzuschiffen, in das sagenumwobene Land. Sie waren – wie sagte man noch? – sie waren unverwüstlich.”
Franz Werfel, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Anna Seghers, Marc Chagall hatten seit 1940 in Marseille gehofft und gewartet, bevor sie mit Hilfe des amerikanischen Emergency Rescue Committee die gefährliche Weiterreise antreten konnten. Malaquais‘  Roman setzt im Sommer 1942 ein: Einreisevisa und Ausreisepapiere sind eigentlich nur noch ein Gerücht, auch wenn sich das Rettungskommitee, geleitet vom jungen Journalisten Aldous Smith und unterstützt von seiner Assistentin Francine Lepage, redlich bemüht.

Ein dicht geknüpftes Netz der Kollaboration

Geflüchtete leben im Untergrund, werden von der Polizei schikaniert oder sind im nahen Lager Les Milles interniert. Noch ist die Wehrmacht nicht in Vichy einmarschiert, noch ist Marseille nicht besetzt. Doch es droht die Gestapo, das Netz der Kollaboration ist dicht und, in Teilen, enthusiastisch geknüpft. Wer jetzt noch in Marseille ist, hat kaum noch zu hoffen und weiß, dass nicht mehr viel Zeit zum Warten bleibt.
Die Figuren in Malaquais' Durchmessung der Stadt sind jüdische Geflüchtete, naive Amerikaner, schmierige Nazis, faschistische Flics, italienische Künstler, russische Dissidenten, Marseiller Arbeiter und französische Aristokraten. Die Fülle an Namen und Figuren erzeugt die Illusion eines Panoramas, aber Malaquais' Planet ist äußerst beengt: die Wände rücken näher, das Misstrauen wird größer, der Hafen lockt wie im Hohn und erzählt Lügen über Freiheit. Manche sind bereits an Bord, als sie verhaftet werden.
Viele der Figuren haben deutliche reale Vorbilder: Aldous Smith ist Varian Fry, der mit dem Rettungskommitee gegen französische, deutsche und amerikanische Widerstände um die 4000 Menschen vor dem Tod bewahrt hat. Malaquais hatte ihn dabei unterstützt, er zeichnet ihn im Roman als überforderten Idealisten, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, um seine Bestimmung zu erfüllen, mit Edelmut bis zur Selbstaufgabe – und der gleichzeitig zynisch kalkulieren muss, wen er retten kann und wen nicht. Ein widersprüchlicher Held.
“Wenn seine Migräne nur weniger heftig pochen würde. Oder die Seite wechseln. Er fragte sich, warum das mit dem Aspirin so lange dauerte. Die Haferflocken der Quäker waren ein echter Trumpf. Der stach alles. Und wurde bei der Botschaft gezielt ausgespielt. Das Zünglein an der Waage. Und die Boches natürlich. Die zweigten sich ihren Anteil ab. Hatten auch Waisen, einen Haufen sogar, kein Wunder also. Ihn sah man in der amerikanischen Botschaft nur finster an. Er spielte das Spiel nicht mit; erklärte immer wieder, dass es neun Monate dauert, ein Baby zu machen, aber ein halbes Jahrhundert, um einen Pianisten von Rang hervorzubringen, einen Dichter von Rang. Aldous J. Smith, dieser Spinner, der würde ein Schiff mit Babywindeln und Milchpulver glatt gegen ein Dutzend Visa tauschen …”

Eine kommende bessere Welt?

Smith justiert seinen moralischen Kompass immer wieder nach, um ihn auf die kommende bessere Welt zu norden. Eine andere Hauptfigur hat ihre große Ernüchterung schon hinter sich. Ivan Stépanoff hatte 1917 geglaubt, dass in Russland die Morgenröte der Menschheit beginnt und sich der Weltrevolution verschrieben. Trotzdem, oder deswegen, war er früh auf Stalins Feindesliste gelandet. Nach Jahren in Sibirien zieht er durch Europa, um die Linke vor dem Faschismus und vor Stalin zu warnen. Das Gefühl der Flucht, der Entwurzelung, das andere in Marseille Gestrandete verschlingt, ist ihm zur eigentlichen Heimat geworden.
“Ringsum brodelten Stimmen, Kaugeräusche, Satzfetzen, Hitler in Sewastopol, in Tobruk, in Lhasa, und Stépanoff spürte ein kindisches Erstaunen – ein Wunder, dass man immer noch auf beiden Beinen stand, krumm zwar, aber auf eigenen Beinen, dass man von Visa träumte, von Arbeit, von Leben. Wir verdienen unseren Teil vom Glück nicht, dachte er; ebenso wenig wie das Leid, das uns zuteilwird. Ein lächerliches, absurdes Gefühl stieg in ihm auf, eine vage Dankbarkeit für das nach Kleister schmeckende Brot, für die unaufhaltsame Abfolge von Tagen und Nächten.”
In diesem Limbo zwischen Monotonie und Weltuntergang kreist der “Planet ohne Visum”. Es ist ein Roman der Stimmen und Akzente, mit polyglotten Einsprengseln des Spanischen, Italienischen und Jiddischen. Trotz seiner Entstehung während Flucht und Exil, bilden die Episoden, Charakterstudien und Handlungsstränge ein geschlossenes Ganzes. Malaquais verwendet Techniken der Moderne, der Montage, des Mosaiks. Er bleibt auch dem Realismus verpflichtet, verfällt aber nicht in Didaktik, oder macht seine Figuren zu papiernen Repräsentanten sozialer und politischer Positionen.
Bei den Diskussionen über die Fehler der Linken stoßen nicht nur Ideen, sondern reale Menschen aufeinander. Stépanoff ist der Schriftsteller und Revolutionär Victor Serge, eine der schillerndsten Figuren der internationalen Linken. In seinen Romanen beschrieb er bereits in den Dreißigern Stalin als Mörder der Revolution, in seinen Artikeln mahnte er schon früh, sich von Moskaus Sozialfaschismusthese abzuwenden und Hitler als Hauptgefahr zu bekämpfen, zur Not in einer Einheitsfront.

Theorie und Praxis

Im Roman wird Stépanoff mit dem jüngeren Marc Laverne kontrastiert. Auch Laverne lehnt den Stalinismus ab, aber auch das Aufweichen revolutionärer Grundprinzipien, das er bei Stépanoff zu erkennen meint. Gleichzeitig wird er bei seiner Untergrundarbeit in der Résistance immer wieder mit Spannungen zwischen Theorie und Praxis konfrontiert.
Laverne war der Kampfname von Marc Chirik, der Malaquais an den Trotzkismus herangeführt hat. Die geschilderten Streitgespräche zwischen verschiedenen linkskommunistischen Strömungen sind keine trockenen akademischen Auseinandersetzungen, sondern Kämpfe bis aufs Blut – Kämpfe, die die Linke, mutatis mutandis, auch heute noch ausfechtet.

“Dieser Krieg ist nicht einfach nur eine Wiederholung des vorigen«, beharrte Stépanoff gerade, offene Türen einrennend. ‚Er macht neue Methoden im Kampf für unsere Sache nötig.‘ Laverne hörte ihm zu, wie wenn man die Ohren spitzt, um eine versteckte Botschaft aufzufangen. Diese vermeintlich neuen Methoden, die er wohlweislich nicht genauer definiert, dachte er bei sich, hindern Stépanoff nicht daran, die alte reformistische Schindmähre zu reiten. ‚Selbst das Pétain-Regime, absolut gesprochen‘, erklärte Stépanoff, ‚ist weniger tödlich als die Nazi-Pest. Unter der hätten Sie, ich und unsereins keinerlei Überlebenschance, wohingegen Vichy – zugegeben als ungeschickter Neuling – uns immerhin noch etwas Luft zum Atmen lässt.‘”

Die Beziehung von Vichy und dem Dritten Reich, die Gewalt der französischen Kollaboration auch aus eigenem Antrieb, ist neben der Flucht das andere politische Hauptthema des Romans. In dem Betrieb, in dem Laverne arbeitet, gibt es Spitzel, die ungezwungen nicht nur politische Agitation, sondern auch hier heimlich arbeitende Juden verraten. In Vorbereitung eines Besuchs von Pétain findet eine Razzia statt, die verhafteten Juden werden zur Deportation an die Gestapo übergeben. Als größter Antisemit tut sich über weite Strecken des Romans aber der jüdische Franzose Hirsch hervor, der mit Verachtung auf die Geflüchteten blickt:
“Er nahm es ihnen übel, dass sie sich im Okzident breitgemacht hatten; diesem Okzident, in dem man seit Napoleon 1805 ein so geruhsames Leben führte. Wären sie in ihrer Ukraine, ihrer Bukowina geblieben, mit dem Gebetsriemen über der Stirn und dem Bart in der Tora, anstatt in Berlin als Advokaten, in Paris als Ärzte, allenthalben als Händler und in sämtlichen Breitengraden als Bolschewiken aufzutreten, dann müssten die Hirschs aus Frankreich jetzt nicht wie Wildkaninchen mit Schrot im Hintern das Weite suchen.”

Eine innere Wandlung

Hirsch darf im Verlauf des Romans eine innere Wandlung vollziehen. 1947 war in den ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Shoah, auch und gerade von jüdischen Schriftstellern, diese Akzentuierung, die fast von einer Mitschuld zu sprechen scheint, völlig normal. 15 Jahre später wird Hannah Arendt mit ihrer Analyse der Judenräte in den östlichen Ghettos und KZs schon einen Skandal auslösen. Wiederum 60 Jahre später sind solche Stellen in Deutschland eigentlich nur noch mit dicken historischen Anführungszeichen zu rezipieren.
Andere Passagen zu Vergleichen zwischen Hitler und Stalin taugen aktuell weniger zum Skandal als noch vor zehn Jahren, als der Historiker Timothy Snyder ihr teils gemeinsames Mordwerk in den osteuropäischen Bloodlands untersuchte. Für die kommunistischen Figuren, und auch für den Roman selbst, ist dieser Vergleich selbstverständlich, und Teil der gelebten Realität.
Es stimmt ja tatsächlich, dass ein prominenter Antistalinist wie Victor Serge vor dem sowjetischen GPU ebenso viel Angst haben musste wie vor der Gestapo. Es halten sich auch Gerüchte, dass Serge 1947, also zwei Jahre nach dem sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, von Stalins Agenten in Mexiko City ermordet wurde.
Serge und Malaquais kannten sich aus Frankreich, und waren im mexikanischen Exil befreundet. Lange vor dem Erscheinen von „Planet ohne Visum“ 1947 hatte es ein heftiges Zerwürfnis gegeben, politisch motiviert, wie Übersetzerin Püschel schreibt. Die Tagebucheinträge von Victor Serge aus dieser Zeit lassen aber auch persönliche Gründe vermuten. Malaquais taucht in ihnen nur auf, um von Serge kritisiert, belehrt und niedergemacht zu werden, als mittleres Talent und noch geringerer Denker.
Malaquais, schreibt Serge in sein Tagebuch, ist mit Minderwertigkeitskomplexen und Aggressionen belastet, ein unheilbarer Neurotiker, aber zwischendurch klarsichtig, mit ständigen und manchmal erfolgreichen Versuchen, sich neu, und besser zu erfinden, die Serge und seine Frau oft bewegt hätten.
Die Kälte dieser Worte lässt den Atem klirren, Malaquais quittiert es seinem ehemaligen Mentor im Roman auf ähnliche Weise. Diese ideologisch-kalte Grausamkeit auch in engsten Beziehungen ist ein Leitmotiv jener kommunistischen Generation. Malaquais selbst hatte sich schon Mitte der Dreißiger von seiner Familie gelöst, weil er, wie er seiner Frau und seinem kleinen Sohn mitteilte, sich so auch von der Bourgeoisie lösen wollte.

Das Scheitern einer Familie

Während Malaquais in Marseille und Mexico ausharrt, lebt sein kleiner Sohn unter falschem Namen in einem französischen Waisenhaus, seine Frau und seine Schwiegereltern werden in Auschwitz ermordet, seine Eltern in Treblinka. Nach dem Krieg erfährt Malaquais von André Gide, der im Roman als Audry freundlich karikiert auftaucht, dass sein Sohn noch lebt. Er holt ihn zu sich nach New York. Doch eine Familie, so erzählt sein Enkel Laurent in einem unveröffentlichen Dokumentarfilm, wird aus ihnen nicht mehr.
All das taucht im Roman nicht auf, und doch: “Planet ohne Visum” ist ein Buch über Väter und Söhne, über Patronage als Geschenk und Kontrollwerkzeug. Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen, kann auch eine Form von Selbstsucht sein, so Malaquais. Und: Ehrlichkeit, so grausam sie sein mag, ist eine Form der Liebe. So kann er noch der Varian Fry Figur, dem er sein Leben zu verdanken hat, eine perverse Lust an der Hölle zuschreiben, aus der er Seelen retten kann:
„Der Ruf der Faulheit würde in seinen Ohren verklingen, übertönt von der tiefen Stimme des Lasters, vor dem er nicht fliehen wollte. Vor seiner perversen Lust an echten oder falschen Visa, am Menschenschmuggel, vor dieser sich von der infamen Vermählung von Lagern und Öfen nährenden Lust wollte er nicht fliehen. Und selbst wenn er gewollt hätte – er wäre gar nicht dazu imstande gewesen. Das war seine persönliche Falle, das war das Schutzgeld, das von ihm erpresst worden war in diesem rotierenden Chaos, aus dem es kein Entrinnen und kein Desertieren gab."
Ein reiner Männerroman ist das Buch nicht. Die zahlreichen weiblichen Figuren dürfen mehr als Projektionsflächen sein. Dass sie fast alle ein Geheimnis in sich tragen, kann als Zeichen grundsätzlich fehlender Vertrauenswürdigkeit gelesen werden – oder eben als Einsicht von Malaquais, nicht so recht zu wissen, was er mit ihnen anstellen soll, außer zu zeigen, wie schlecht die Männer sie oft behandeln.
Ein Misogyniker ist er nicht, auch kein ambivalenter, wie etwa Norman Mailer, dem er wiederum in den USA ein Mentor wurde. Dessen Roman “The Naked and the Dead” übersetzte er ins Französische und ließ Mailer gleichzeitig wissen, das Buch für gänzlich misslungen zu halten.

Seiner Zeit voraus

Malaquais' Angriff auf französische Mythen, Verblendung und Korruption war 1947 zu scharf. Es folgte 1953 ein letzter Roman, die Jahrzehnte danach dozierte und übersetzte Malaquais nur noch, und promoviert über Kierkegaard. Im hohen Alter editierte er noch einmal seine Werke. “Planet ohne Visum” hat er dabei vor allem entschlackt und gekürzt, einige wichtige Akzente stärker gesetzt und manche schöne Passage gestrichen.
Nadine Püschels Übersetzung, basierend auf dieser Fassung letzter Hand, ist wirklich ein großer Wurf, die deutsche Ausgabe ein Juwel. Jede Figur darf wie sie selbst sprechen, die unterschiedlichen Tonfälle werden nicht zur Harmonie gezwungen. Die historische Einordnung erfolgt profund, aber behutsam. So bleibt Malaquais' Roman in seiner runden Sperrigkeit bestehen.
Die Figur des Geflüchteten ist im letzten Jahrzehnt und gerade in den letzten Monaten wieder stärker ins europäische Bewusstsein gerückt. Oft wird auf die deutsche Emigration und konkret auf Marseille als Fanal und Verpflichtung verwiesen. Die Einteilung in gute und schlechte Flüchtlinge, die Hierarchien des Überlebens und des Leidens, die Malaquais beschreibt, sind nicht gänzlich übertragbar, aber es gibt Kontinuitäten.
Malaquais war stolz darauf, ein, wie er sagte, dreckiger Ausländer zu sein, ein Heimatloser. In einer handschriftlichen Widmung hat er selbst skizziert, wofür sein Roman steht. Die Handschrift ist schwer entzifferbar, die Wortwahl, wie könnte es anders sein, vieldeutig: ein Planet ohne Thema – oder ohne Untertanen. Ein Planet ohne Freispruch – oder ohne falschen Trost. Zwischen diesen Polen rotiert “Planet ohne Visum”.  Er ist nicht doktrinär, kein Lehrstück mit den Mitteln der höheren Literatur. Aber der im Buch aufflammende rebellische Geist, der sich gegen das scheinbar völlig normale Unrecht auflehnt, ist ungebrochen.
Jean Malaquais: "Planet ohne Visum"
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Nadine Püschel
Edition Nautilus, Berlin
664 Seiten 32,00 Euro.