Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Ein Essay über Geheimnisse
Niemand hat nichts zu verbergen

Das Geheimnis hat ein Janusgesicht. Natürlich muss es gewahrt bleiben. Aber genauso natürlich plaudern wir es aus. "Sag es niemanden weiter!" Erst (mit-)geteilt bekommt es seinen ganz eigenen Nimbus, seine Kraft, Menschen an uns zu binden.

Von Martin Zeyn | 08.10.2017
    Zwei Mädchen flüstern in einem Park.
    Zwei Mädchen tauschen Geheimnisse aus. (imago/Westend61)
    Diese Doppelnatur erklärt den Erfolg der Sozialen Netze. Nur was geteilt wird, ist wichtig. Und es ist gerade der Kitzel der Ambivalenz, ob wir etwas wirklich allen sagen wollen oder doch nur einer kleinen Untergruppe oder gar nur der einen, dem einen. Dieser Kitzel des Geheimnisses ist es, der Kommunikation so lebendig macht.
    Brauchen wir vielleicht nicht weniger, sondern mehr Geheimnisse - wie es die Denkfabriken in Silicon Valley fordern? Was ist mit den großen Geheimissen, jenen, denen wir eigentlich lieber aus dem Weg gehen? Denn das Geheimnis ist nicht nur eine Brutstätte für Psychosen und Neurosen, zu dem es die Psychoanalyse gerne macht.
    Das Geheimnis ist auch eine Selbstermächtigung: Wir bestimmen, wer wir sind, weil wir es sind, die das Bild von uns bestimmen.

    Manuskript zur Sendung:
    Ich stehe vor dem Spiegel. Ich sehe einen unbescholtenen Mann so um die 50, also … deutlich älter als 50, bemüht um einen modischen Haarschnitt, weil das einen jünger macht. Das funktioniert erstaunlich gut. Wer weiß schon, wie alt ich bin? Eine Koketterie. Eine Lappalie. Aber es reicht, ein bisschen im Netz herumstöbern und schwups, schon ist das geheim-gehütete Geburtsdatum heraus. Und noch viel mehr.
    Ich habe nichts zu verbergen. Wirklich nicht? Was geschieht, wenn wichtige wie belanglose Daten für jeden einsehbar sind? Wenn mein Lebenslauf öffentlich ist?
    Der Philosoph Boris Groys hat einmal die Biografie eines Künstlers als dessen größtes Kunstwerk bezeichnet. Aber gilt das nur da, im Kunstbetrieb? Gilt es nicht für uns alle? Stellt nicht jeder gute Lebenslauf eine Aneinanderreihung von Erfolgen dar, ein Voranschreiten, ein immer besser ausgebildetes und weltläufiges Werden?
    Statt Examen der Germanistik und hinterher Packer im Paketzentrum Hamburg Ost, statt einer so lala Wahrheit, wie wir sie alle kennen, dann doch lieber die andere Wahrheit, die bessere: vier Fächer studiert, Kenntnisse in allem, wo man heute Kenntnisse haben sollte, sowie Social Media‑Erfahrungen noch und nöcher. Ja, ich bin schon alt, aber mich interessiert das eben und ich bin da sehr aktiv.
    Eine blitzeblanke Blenderbiografie. Es hätte nicht viel gefehlt und ich müsste mit so einer Biografie versuchen, Arbeit zu finden. Dieses klassische Herumschlingern nach dem Abschluss, typisch für geisteswissenschaftliche Absolventen. Bis dann endlich die Arbeit regelmäßig wurde und aus Gelegenheiten ein festes Beschäftigungsverhältnis. Bis dahin aber plusterte sich jeder zweitägige Job an einem Museum zu einem Eintrag im Lebenslauf auf. Damit der was hermachte. Damit ich einen Lebenslauf hatte, der auffiel, der beeindruckte, der nicht so schrecklich banal war wie die Wirklichkeit.
    Geheimisse zu haben, ist eine Form der Selbstermächtigung
    Jeder Lebenslauf hat Leerstellen, sonst ist er ein Cyborg-Lebenslauf, einer von diesen, die von der hellen Sonne des Erfolgs beschienen sind und gnadenlos auf Effizienz getrimmt werden, zu künstlich, um von dieser Welt zu sein. Ein Kunstwerk.
    Lebensläufe sind Fake-Biografien, klar. Wir alle sind das Aschenputtel, das weiß, wie es mit der Vergangenheit umzugehen hat. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Sonst werden wir nie zur Prinzessin in unserem Biografieschloss.
    Geheimisse zu haben, ist eine Form der Selbstermächtigung. Geheimnisse, die wir verschweigen, aufheben für den Biografen, den wir nicht haben werden, vielleicht noch für Gespräche mit unseren Kindern, wenn die erwachsen sind und also auch schon Fehler gemacht haben, die nicht mehr reparabel sind, wenn die uns beichten, was schiefgegangen ist und wir sie trösten:
    So etwas passiert nicht nur dir, es passiert nicht, weil du dumm bist, nein, auch ich habe falschen Freunden vertraut, habe Ratschläge ungeprüft übernommen, ich habe auch Glück gehabt. Und all das nenne ich - Karriere.
    Wir bestimmen, wie das Bild von uns auszusehen habe. Nach bestem Wissen, Gewissen und - Verschweigen. Noch sind wir die Herren unserer Biografie. Aber wie lange wird das noch so sein? Was, wenn Personalchefs die Facebook‑Timeline einsehen wollen? In der das Schlechte auch zu sehen ist? Können wir da Nein sagen? Wir haben, viele haben, ihr Archiv, ihr Tagebuch, ihren Kalender nach draußen gegeben. Der liegt jetzt da. Unredigierbar, unlöschbar. Wir können uns zwar abmelden, aber Facebook behält sich vor, die Datensätze trotzdem zu speichern. Wie die allermeisten Internet-Firmen.
    Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts. Daten sind die Ölpest des 21. Jahrhunderts.
    Aber unsere Onlinepräsenz ist nur der sichtbarste Teil unserer Datenölspur. Auch meiner: Mit dem Fitnesstracker habe ich mir eine Wanze ans Armgelenk geschnallt, die meine Bewegungen protokolliert, mit dem Navi eine metergenaue Überwachungseinrichtung meiner Bewegungen ins Auto eingebaut, mit den Streamingdiensten eine sekundengenaue Aufstellung ermöglicht, was ich wann in welchem Zimmer tue, mit der Payback-Kreditkarte versende ich eine Dokumentation meines Einkaufsverhaltens. Ich werde den ganzen Tag bei zahllosen Tätigkeiten beobachtet. Informationen werden erhoben, versandt und ausgewertet. Und ich habe keine Kontrolle über diese Informationen - oder wissen Sie, was die Hersteller mit diesen Daten machen? Haben Sie die AGB gelesen? Und alle Änderungen der AGBs?
    Um einen Mordfall aufklären zu können, hat ein US-Gericht Amazon aufgefordert, die Tonaufzeichnungen des digitalen Heinzelmännchens Alexa freizugeben: alles, was es im Haus aufgezeichnet hatte.
    Natürlich ist es richtig und wichtig, einen Mord aufzuklären. Aber früher brauchte es einen Gerichtsbeschluss, um überhaupt jemanden abhören zu können, und nicht nur einen, damit ein Gericht diese Daten auswerten darf. Heute bezahlen wir 180 Euro und bekommen ein technisches Wunderwerk frei Haus zugeschickt. Und dann stimmen wir der AGB zu, die es erlaubt, dass die Mikrofone eingeschaltet sind und die Aufzeichnungen in einem externen Rechenzentrum analysiert und gespeichert werden dürfen.
    Als NSA-Chef würde ich sofort eine Hundertschaft meiner Kryptologen daran setzen, den Code dieser Datenübertragung zu knacken.
    Manchmal gibt es nicht einmal eine Verschlüsselung, wie bei der ebenfalls mit einem Mikrofon zur Spracherkennung ausgestatteten Puppe "Cayla", die alle Daten einfach per Bluetooth überträgt - ohne wenigstens einmal die Eingabe einer Pin-Nummer zu verlangen.
    Eine Wanze im Kinderzimmer. Diese Verbindung mitlesen kann jeder, der gerade mal das Wort Hacker zu buchstabieren vermag.
    Es gibt keine Offenheit in nur eine Richtung, Daten fließen potentiell immer in beide Richtungen, zu uns hin, von uns weg.
    Das Handy als "tragbare Gestapo"
    Der Soziologe Harald Welzer hat das Handy einmal als eine "tragbare Gestapo" bezeichnet. Das gilt sicher für die Fälle, in denen etwa ein Staat per Trojaner das Handy ausspioniert. Aber ansonsten ist es ein falsches Bild. Die Internetkonzerne wollen nicht unsere Firewalls oder Passwörter knacken. Niemand will uns ausspionieren.
    Wir sind es, die unsere Geheimnisse preisgeben. Unwissentlich, gewiss, aber wir könnten davon wissen. Und wir könnten weniger offenherzig sein. Wir könnten AGBs gründlicher lesen. Und erschrecken vor dem, was wir preisgeben.
    Wir könnten unsere E-Mails über einen kostenpflichtigen Dienst verschicken, der für eine komplexe Verschlüsselung sorgt. Und alle Freunde einladen, es uns gleichzutun.
    Wir könnten die App "Stalkscan" benutzen. Mit der lassen sich sehr genaue Suchbefehle kreieren, etwa danach, welche Fotos, welche Singles wir auf Facebook geliked haben, wie alt die waren und ob die in der Nachbarschaft wohnen. Damit können wir ermessen, wieviel Facebook über uns weiß, anhand der zahllosen nichtigen und scheinbar zusammenhanglosen Einträge, Clicks und Likes, die wir tagaus, tagein dort vornehmen, anhand der Daten, mit denen wir das Netz fluten.
    Wir könnten Geschichten aus China lesen, wie sie der SZ-Korrespondent Kai Strittmatter erzählt. Von der Stadt Rongcheng, die ihre Bürger nach einem Ehrlichkeitsindex bewertet. Ein Vorbild von Ehrlichkeit hat 1050 Punkte.
    Unehrlich ist jemand ab 599 Punkten. Hundehaufen nicht wegräumen: minus 5 Punkte.
    Knochenmark spenden: plus 50.
    Eltern schlecht behandeln: minus 50
    Illegale religiöse Aktivitäten pflegen: minus 100.
    Dieses Ranking ist kein Papiertiger, es hat echte Zähne, denn wer nicht die notwendige Punktzahl für Ehrlichkeit erreicht, darf nicht ausreisen oder seine Kinder auf eine Eliteschule schicken.
    Nicht das Falsche denken.
    Nicht denken.
    Besser gar nichts denken, sondern nur tun, was alle tun, um im Ranking nach oben zu kommen.
    Eine Smart City ist der Traum einer Bürokratie. Einer jeden, weil sie den Störfaktor Mensch nicht mehr ertragen muss, unser aller unlogisches und widerborstiges Verhalten. Jetzt endlich werden wir sachte und sanft und überall diszipliniert. Ein Vorgehen, das erste Erfolge vorzuweisen hat, etwa in den USA, wo Programme die Orte ermitteln, an denen verstärkt Polizisten eingesetzt werden müssen.
    Algorithmen sind nicht neutral, in ihnen verstecken sich intransparente Vorgaben
    Vorwiegend schwarze Viertel, wo verstärkte Polizeipräsenz zu mehr Festnahmen von Schwarzen führt. Statistiken sagen die Wahrheit, Statistiken lügen. Beides. Wenn das Ziel der Politik ist, Kleindealer festzunehmen, dann sagt sie die Wahrheit. Wenn es das Ziel wäre, die Kapitalflucht in Steueroasen zu verhindern, dann wäre diese Polizeitaktik ein Desaster. Algorithmen sind nicht neutral, in ihnen verstecken sich intransparente Vorgaben, worauf die Mathematikerin Cathy O’Neil beständig und mit wenig Erfolg hinweist.
    Denn solche Pre-Crime-Programme verkaufen sich. Sie liefern Lösungen. Der Politologe Evgeny Morozov hat das "Solutionismus" genannt: die Verkaufstaktik, für sehr begrenzte Probleme eine maschinenlesbare Lösung anzubieten. An Brennpunkten von Drogenkleinkriminalität setzen wir viele Polizisten ein, die viele Dealer festnehmen.
    Computergestützte Lösungen funktionieren. Aber nicht anders und kaum besser als Lösungen, die sich menschliche Spezialisten ausdenken. Und Zuschauer der Fernsehserie The Wire wissen, dass mit dieser Polizeitaktik nichts erreicht wird, außer dass die nächste Generation von Kleindealern eine Ecke weiter zieht.
    Aber selbst wenn wir annehmen, dass bestimmte Programme hilfreich sind, der Solutionismus funktioniert nur, solange wir das Auslesen von Daten als neutralen Vorgang begreifen.
    Es funktioniert, solange der Satz "Wer nicht zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten" dafür genutzt wird, das Post- und Telekommunikationsgesetz ständig zu verletzen. Dafür, dass 800.000 Selektoren eingesetzt werden, mit denen der US‑amerikanische Geheimdienst NSA in Bad Aibling sämtliche Telefongespräche und Mails durchleuchtet.
    Dafür, dass Google mit einer unbekannten Zahl von Suchwörtern alle Nachrichten von .gmail abgleicht, um Werbung zu schalten.
    Dafür, dass die angeklickten Seiten analysiert und gespeichert werden, um uns mit passender Werbung zu beglücken. Jeder weiß, alles wird gelesen, alles wird bewertet, alles wird kontrolliert. Im Namen von Geschäftsinteressen, im Namen der Sicherheit.
    Anonymität ist kein Schutzgebiet für Terror und Verbrechen. Es ist ein Schutzraum, in den übermächtige Gegner nicht hineindürfen. Ein Staat, der qua Exekutive uns himmelhoch überlegen ist, der also seine Bürger vor sich selbst schützen muss, damit Freiheit nicht nur ein Wort ist.
    Das Machtgefüge ist disproportional, weiß jeder Staatsrechtler. Kein Bürger hat so viel Macht, um einen Staat niederzuringen. Es sei denn, der Staat gewährt ihm diese Macht: durch eine unabhängige Justiz, durch Medien, die den Staat kritisieren dürfen, durch Rechte, die den Bürger vor einem übergriffigen Staat schützen. Eines dieser Rechte ist das Post- und Telekommunikationsgesetz.
    Geheimdienste, die bislang nicht nachweisen können, ob ihre Rasterfahndung wirklich erfolgreich ist
    Es geht darum, die letzten Geheimnisse, den Rest an Anonymität zu verteidigen. Vor den Geheimdiensten, die bislang nicht nachweisen können, ob ihre Rasterfahndung wirklich erfolgreich ist. Oder sogar, wie der ehemalige technische Direktor der NSA, Bill Binney, immer wieder betont, die Aufmerksamkeit von den wirklich wichtigen Fakten ablenke.
    Und der Staat hat uns zu schützen vor Wirtschaftsfirmen, die nicht zu interessieren hat, wie wir leben. Deren Vorgehen noch geheimer ist als das der Geheimdienste, deren Macht durch Gesetze begrenzt ist, Firmen, die es geschafft haben, uns glauben zu machen, ihre Programme, ihre Algorithmen, ihre Apps seien neutral, dienten quasi einer höheren Vernunft, die schafft, was nicht einmal Gott zu leisten imstande war: dass Recht und Gerechtigkeit hienieden walten und Löwen neben Lämmern lagern.
    Noch einmal: Wir haben es nicht mit einer Stasi oder Gestapo zu tun. Es geht nicht darum, ausspioniert zu werden, zumindest nicht von den Wirtschaftsfirmen. Die sogar gegen die staatliche Ausspähung protestieren, weil die ihr eigenes Geschäftsmodell in Misskredit bringt. Es geht diesen Firmen nicht um den Einzelnen. Es geht um uns alle. Das Ziel ist es, einen stabilen, verifizierbaren Datensatz einer Person zu erhalten, einer jeden Person auf der ganzen Welt. Einen Datensatz, der festlegt, wieviel Geld diese Person zur freien Verfügung hat. Wer wir sind, spielt dabei keine Rolle, zumindest in Demokratien, die nicht bloß so heißen. Wieviel wir verdienen und konsumieren, das sind die Kennziffern, um die es geht.
    Und irgendwann werden die Datensätze so belastbar oder - was auf dasselbe hinausläuft - Firmen vertrauen ihnen so, dass sie dafür bezahlen, irgendwann werden all diese Info-Fitzelchen ein zweites Ich von uns bilden. Ein öffentliches. Das öffentliche Ich.
    "Wir wissen, wo du bist, wir wissen, wo du warst, wir wissen, mehr oder weniger, worüber du nachdenkst", hat Google-Chef Eric Schmidt vor einigen Jahren gesagt, und es war schon damals keine Übertreibung mehr.
    In Diktaturen, wie in China, mag noch viel Polizeistaatlogik hineinspielen, mögen Funktionäre die 1000 Augen des Internets schätzen, um unbotmäßige Dissidenten auszuspähen. Aber auch dort geht es eigentlich um etwas anderes, wie die Modellstadt Rongcheng zeigt. Es geht um die Idee, dass der überwachte Bürger zu einem besseren Bürger wird. Der im Ranking aufsteigt, wenn er die Heizung sparsam benutzt, um gegen den Smog anzukämpfen. Was wiederum allen im Wohnblock mitgeteilt wird. Zum Ansporn.
    Daran ist doch nichts Schlechtes. Das geschieht doch zum Nutzen aller.
    Ein Köder. So wie der andere, das verführerisch blinkende Gratis. Aber was geschieht mit Menschen, die wissen, sie werden beobachtet? Haben wir bald wieder die Zustände wie bei meinen DDR-Besuchen, wo unsere Freunde mit mir Westbesucher im Meißener Restaurant nur sehr leise und sehr, sehr bedacht sprachen und sich mehr als nur einmal umdrehten?
    Wollen wir uns dem Diktat von Lösungen in jedem Moment unseres Lebens unterwerfen?
    Endlich wird die Welt zu einem lichten Panopticon, jenem utopischen Gefängnis, in dem die Wächter von ihrem Standort aus in jede Zelle blicken konnten. Nur zu unserem Nutzen natürlich. Denn alles lässt sich lösen, weil, wer sich beobachtet weiß, quasi automatisch zu einem besseren Bürger mutiert. Natürlich ließe sich die Zahl der Geschwindigkeitsübertretungen reduzieren, wenn unser Navi permanent Ort und Geschwindigkeit nach Flensburg senden würden.
    Wollen wir das wirklich? Wollen wir uns dem Diktat von Lösungen in jedem Moment unseres Lebens unterwerfen?
    Eine Welt, in der alles bekannt ist, in der alles berechnet wird nach neutralen, objektiven und mathematischen Gesichtspunkten, muss keine bessere Welt sein. Denn darum geht es auch nur dem Anschein nach. Verbesserung ist nur ein Argument, um Lösungen zu verkaufen. Und wie bei allen Verkaufsgesprächen sollten wir kritisch sein.
    Die Aussage "Ich habe doch nichts zu verbergen" verkennt, wie Firmen unsere Daten nutzen. Es geht nicht darum, uns bloßzustellen, sondern darum, von allen Menschen so viele Informationen zu sammeln, dass sie durchschaubar sind, dass sie gelenkt werden können, etwas einzukaufen, etwas zu tun, etwas zu lassen. Und ja, um das zu erreichen, dürfen sie nicht mehr anonym sein, dürfen sie keine Geheimnisse haben.
    Und niemand braucht dafür meinen Namen - das Profil meiner Bewegungen im Netz ist einzigartig und mir exakt zuzuordnen. Welche Programme ich auf dem Rechner habe und welche Namen im Adressbuch stehen, sagt genau, wer hier gerade unterwegs ist. Wir werden nicht ausgespäht: Wir sitzen in einem Glashaus, von dem wir glauben, es schütze unsere Anonymität.
    In dem wir uns frei und ungezwungen bewegen, wir Faulen, wir Naiven: weil wir glauben, hier anonym sein zu können. 70 Likes reichen angeblich aus, um zu sagen, wer ich bin - wo ich mich auf dem Koordinatenkreuz der Big Five befinde, einem Standardmodell der Psychologie, das uns einteilt, je nachdem, ob ich mehr intro- oder extrovertiert bin, eher zurückhaltend oder dominant. 150 Likes und schon weiß das Programm mehr von uns als ein Familienmitglied. Und 300, um uns besser zu kennen als der Partner. Sagt eine Stanford-Studie.
    Die immerhin 86.220 Fragebögen ausgewertet hat. Die überall zitiert wird, um zu zeigen, wie intelligent schon die Algorithmen geworden sind, wie überlegen uns Menschen. Aber so genau ich den ausführlichen Text auf der Homepage der Stanford University auch gelesen habe, wurde mir nicht klar, wie die Systematik dieser Studie aussah.
    Was machte das Programm überlegen? Die Antwort der Autoren lautet: Menschen würden einzelne Eigenschaften überbewerten oder sie verfielen auf irrationale Denkmuster.
    Wobei - vielleicht ist ja die Behauptung, dass Menschen schlechter denken als Computer, irrational. Natürlich erkennen Bildverarbeitungsprogramme heute ganz erstaunlich gut Fotos mit Gesichtern. Und kennzeichneten vor kurzem noch Afroamerikaner als Gorillas - was sonst nur Kleinkindern oder Rassisten passiert. Und Übersetzungsprogramme, die es mit einer Sprache ohne grammatikalisches Geschlecht zu tun haben, fügen bei Doktoren oder Direktoren gerne ein "Er" als Pronomen ein, bei Putzkräften ein "Sie". Der Übersetzungs-Algorithmus ist darauf programmiert, Häufigkeiten zu bevorzugen, egal ob Fakt oder Vorurteil.
    Es geht darum, uns besser etwas verkaufen zu können
    Dieses "Uns besser zu kennen als wir uns selbst", dieses Mantra aus dem Silicon Valley ist nur Marketing. Denn es geht nicht ums Kennen, ums Verstehen, wenn ich zu 73 Prozent genau bestimmen kann, ob ich ein Weintrinker bin. Es geht darum, uns besser etwas verkaufen zu können.
    "Meine Fehler, das bin ich", hat Samuel Beckett geschrieben. Vielleicht machen Maschinen wirklich weniger Fehler als Menschen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie beim Schach und beim Pokern gewinnen. Aber kennen sie Menschen, nur weil sie uns besiegen können?
    Und was ist eine wichtige Information? Die über meine Serienfavoriten oder ob ich jemanden anrufen kann, aufgelöst, dringend jemand zum Reden benötigend, weil mein Vater mit 87 Jahren umgefallen ist und drei Tage später tot war? Und ich jetzt eine Waise bin und trotz meiner 50 Jahre sehr allein. Muss mich der Freund auf einer Graphik richtig platzieren können, die aus fünf Eigenschaften gebildet werden? Nein, muss er nicht.
    Neutral, objektiv und präzise, das sind Computer.
    Beeinflussbar, ineffizient, unbeherrscht, das ist der Mensch
    So werden die wunderbaren neuen Apps und Algorithmen uns verkauft. Die Lösung aller Probleme steht uns bevor, wenn… wenn wir nur die Firmen machen lassen und freigiebig mit unseren Daten sind. Eine mächtige Erzählung, die Utopie und Realismus zu versöhnen verspricht.
    Und die uns zu Wesen zweiter Güte macht, wie es der Philosoph Günther Anders schon vor über 60 Jahren beschrieben hat. "Prometheische Scham" nannte er das; wir Schöpfergötter, die einen neuen, besseren, mathematischen Gott in die Welt gesetzt haben und nun dieses seltsam ambivalente Gefühl verspüren, uns den Computern unterlegen zu fühlen.
    Günther Anders. Noch kein Vergessener, aber einer, über dessen Namen wir stolpern: ach ja, den gab es mal, der wurde mal heiß diskutiert. Gebe ich "Anders" in eine Suchmaschine ein, ist das Ergebnis ernüchternd. Zu seinem 100. Geburtstag fühlten sich einige wenige Feuilletons bemüßigt, an ihn zu erinnern. Keine ins Netz gestellten Hausarbeiten. Nur vereinzelte Google Books-Einträge. Tja, das Netz vergisst vielleicht nichts, aber sich kümmern tut es auch nicht.
    Prometheische Scham. Bei einigen der Technik-Gurus ist sie zu spüren, wenn sie den Menschen als Krone der Schöpfung abgelöst sehen, wenn sie ihre eigene Abschaffung bejubeln. Wobei immer dieselben Zahlen von Verdopplungen der Rechnerleistung oder der Datenmengen herangezogen werden. Wenn wir schon vergleichen, dann sollten wir Waffengleichheit herstellen. Was wäre, wenn ein Super-Computer mit gigantischer Rechnerleistung nicht gegen ein menschliches Gehirn antreten müsste, sondern gegen sämtliche Schachgroßmeister, die ausreichend Zeit zur Beratung hätten? Der Rechner Deep Blue, der Schachweltmeister Garri Kasparow schlug, war nicht intelligent, sondern hat die Intelligenz und jahrelange Forschung von Informatikern und Großmeistern in sich vereinigt. Und nur nebenbei: Anders als Kasparow konnte Deep Blue nicht aufstehen und vom Podest steigen.
    Aber ist "Scham" wirklich das beherrschende, das zentrale Gefühl im Umgang mit avancierten Maschinen? Alle Anstrengungen der Entwickler richten sich gerade auf den Aspekt, dass wir nicht mehr merken, es mit einer Maschine zu tun zu haben. Wir können "normal" mit unserem Handy reden, ihm Fragen stellen, uns von ihm helfen lassen. Abstürze sind selten und höchstens ein Anreiz, uns ein neueres Modell zu kaufen. Vielleicht sollten wir heute von der "Prometheischen Ignoranz" sprechen, heißt: Wir tun so, als beträfe uns all das nicht. Wir warnen unsere Töchter, unsere Söhne, nicht alles zu posten, und übersehen dabei gern, welche ungeheuren Datenmengen wir selbst hinterlassen.
    Amazon oder Google können aus unseren Daten zuverlässige Informationen ermitteln
    Wer schreibt schon in Großbuchstaben an sein Eigenheim, wieviel er verdient und welche erotischen Filme er sieht? Niemand. Konzerne wie Amazon oder Google können das aus unseren Daten zuverlässig ermitteln. Wir sehen diese Auswertungen nicht, sie stehen nicht an unserer Häuserwand. Aber sie laufen im Hintergrund mit, wenn wir unser Smartphone oder unseren Computer anschalten.
    Was tun? Die Hände heben und bekennen: Wir sind hilflos?
    Wie Harald Welzer auf ein Handy verzichten?
    Uns entscheiden: Bin ich Mitläufer oder werde ich Technik-Eremit?
    Aber dieses Entweder-Oder ist eine Opposition, die Gleichgültigkeit und Fatalismus fördert. Vor allem ist es eine falsche Gegenüberstellung. Wir sind nicht hilflos.
    Verschlüsselung hilft, sagt Frank Rieger vom Chaos Computer Club. Schon die einfache, wie sie einige Messenger- oder E-Mail-Dienste anbieten. Noch mehr hilft es, seinem Browser eine Tarnkappe zu verpassen, zu verwischen, wo wir waren die letzten Male, ihm zu verbieten, Angaben über unsere Systemeinstellung auszulesen, weil wir dann nicht mehr anonym sind. Obfuscation - Vernebelung. Sich undeutlich machen. Was die Firmen wirklich fürchten: Die App "Adnauseum", die willkürlich auf Werbebanner klickte und so verwischte, was uns wirklich interessiert, wurde von Google aus dem Play Store genommen.
    Bei dem großen Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs herrscht strenges Fotografier- und Filmverbot. Es geht darum, einen geschützten Raum zu erzeugen, einen, in dem niemand fürchten muss, entdeckt oder enthüllt zu werden. Das ist Freiheit. Deswegen klebt auch die Berliner Diskothek Berghain alle Handylinsen zu. Was hier passiert, soll auch hier bleiben. Dieses Einschränken der Freiheit mache ungezwungenes Feiern erst möglich - auf diese paradoxe Formel bringt es der Popkritiker und gelegentliche Berghain-DJ Jens Balzer.
    Wenn unser Fahrrad weg ist, dann sehen wir es. Wenn unsere Daten weg sind, dann, ja, was dann? Sehen wir uns bloßgestellt, falsch verstanden, misshandelt, verraten?
    Oder geschieht etwas Unscheinbareres, aber Folgenreicheres? Passen wir uns in einer Form von Co-Evolution den Algorithmen an? Was hieße, wir modifizieren unser Verhalten so, dass es für Programme lesbar wird: Wir verhalten uns eindeutig, kleiden uns unmissverständlich und verzichten auf Privatsphäre, weil die unsere Lesbarkeit einschränkt. Die Biologin und Philosophin Donna Haraway nennt das Code-Kausalität: Abstraktion tritt an die Stelle des Konkreten, der größte allgemeine Nenner wird zur Norm, legitimiert durch die Abstimmung der Klicks. Mit jedem Fahrtenschreiber, den eine KFZ-Versicherung in unser Auto installiert, jedem Fitnesstracker, der die Daten direkt an die Krankenversicherung weiterleitet, kündigen wir unsere Autonomie auf. Wir treten Rechte an Firmen ab, das Recht auf Unverletzbarkeit der Wohnung, der Privatsphäre, das Recht auf keine Beobachtung ohne Anfangsverdacht. Wir werden nicht ausspioniert, wir werden normiert. Wir unterwerfen uns einem Diktat, dessen Parameter nicht einsehbar sind und über das nie öffentlich abgestimmt wurde.
    Und wir kündigen den Gesellschaftsvertrag. Der Sozialstaat beruht darauf, Risiken gemeinschaftlich zu tragen. Jeder Fahrtenschreiber aber heißt, ich trage niemandes Risiko mit. Ich will den Profit meines Verhaltens für mich allein. Ein zutiefst neo‑liberales Modell von Wirtschaftlichkeit, das in individuelle Belohnungseinheiten den größten denkbaren gesellschaftlichen Nutzen sieht.
    Dieser Nutzen ist berechenbar, eine zweiprozentige Reduktion meines Versicherungsbeitrags sehe ich sofort. Aber sehe ich das andere auch? Die Mathematikerin Cathy O’Neil kritisiert etwa, dass einige US-amerikanische Versicherer den Wohnsitz höher bewerten als das tatsächliche Fahrverhalten. Was bedeutet, dass wer in einem armen, überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtteil wohnt, einen höheren Versicherungsbeitrag bezahlt als einer, der in einer überwiegend weißen Vorstadt ein Haus besitzt, aber schon mal wegen Trunkenheit am Steuer bestraft wurde. Algorithmen schaffen keinen neuen Wohlstand, sie verteilen ihn um. Es werden viele davon profitieren, aber dieses Geld werden andere aufbringen, aufbringen müssen.
    Dieser Versicherungs-Algorithmus ist korrekt berechnet. Ja. Aber ist er deswegen auch schon neutral? Wieso hat eine Voreinstellung von Youtube alle Coming‑Out‑Bekenntnisse von Schwulen als unangemessenen Inhalt klassifiziert? Wie ist es möglich, dass die zuletzt von den Nazis großzügig geförderte Pseudowissenschaft der Phrenologie, der Schädelvermessung zur Rasse- und Persönlichkeitsbestimmung, jetzt bei einigen Programmen zur Gesichtserkennung benutzt wird? Berechnungen, mathematische Programme sind nicht neutral, nicht neutraler als Menschen. Ihr einziger Vorzug: ihre Code-Kausalität. Im vorgegeben System erfolgt alles wie berechnet. Wer aber macht die Vorgaben?
    Das Geheimnis gehört uns. Jeder hat das Recht, es preiszugeben. Aber das ist nicht nur eine individuelle Entscheidung. Sie hat auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Das Geheimnis schützt den Bürger vor einem übermächtigen Staat. Aber Geheimnisse zu wahren, bedeutet eben auch, ein Bild von einer Gesellschaft zu haben, in dem nicht wenige bestimmen, wie Leben aussieht, was gerecht ist und wer sich normkonform verhält. Das Geheimnis ist eine Selbstermächtigung. Diese Macht preiszugeben, ist der wirkliche Preis unserer Datenschluderei. Das Billige kommt uns teuer zustehen.