Freitag, 29. März 2024

Archiv

„Ein Freitod“ von Steffen Kverneland
Eine Graphic Novel als Trauerarbeit

Als Steffen Kverneland 18 Jahre alt ist, nimmt sich sein Vater das Leben. Fast 40 Jahre später geht er als erfolgreicher Comicautor dem Suizid in einer preisgekrönten Graphic Novel mit persönlichen Erinnerungen und beeindruckenden Bildern auf den Grund. Kein Alltagsgeschäft für einen Comiczeichner.

Von Andrea Heinze | 22.07.2019
Auf dem Bild ist ein Ausschnitt aus der Graphic Novel "Ein Freitod" von Steffen Kverneland zu sehen. Der Zeichner vermischt darauf gezeichnete Motive mit echten Fotografien.
Ein Ausschnitt aus der Graphic Novel "Ein Freitod" von Steffen Kverneland (avant-verlag)
Auf dem ersten Bild hat sich Steffen Kverneland als kleinen Jungen auf dem Schoß seines Vaters gezeichnet, wie er sich an ihn schmiegt, während der Vater lachend die Hüften seines Sohnes umfasst. Ein Bild voll familiärer Geborgenheit, das unter einem weißen Schleier verschwindet, wie eine verblassende Erinnerung. Kverneland übertüncht die feine, schwarz-weiße Pinselzeichnung gekonnt mit Deckweiß.
Doch der Tod seines Vaters schmerzt ihn bis heute: "So richtig akut wurde das noch einmal, als ich einen kleinen Jungen aus Vietnam adoptiert habe. Da wurde ich selbst Vater, und plötzlich habe ich angefangen, über meinen Vater nachzudenken und meine Beziehung zu ihm. Es war, wie eine Zeitmaschine: Wenn ich meinen Sohn angeschaut habe, habe ich auch meine eigene Kindheit gesehen. Und dann habe ich angefangen, alte Familienalben herauszuholen. Als ich mir die Fotos angeguckt habe, war alles wieder da."
"Dieser Stoff hat so viel Kraft"
Wie der Vater ihm Comics des Western-Helden Blueberry mitbringt, wenn Kverneland krank ist, zum Beispiel. Wie er sich als Kind im Bett an ihn kuschelt und an den dicken Muttermalen zieht, die aus dem Netzhemd herausragen. Und wie er nach dem Suizid gegen das Mitgefühl ankämpft, weil ihn dieser traumatische Einschnitt jedes Mal hemmungslos heulen lässt.
Solche Erinnerungen - alltäglich und intim zugleich - streut Steffen Kverneland in seinen Comic ein bei seinem Ziel, den Grund für den Freitod zu ergründen: "Ich habe immer wieder in meinem Büro geweint, als ich an der Geschichte gearbeitet habe. So etwas ist kein Alltagsgeschäft für einen Comiczeichner. Aber ich dachte, dieser Stoff hat so viel Kraft, dass ich das machen will."
Steffen Kverneland zeigt immer wieder Parallelen auf zwischen ihm als frischgebackenen Vater und seiner eigenen Kindheit. Man sieht ihn als Elternteil mit dem adoptierten Sohn auf dem Schoß. Ein anderes Bild zeigt Kverneland am Zeichentisch. Gleich daneben ist ein Bild des Vaters, der als Erfinder an demselben Zeichentisch getüftelt hatte.
Es ist verblüffend, wie sich ihre Haltung und der konzentrierte Blick ähneln. Das zeigen auch die Familienfotos, die immer wieder als echte Abdrucke im Comic auftauchen. Und doch gibt es einen fundamentalen Unterschied: Anders als der junge Kverneland hat der Senior eine endogene Depression und, wird geplagt von Suizidgedanken. Der Comickünstler sucht Jahre später nach Indizien für die Schwermut des Vaters. Da sind die leeren Wodka-Flaschen, die der Vater immer wieder zu verbergen versuchte. Bei seiner Reise in die Vergangnheit merkt er auch: die Erinnerungen trügen.
"Man kann Erinnerungen nicht zu 100 Prozent trauen"
"Ich war schockiert, als ich merkte, dass einiges, bei dem ich mir sicher war, dass es genau so abgelaufen ist, gar nicht stimmen konnte. Ich musste meine Erinnerung korrigieren. Und das wollte ich auch im Buch zeigen. Ich habe versucht, so ehrlich wie möglich zu sein – und trotzdem ist das Buch nicht 100 Prozent wahr: weil man Erinnerungen nicht zu 100 Prozent trauen kann. Ich glaube, das zeigt auch die Wissenschaft, dass Erinnerungen nicht ein Archiv im Gehirn bilden, sondern dass die sich immer wieder verändern, wenn man darüber nachdenkt."
Und so erscheint ihm die Figur des Vaters ambivalent: Ein Mensch, der sich liebevoll um seine Kinder kümmert. Der aber schnell und oft vernichtend über andere urteilt. Ein Mensch, der mit seinem Akkordeon und seiner guten Laune jede Familienfeier zum Erfolg macht. Und der sich dann wieder tagelang in seine einsame Berghütte zurückzieht.
Die Zeichnungen dazu sind so unterschiedlich, wie die Erinnerungen: manche sind bunt, andere schwarz-weiß, manche mit scharf umrissenem schwarzen Strich gezeichnet, bei anderen verschwimmen die Konturen im Pinselstrich. Es ist, als würde man dem Comickünstler beim Nachdenken und der Recherche zuschauen - und wie das Unterbewusstsein ihm zufällig immer neue Erinnerungen schickt.
"Das mag beim Lesen so aussehen, aber es ist durch und durch kalkuliert. Ich habe die Szenen und Fragmente immer wieder verschoben und versucht, neue Beziehungen herzustellen. Ich habe die zusammengepuzzelt wie ein Mosaik. Ich bin sehr froh, dass das wie ein Stream of Consciousness wirkt, denn das bedeutet, der Comic hat genau den Flow, den ich wollte."
"Das ist nicht böse, das ist tragisch"
Steffen Kverneland findet am Ende der Graphic Novel "Ein Freitod" keinen stichhaltigen Grund dafür, warum sich sein Vater das Leben genommen hat. Dafür gelingt ihm etwas Außergewöhnliches: Der Vater wird in seinen ganz unterschiedlichen Facetten lebendig – genauso wie die Beziehung, die der Comickünstler zu ihm hatte.
Für Steffen Kverneland war die Graphic Novel eine intensive und am Ende heilsame Art der Trauerarbeit – für die Leser ist "Der Freitod" eine eindrückliche und bewegende Geschichte über den Umgang mit dem Suizid.
"Es geht um emotionalen Schmerz und darum, wie man mit Selbsttötung fertig wird. Manche Hinterbliebene verbittern und beschuldigen die Opfer, dass sie ihre Familie verlassen haben. So geht es mir nicht. Mein Vater wollte uns nicht verletzen. Er hat sich umgebracht, weil er nicht am Leben bleiben konnte. Das ist nicht böse, das ist tragisch."