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Ein "historischer Tag für unseren Sozialstaat"

Das Bundesverfassungsgericht stelle sich schützend vor die Kinder von Hartz-IV-Empfängern, sagt Wohlfahrtsverbandschef Ulrich Schneider. Die Bundesregierung sei dazu aufgefordert worden, sicherzustellen, dass Kinder "auf bescheidenem Niveau teilhaben können an dieser Gesellschaft".

Ulrich Schneider im Gespräch mit Stefan Heinlein | 09.02.2010
    Stefan Heinlein: Kaum ist die Bundesregierung dabei, unter Mühen das Jobcenter-Urteil aus Karlsruhe politisch zu verarbeiten, muss Berlin heute erneut eine bittere juristische Ohrfeige des Bundesverfassungsgerichtes verkraften. Die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Erwachsene müssen neu berechnet werden, so das klare Urteil am heutigen Vormittag. Bis Ende des Jahres hat nun die Bundesregierung Zeit für die notwendigen Neuregelungen. Sicher ist bereits: Das Urteil wird teuer für den Steuerzahler. Am Telefon nun der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Guten Tag, Herr Schneider.

    Ulrich Schneider: Schönen guten Tag!

    Heinlein: Ist das heute auch ein guter Tag für die Familien von Langzeitarbeitslosen?

    Schneider: Absolut! Endlich mal wieder hat der Begriff der Menschenwürde im Mittelpunkt der Diskussion gestanden und nicht die Kosten und nicht die Frage, wie man hier Bedarfe von Hartz-IV-Beziehern und gerade Kindern nach Möglichkeit so klein rechnet, dass es finanzierbar bleibt. Das war schon ein wirklich sehr wichtiger und historischer Tag für unseren Sozialstaat.

    Heinlein: War Hartz IV bisher menschenunwürdig? Kann man das Karlsruher Urteil tatsächlich so lesen?

    Schneider: Eines ist völlig klar: Das Bundesverfassungsgericht sah sich aufgerufen, die Kinder und die Würde der Kinder zu schützen vor der Hartz-IV-Gesetzgebung, und die Bundesregierung ist nun aufgefordert worden, hier ein transparentes Verfahren der Bedarfsfeststellung einzuführen, wo tatsächlich sichergestellt wird, dass Kinder wenigstens auf bescheidenem Niveau teilhaben können an dieser Gesellschaft.

    Heinlein: Wie kann denn dieses transparente Verfahren künftig aussehen?

    Schneider: Das Gericht hat gesagt, dass die Grundlage schon in Ordnung ist, also die Einkommens- und Verbrauchstichprobe, mit der man das macht. Nur sind viele Setzungen sehr willkürlich ausgefallen, nicht nachvollziehbar gewesen und offensichtlich vom Finanzdiktat geprägt, und hier werden wir hinkommen und müssen jetzt ganz genau schauen, was sind die Bedarfe, die ein Kind hat, was sind eigentlich die besonderen Güter, die ein Kind braucht. Wir haben es vorhin in dem Beitrag gehört, vom Taschenrechner bis hin zum Füller oder auch zum Sportverein, zum Musikunterricht. Was also muss ich einem Kind mindestens bieten, um menschenwürdig aufwachsen zu können. Und wenn wir das berechnet haben, dann kann man sagen, wie hoch eigentlich der Unterstützungsbedarf eines Kindes, das im Hartz-IV-Bezug ist, ist.

    Heinlein: Das Geld, Herr Schneider, das künftig ja wohl mehr fließen wird an die Familien, kommt ja zunächst den Eltern zugute. Wie kann denn sichergestellt werden, dass dieses Mehrgeld tatsächlich für die Kinder ausgegeben wird, tatsächlich für mehr Bildung etwa?

    Schneider: Sie können grundsätzlich nie sicherstellen, dass Geld ausgegeben wird zielgerichtet und für Kinder. Wenn wir feststellen, dass insbesondere bei der Ernährung die Sätze so bemessen sind, dass man damit überhaupt kein Kind über den Monat bringen kann, dann fließt das in die gemeinsame Küche rein, ist doch selbstverständlich. Und wenn man feststellt, dass Zoobesuche völlig ausgeschlossen sind für Kinder, dann wird das Kind nicht alleine hingehen, dann wird die Familie hingehen. Was die Angst ausmacht, die bei manchen da ist, dass hier Geld schlicht auch einfach vertrunken werden könne oder Ähnliches, da kann man beruhigen. Alles was wir aus der Praxis wissen, alles was die Statistiken hergeben, sagt, dass gerade einkommensschwache Familien zuletzt bei den Kindern sparen, in der Regel zuerst bei den Eltern. Das ist so. Wir haben sicherlich leider einen kleinen Prozentsatz, wo auch Suchtprobleme eine Rolle spielen, wo Probleme eine Rolle spielen, dass Familienstrukturen völlig desorganisiert sind, aber das sind zum Glück wirklich nur eine kleine Gruppe und die kann man auch in der Tat nicht alleine mit Geld versorgen, sondern da braucht es handfeste soziale Arbeit.

    Heinlein: Was halten Sie denn vor diesem Hintergrund von dem Gedanken, von den Plänen, Gutscheine für Bildung etwa auszugeben? Gibt das Karlsruher Urteil diese Möglichkeit her?

    Schneider: Das gibt es her, aber ich halte Gutscheine an sich für ein außerordentlich kompliziertes Verfahren. Ich halte mehr davon, dass man vor Ort direkt die Infrastruktur anbietet, dass man also hingeht und schulische Angebote vorhält auch am Nachmittag, dass man hingeht und die städtischen Musikschulen öffnet für einkommensschwache Kinder, dass man Familienpässe ausgibt, die dann auch den Besuch eines Zoos und anderes erlauben. Das ist sicherlich eine wesentlich einfachere Variante, hier einkommensschwachen Kindern Teilhabe zu ermöglichen, als ein kompliziertes Gutscheinsystem, was letztlich nur wieder zu mehr Verwaltung führt.

    Heinlein: Schwindet jetzt, Herr Schneider, nicht aber auch der Anreiz für Väter und Mütter, sich einen Job zu suchen, weil sie künftig besser mit Hartz IV über die Runden kommen?

    Schneider: Wir müssen aufpassen in der Tat, dass durch eine deutliche Erhöhung der Regelsätze – darauf läuft es heraus – hier nicht viele Erwerbstätige plötzlich zu Hartz-IV-Beziehern gemacht werden. Das können wir nicht wollen. Deswegen denke ich, dass wir in der Beantwortung der Frage, was ein Kind braucht, einen vernünftigen Mix brauchen aus Geldleistungen für Güter des täglichen Bedarfs wie Kleidung und Ernährung, aber eben auch Infrastrukturleistungen gerade im Bereich Sport, Kultur und Bildung.

    Heinlein: Wie groß muss denn der Unterschied sein zwischen den untersten Lohngruppen und Hartz IV, damit sich Arbeit tatsächlich lohnt? Es geht um das viel diskutierte Lohnabstandsgebot.

    Schneider: Im Moment haben wir bei den einzelnen Haushalten einen Unterschied von 50 Prozent bei alleine lebenden Haushalten, bis zu 18 Prozent bei Ehepaaren mit drei Kindern. Also der Unterschied ist in der Regel da und wir stellen fest bei immerhin 1,4 Millionen Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind und aufstocken, die also durchaus arbeiten und davon rund 500.000 sogar Vollzeit, dass es offensichtlich nicht das Problem ist, dass die Menschen nicht arbeiten wollen, wenn sie eine Chance haben, tun sie es sogar dann, wenn sie kaum mehr haben, als wenn sie es nicht täten, sondern es ist offensichtlich ein Problem, dass keine Arbeit da ist.

    Heinlein: Wie viel Spielraum hat denn nun der Gesetzgeber, um die Vorgaben aus Karlsruhe zu erfüllen? Heißt das in jedem Fall mehr Geld für Langzeitarbeitslose?

    Schneider: Darauf läuft es heraus. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es verschiedene Abschläge, die vorgenommen wurden bei den statistischen Berechnungen, mit denen praktisch die Bedarfe klein gerechnet wurden, nicht nachvollziehen konnte, und das kann man auch nicht nachvollziehen, denn das war willkürlich und es ging nur darum, Kosten zu sparen. Wenn man jetzt eine saubere und transparente Berechnung vornehmen wird, gerade was Kinderbedarfe anbelangt, werden die Kosten auf jeden Fall für die Gemeinschaft steigen.

    Heinlein: Hätten Sie sich gewünscht, dass Karlsruhe genau festlegt, wie hoch die Leistungen künftig ausfallen müssen?

    Schneider: Nein. Karlsruhe kann nicht festlegen, wie hoch Leistungen ausfallen müssen, denn dazu bräuchte es einen ganz anderen Apparat, und es soll auch Sache des Gesetzgebers bleiben, solche Dinge zu regeln. Es ist eine politische Frage im Grunde genommen und keine juristische Frage. Deswegen hat Karlsruhe, wie ich finde, sehr weise entschieden zu sagen, wir prüfen, ob hier möglicherweise der Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt ist, nämlich das Ziel der Menschenwürde, und da gab es eine Verletzung, mehr tun wir erst mal nicht.

    Heinlein: Es ist auch Aufgabe des Staates festzulegen, woher das Geld für Hartz-IV-Empfänger kommen soll, dieses Mehrgeld. Haben Sie da einen Vorschlag?

    Schneider: Ich denke, wir haben einige Reserven bei uns noch in Deutschland, über die man mal sprechen müsste. Wenn man etwa daran denkt, dass wir auf Milliardeneinnahmen verzichten dadurch, dass die Erbschaftssteuer ein Tabuthema geradezu ist, dass wir auf Milliardeneinnahmen verzichten, indem wir völlig überflüssigerweise den Spitzensatz in der Einkommenssteuer auf einen historischen Tiefstand gefahren haben, und Ähnliches, denke ich, haben wir insgesamt Luft, wenn es darum geht, die Kinder und vor allen Dingen die Kinder, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, vernünftig zu unterstützen.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Mittag der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schneider: Tschüß!