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Ein großer, großer Berg

Die Geigerin Isabelle Faust und der Pianist Alexander Melnikov haben eine Gesamteinspielung der Beethovenschen Violinsonaten vorgelegt. Beide Instrumentalisten, darauf legt das CD-Label "harmonia mundi france" großen Wert, werden als gleichwertig präsentiert.

Von Maja Ellmenreich |
    "harmonia mundi HMC 902025.27 – LC 7045"
    Isabelle Faust, Violine
    Alexander Melnikov, Klavier

    Vor einem großen, großen Berg sah sich Isabelle Faust stehen. Und so recht wusste sie nicht, ob sie wohlbehalten auf der anderen Seite ankommen würde – gesteht die Geigerin im Interview. Dieses beklemmende Gefühl empfand sie vor drei Jahren, als sie sich mit ihrem Klavierpartner Alexander Melnikov auf den Weg machte: Fünf Violinsonaten rauf, fünf Violinsonaten runter. Der Berg, den es zu bezwingen galt, hieß Ludwig van Beethoven. Und das Duo Faust-Melnikov hat sein Ziel erreicht, eine grandiose Gesamteinspielung der Sonaten ist entstanden, Furcht und Anstrengung haben sich gelohnt.

    "Ludwig van Beethoven: III. Allegro vivace
    aus: Sonate für Violine und Klavier Nr. 8 G-dur, op. 30 Nr. 3"

    Auch wenn man es mit aller Macht versucht - man kann sich dieser Musik nicht entziehen. Einer der ersten, der die Macht der Beethovenschen Musik entdeckte, war der schreibende Komponistenkollege E.T.A. Hoffmann, der ihr "ein fortdauerndes, immer steigendes Treiben und Drängen" attestierte. Bei aller Präzision, Klangschönheit und technischen Meisterschaft liegt das Hauptverdienst von Isabelle Faust und Alexander Melnikov wohl darin, sich dieses "Treiben und Drängen" zueigen zu machen: Sie nehmen die Kraft auf und steigern sie auf ganz natürliche Art und Weise, stemmen sich weder dagegen, noch versuchen sie, sie künstlich zu verstärken.

    Dieses Phänomen hat allerdings nichts mit Tempo zu tun. Es ist nicht bloß in den Presto-, Allegro- und Allegretto-Sätzen der zehn Sonaten zu spüren. Das "Treiben und Drängen" erfasst einen umso mehr in den langsamen Sätzen – wie etwa im "Adagio con molt'espressione", dem mittleren Satz der frühen Es-dur-Sonate, den Alexander Melnikov und Isabelle Faust ganz zart pulsieren lassen.

    "Ludwig van Beethoven: II. Adagio con molt'espressione
    aus: Sonate für Violine und Klavier Nr. 3 Es-dur, op. 12 Nr. 3"


    Isabelle Faust, Violine, und Alexander Melnikov, Klavier. Es verbietet sich gleich in mehrfacher Hinsicht der Satz "Isabelle Faust wird begleitet von Alexander Melnikov". Das liegt zum einen an der Gattungsgeschichte der Violinsonate, von deren Traditionen sich Beethoven erst im Laufe seiner zehn Werke entfernt. Zu Beginn komponiert auch er, selbst ein begnadeter Pianist, Sonaten für Klavier und Violine: Das Tasteninstrument führt, das Saiteninstrument folgt. Von Sonate zu Sonate erst kommt Beethoven der instrumentalen Gleichberechtigung näher, die vor ihm schon Mozart angestrebt hatte. Musikhistorisch gesehen ist es also richtig, dass auf der Vorderseite der neuen CD-Box dem internationalen Musikmarkt die "Complete Sonatas for piano and violin"
    angekündigt werden.

    Dem kammermusikalischen Miteinander der zwei gleichrangigen Interpreten aber wird es gerecht, wenn dann auf der Rückseite umgekehrt von den "Complete Sonatas for violin and piano" die Rede ist. Gleiches Recht für beide: gleich große Fotos auf dem Cover, beide Namen gleich groß geschrieben. Das CD-Label "harmonia mundi france" betreibt keinen Geigerinnen-Starrummel, sondern konzentriert sich auf das Wesentliche: auf die Musik. Das weiß Isabelle Faust zu schätzen, die Mitte der 90er bei der Plattenfirma ihr künstlerisches Zuhause gefunden hat. In einem Interview lobte sie kürzlich die Langfristigkeit, die Qualitätsansprüche und die familiäre Treue in der Zusammenarbeit. "Ich bin in einer extrem glücklichen Situation", schwärmte die sonst nicht zum emotionalen Überschäumen neigende Künstlerin.


    Extrem glücklich ist sie auch mit ihrem Klavierpartner Alexander Melnikov – das hört man auch in dieser Einspielung. Seit über sieben Jahren musizieren die beiden miteinander. Miteinander musizieren, aufeinander hören – nicht selten gelingt ihnen das so berührend wie zu Beginn des Andante aus opus 23.

    "Ludwig van Beethoven: II. Andante scherzoso
    aus: Sonate für Violine und Klavier Nr. 4 a-moll , op. 23"

    Zeitgenossen reagierten nicht selten mit Ablehnung auf die Violinsonaten des Ludwig van Beethoven: Mangelnde Natur, mangelnder Gesang wurde ihnen vorgeworfen. Unverständlich seien sie. Die berühmte Kreutzer-Sonate bezeichnete sogar ein Kritiker als "ästhetischen und artistischen Terrorismus". Befremden und Unverständnis auf der einen, schiere Begeisterung auf der anderen Seite, zu der – das versteht sich von selbst – Isabelle Faust und Alexander Melnikov zählen. Auf vier Aufnahmeperioden haben sie die zehn Sonaten aufgeteilt und dabei die Werke zum Teil noch einmal ganz neu kennen gelernt. Es sei lediglich eine Momentaufnahme - diese Gesamtaufnahme: Eines Tages könnte ihre Interpretation ganz anders klingen, mutmaßt Isabelle Faust im Interview auf der beiliegenden DVD, einem dreiviertelstündiges "Making of".

    Solch eine audiovisuelle Beigabe wirkt erst einmal etwas großspurig, ist der Blick hinter die Kulissen doch normalerweise Teil der gigantischen Marketingoffensive von Hollywood-Blockbustern. Doch die ehrfurchtsvollen Aussagen der beiden Musiker zu Beethovens Violinsonatenschaffen hat so gar nichts Anmaßendes, sondern ebnet den Zugang zur Musik. Faust und Melnikov erzählen, wie akribisch sie sich auf die Aufnahmen vorbereitet, wie sie die Autografe eingesehen haben, sie beschreiben das Provokante, das Universelle an Beethovens Musik. Kurzum: Sie liefern praktische Höranweisungen. Und sie lassen sich von der Kamera in Momenten beobachten, in denen sich Künstler selten über die Schulter schauen lassen: beim Zwiegespräch mit dem Tonmeister, beim Abhören im Regieraum und bei der Diskussion darüber, wie viele musikalische Details nützen und wie viele schaden. Aber auch beim Ausgleichssport ist die Kamera dabei: am Kickertisch und an der Fernbedienung eines Spielzeughubschraubers, den Alexander Melnikov durch das Aufnahmestudio schweben lässt. In jedem guten "Making of", in jeder "Homestory" muss es schließlich menscheln.

    "Ich glaube, wir machen eine kleine Pause!"

    "Eine kleine Pause? Na so was! Was ist los bei Euch?

    "Hunger!"

    "Hunger? Meine Güte!"

    Und nachdem wir auch miterleben durften, wie Isabelle Faust eine Aufnahmepause einfordert, weil ihr – allzu menschlich! - der Magen knurrt, kann es wieder zurückgehen zu dieser geradezu übermenschlichen Musik, die Faust im Interview als universell bezeichnet hat. Jede der zehn Violinsonaten besitzt einen ganz eigenen Ausdruck, und dennoch steckt in jedem Werk auch ein wenig von allem. Die ganz großen Gefühle – Wut und Trauer, Zuversicht und Freude – von allem etwas, und das innerhalb nur weniger Minuten. Wie im wahren Leben!

    Und Isabelle Faust und Alexander Melnikov beherrschen meisterlich, was sich so manch einer von uns in besagtem wahren Leben so sehnlich wünscht. Nämlich, sich nur dann aufzuregen, wenn es wirklich nötig ist. Gelassenheit und Wut – alles zu seiner Zeit!

    "Ludwig van Beethoven: I. Presto
    aus: Sonate für Violine und Klavier Nr. 4 a-Moll , op. 23"

    Ein großes Wort, mit dem man vorsichtig sein muss, das hier aber angebracht ist: die neue Referenzaufnahme der zehn Violinsonaten von Ludwig van Beethoven mit der Geigerin Isabelle Faust und dem Pianisten Alexander Melnikov. Vier CDs und eine DVD sind in einer hübschen aber nicht gerade handlichen Verpackung bei dem Label "harmonia mundi France" erschienen und hier im Deutschlandfunk eindringlich empfohlen.