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"Ein grüner Junge"
Zu lang, aber lässig - Castorf inszeniert Dostojewski

Frank Castorf ist zum reisenden Regiestar geworden. Für die Inszenierung des letzten Dostojewski-Romans hat er sich Köln ausgesucht. Die Uraufführung des fast unbekannten Werks „Ein grüner Junge“ dauerte sechs Stunden. Zu lang, zu verwirrend, aber mit einer lässigen, glamourösen Ensemble-Leistung.

Von Dorothea Marcus | 02.11.2018
    Peter Miklusz (auf Leinwand), Melanie Kretschmann und Nikolay Sidorenko in "Ein grüner Junge" am Schauspiel Köln
    Peter Miklusz, Melanie Kretschmann und Nikolay Sidorenko in "Ein grüner Junge" am Schauspiel Köln (Thomas Aurin)
    Eine wunderschöne, nebelumdampfte russische Datscha hat Aleksandar Denić ins Kölner Depot I gebaut, grün angelaufen sind die pittoresken Zierfriese, innen erahnt man: Samoware, Silberbecher, Mustersofas. Und natürlich eine riesige Leinwand, denn gefilmt wird wie immer bei Castorf viel. Achthundert Seiten lang ist der verwirrende und eher unbekannte Roman "Ein grüner Junge", erzählt in Ich-Form vom unehelichen Kind Arkadij Dolgorukij. Ausgestoßen und gedemütigt, jagt er lebenslang seinem zwielichtigen Vater hinterher.
    "Ich wiederhole: Meine Idee ist ein Rothschild zu werden! So reich. Warum weshalb welche Ziele ich damit verfolge? Davon viel, viel später. Zunächst einmal möchte ich Ihnen nur beweisen, dass das Erreichen meines Ziels mit mathematischer Sicherheit garantiert ist. Das Geheimnis liegt in Beharrlichkeit ! Und Ausdauer.
    Permanente Demütigungen
    In Köln wird Arkadij vom in Moskau geborenen Nikolay Sidorenko gespielt, in grünem Anzug, fantastisch schwankend zwischen Entschlossenheit und Einsamkeit, Sehnsucht und Selbstbetrug. Seinem Vater und seiner Mutter nahe kommen wird er nie, permanent prasseln Demütigungen auf ihn ein.
    "In dieser Minute habe ich dich durchschaut! Nicht genug, dass du damals ein Lakai warst, Du bist immer noch ein Lakai und du hast eine Lakaienseele! Dein Vater! Er hätte gut daran getan dich zu einem Schuster in die Lehre zu bringen. Nein, du würdigst es nicht, dass er dich zur Universität brachte!"
    Der gesellschaftliche Aufstieg wird Arkadij nicht gelingen. In einer Gesellschaft, in der Kapitalismus zum Religionsersatz geworden und alle Beziehungen zerfallen sind, bekommt er die Liebe nicht geschenkt. Es ist schon erstaunlich, wie gut Castorf aus dem Kölner Ensemble eine nie gesehene fiebrige Energie und glamouröse Lässigkeit holt.
    Überholtes Konzept: Notgeiler Mittelstandsmann
    Als Arkadijs älteres Ich manifestiert sich immer wieder Bruno Cathomas, einst Volksbühnen-Spieler der ersten Stunde. An diesem Abend ist er aber zugleich der alte, kranke Mann Europa und verkörpert, wenn er sich Bademantel und Greisenmaske angezogen hat, eine sieche Gesellschaft, in der sich das Konzept notgeiler Mittelstandsmann irgendwie überholt hat. Während er über die weibliche "Suche nach Unterordnung" schwadroniert, rasen die fünf Darstellerinnen vor ihm in Spaghetti-Trägern, roten Overknee-Stiefeln und Fransen-Stolen über die Bühne – und sehen extrem sexy aus. Castorf scheint sich seit seiner "Faust"-Inszenierung an Me-Too-Themen abzuarbeiten – und schafft es doch nicht, seinen zugleich verliebten und abschätzigen Blick auf Frauen abzulegen.
    Aktuelle Bezüge zu Mobbing-Vorwürfen
    Absurd weit treibt Castorf das Kölner Ensemble in jene typische gebrüllte Entäußerung, die für ihn charakteristisch ist. Manchmal wirkt das aufgesetzt, manchmal schlägt das Funken, auch aktuelle – wenn Melanie Kretschmann etwa auf die Mobbing-Vorwürfe im Spiegel anspielt oder Cathomas auf seine schwer mitgenommene Stimme. Grandiose Videoszenen werden aus der Datscha projiziert: die Begegnung von Sohn und Vater etwa, am Ende derer sich Arkadij schluchzend ans Kissen klammert und Peter Miklusz als sein Vater zynisch-blasierte Lippenbekenntnisse von sich gibt.
    "Weißt du übrigens, ich habe die Hoffnung aufgegeben dass du uns allen verzeihen wirst. Hier geht es nicht um Schuld! Keineswegs! Ich beklag mich nicht über Tourchard. Ich bin auch nicht gekränkt! Touchard hat mich nur zwei Monate durchgeprügelt."
    Zerfall einer Gesellschaft
    Die ersten drei Stunden des Abends vibrieren vor Energie und Witz. Stringent erzählen sie von einem vernachlässigten und traurigen Jungen und der Vergeblichkeit seines Aufstiegswillens. Nach der Pause, franst es dann aus, mäandert in einer Geschichte, der man nicht mehr folgen kann. Langatmig und verwirrend bewegt sich Arkadij durch Petersburger Roulette- und Revolutionskreise, ist fast ausschließlich Schauspiel auf Video zu sehen, ein Höhepunkt sind immer wieder die Auftritte der französischen Gastschauspielerin Tiffaine Raffier, die Baudelaire zitiert oder als Engel des Untergangs auf dem Boot rudert. Nicht nur ein verschwenderischer russischer Musikteppich, auch ein düsterer Warnton liegt über der Inszenierung: der Zerfall einer Gesellschaft, die ausschließlich auf kapitalistische Verwertungsstrategien setzt, ist unausweichlich. Wäre das doch nur schneller erzählt.