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Ein fast zeitlos anmutendes Memento mori

"Alles, was draußen ist" mag ein Debüt sein, aber es ist nicht der Text einer Anfängerin. Die Novelle erzählt poetisch verdichtet vom Körper als Gehäuse, vom Körper, der unser Gedächtnis ist - und von der Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebendigen.

Von Sabine Peters | 08.11.2013
    "Erste Bücher" kreisen häufig um das eigene Ich: Wer bin ich, wer hat mich geprägt, wer will ich sein, warum klaffen meine Wünsche und die Wirklichkeit so weit auseinander. Erste Bücher "müssen" geschrieben werden. Sie sind oft aufbrausend und ungeschickt, dann wieder hoch auffliegend. Erste Bücher kommen cool daher und versuchen dabei auch wieder ganz brav, den Markt zu bedienen. Erste Bücher sind sehr oft vorhersehbar.

    Das Debüt von Saskia Hennig von Lange, eine Novelle mit dem Titel "Alles, was draußen ist", stellt eine Ausnahme unter den Erstveröffentlichungen dar. Schon die Genrebezeichnung "Novelle" grenzt sich von Mehrheitserwartungen ab: Novelle, das klingt ehrwürdig und/oder angestaubt – und tatsächlich spielt dieses Buch in einem Museum, das eigentlich geschlossen werden könnte, weil sich nie ein Besucher blicken lässt.

    Saskia Hennig von Lange, Jahrgang 1976, studierte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte, aber auch von dieser biografischen Angabe aus scheint keine Spur an den Ort zu führen, von dem sie erzählt – denn dort wird nicht Kunst ausgestellt.

    Es geht um ein anatomisches Museum, in dem präparierte Organe, Totenmasken und Skelette verwahrt werden. Der Ich-Erzähler ist krank, er wird höchstens noch ein Jahr lang leben. Das scheint den Mann nur wenig zu beeindrucken. Er wohnt in einem kleinen Zimmer auf dem Dachboden; im Haus gibt es eine nebulöse "Untendrunterwohnerin", die er gelegentlich grüßt, und es gibt die Museumsräume. Da ist das "Knochenzimmer", die osteologische Abteilung, wo die Skelette wie Anzüge in einem Schrank hängen. Da gibt es Kupferstiche von hautlosen Muskelmännern, Gläser mit unansehnlich gewordenen Feuchtpräparaten und immer wieder Totenmasken, darunter auch eine, die Robespierre gehört haben soll.

    All das muss katalogisiert werden, sonst kann man es wegwerfen. Wohlgemerkt: Es handelt sich bei dieser Novelle nicht um eine billige Gruselnummer; der Mann ist nicht morbide veranlagt, sein Tonfall ist präzise, sachlich, und er wirkt in seiner Einfachheit oft unerwartet berührend. "Ich blieb immer hier drinnen", so heißt der erste Satz seines Berichts, und er lässt sich doppelt lesen: Der Mann hält sich überwiegend bei seinen Schätzen im Haus auf. Aber das "Haus", das ist auch sein eigener Körper, ein Raum im Raum.

    Er weiß, dass unter seiner Haut sein künftiger Totenschädel liegt. Sein ganzer Körper wird bald weg sein; und seine Kleidung wird länger halten als er selbst. Er stellt sich vor, die "Untendrunterwohnerin" würde später seinen Schädel öffnen, etwas von seinem Hirn auf dem Tisch wie eine Karte ausbreiten, dann könnte sie auf eine Windung zeigen und sagen: "Hier steckst du." Aber nein, auch da wäre er nicht zu finden. Wer ist das, "ich"?

    Saskia Hennig von Lange stellt diese alte Frage, die oft mehr oder weniger gemütlich und konkret beantwortet wird, auf bestürzend fremde, auf existenzielle Weise. Sie verwendet keine Ausdrücke wie Seele, Identität, Transzendenz; sie vermeidet philosophisches, psychoanalytisches oder gar religiöses Vokabular. Und doch hat sie ein bewundernswert konsequentes, tiefgründiges und formvollendetes Buch über "letzte Fragen" geschrieben, ein fast zeitlos anmutendes Memento mori. Diese Mahnung "gedenke des Todes" weist nicht nur auf unsere Sterblichkeit hin, sondern führt den Mann auch mitten ins Leben, in die Welt des Organischen und Sinnlichen.

    Es geht der Autorin allerdings nicht um die schamlose Erkundung von Feuchtgebieten aller Art. Die Notate ihres scheuen Museumshüters wirken so behutsam, als gelte es, ein Geheimnis zu schützen. Die Hand einer Frau, die ihm in einer Nacht mal unters Hemd fuhr, ihr Klopfen an seine Brust wie an eine Fensterscheibe, diese wiederkehrende Erinnerung ist fast das äußerste an Intimität, was man hier liest. Intimität, also die furchtlos innige Verbindung, bedeutet ganz konkret und ganz abstrakt, dass sich ein Körper öffnet, dass er durchlässig wird. Wer bin "ich", wo sind die Grenzen zwischen Innen und Außen, was prägt "mich"?

    Der Mann sucht nach den Spuren, die ein Lebewesen im anderen hinterlässt. Von seiner Mutter mit ihren immer gleichen Verbotssätzen muss doch in seinen Ohren noch eine Stimmspur zurückgeblieben sein, ein Abrieb oder ein Kratzer, denkt er und präpariert geduldig Innenohren von Tieren, auch bei ihnen müsste sich doch irgendetwas eingegraben haben. Grenzen verschieben sich: Das Reale wird durchlässig für das Imaginäre und Symbolische.

    Es ist beeindruckend, wie hier noch einmal literarisches Neuland begangen wird, eine Gegend, die allerdings auch ein Echoraum ist: Man hört hier Anklänge an Georg Büchner, oder auch an die absolute Prosa Anne Dudens.

    "Alles, was draußen ist" mag ein Debüt sein, aber das ist nicht der Text einer Anfängerin. Auch dies ein erstes Buch, das "geschrieben werden musste". Doch nicht, um sich der eigenen, mehr oder weniger exemplarischen Person zu vergewissern. Diese Novelle erzählt poetisch verdichtet vom Körper als Gehäuse, vom Körper, der unser Gedächtnis ist – und von der Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebendigen.

    Saskia Hennig von Lange: "Alles, was draußen ist. Eine Novelle".
    Jung und Jung, 120 Seiten, 16,90 Euro