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William Beckford: „Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten“
Ein Ironiker in Arkadien

Gen Italien zog es die schönen Geister schon im 18. Jahrhundert. Der Reisebericht des englischen Exzentrikers William Beckford, noch vor Goethes ikonischem Text entstanden, ist so modern, so verträumt und so polemisch, dass es eine helle Freude ist.

Von Oliver Jungen |
William Beckford: „Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten. Eine empfindsame Reise“
William Beckford hat nicht nur mit "Vathek" den Schauerroman vorgeprägt und mit seinem Wolkenschloss Fonthill Abbey den Gothic-Revival-Stil zur Blüte gebracht, sondern mit „Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten“ auch die moderne Ironie in die Gelehrtenprosa injiziert. (Buchcover: Die Andere Bibliothek, Hintergrund: Gerda Bergs)
Dass die literarische Moderne ein Vorspiel in der Frühromantik hatte, ist nicht neu. Erzählerische Offenheit, Ironie und ästhetische Subjektivität finden sich hier wie da. Selten jedoch zeigt sich dieser Brückenschlag über die Epochen so eindrücklich wie in den fingierten Reisebriefen des gern exzentrisch genannten, im Grunde aber für seine Zeit bloß viel zu modernen englischen Schriftstellers, Baumeisters und Kunstkenners William Beckford.
So geht es über den aufgeklärten Blick des späten 18. Jahrhunderts weit hinaus, wenn der Autor junge Klosterbrüder darum bedauert, „an einem solchen Ort eingesperrt zu sein und keine anderen Lebewesen zu sehen als vogelscheuchige Priester und Mönche (...); überwacht, eingepfercht, eingeengt und von abergläubischen Schrecken gequält“.
Bei einem Besuch des Petersdoms in Rom wiederum stellt sich Beckford ketzerisch vor, wie er das herrliche Bauwerk gemeinsam mit seinem Freund, dem ungenannten Adressaten der Briefe, als privates Winterquartier bezieht: "So eingeführt, würden wir unsere Abendspaziergänge auf dem Marmorfeld vornehmen; denn ist der Fußboden nicht weitläufig genug, um diese überspannte Bezeichnung zu verdienen? Zuweilen sollten wir, anstatt einen Berg zu erklimmen, die Kuppel besteigen und auf unsere Lagerstatt herunterblicken. (...) Die Tore sollten verschlossen sein und kein Sterblicher eingelassen werden. Keine Priester, keine Kardinäle: Gott bewahre!“

Englands reichster Sohn

Mit seinem spöttisch-ironischen Stil, der Respektlosigkeit gegenüber allen Autoritäten und einem zumindest halben Bekenntnis zur Homosexualität erscheint uns dieser umfassend gebildete Intellektuelle, der selbst Schmetterlingen mit größter Empathie begegnete, nahezu als Zeitgenosse - nur, dass er zu Zeiten von Goethe und Lord Byron gelebt hat.
Letzterer bezeichnete den Autor einmal als „Englands reichsten Sohn“. Das war auch wörtlich zu verstehen. Als Erbe eines immensen Vermögens konnte sich der als hochbegabt geltende Sohn eines Unternehmers und Politikers seine geistige Unabhängigkeit leisten. Er pfiff auf die aristokratische Jagd wie auf die Politik. Nur auf die sittenstrenge Mutter hatte er immer wieder Rücksicht zu nehmen. Diese war es auch, die den noch nicht Zwanzigjährigen im Jahr 1780 auf die damals obligatorische ‚Grand Tour‘ nach Italien schickte: sechs Jahre vor Goethes italienischer Reise.
In Beckfords anschließend ausgearbeitetem Roman sind neben erfrischend subjektiven Reisebeschreibungen zahlreiche Träumereien zu finden. Sie führen in ein paradiesisches China oder blenden sich spielerisch in die Literaturgeschichte zwischen Homer und Cervantes ein. Immer wieder flüchtet sich der Naturliebhaber vor der Düsternis vormoderner Städte in die arkadische Imagination.

Der Weg ins Paradies führt über stinkende Grachten

Beckfords Weg ins „gelobte Land“ jenseits der Alpen führt dabei zunächst durch die in seinen Augen sehr unarkadischen Niederlande. Zwischen Lästereien über plumpe Madonnen, hingesudelte Gärten und stinkende Grachten heißt es über die knapp über dem Meeresspiegel lebenden Holländer polemisch, sie stammten vermutlich von Fischen ab: „Eine gewisse Austernartigkeit des Blicks und eine gewisse Schlaffheit des Äußeren sind beinahe Beweis genug für diese wässrige Herkunft: denn sag mir bitte, wofür die Pluderhosen da sind, welche sich die Holländer selbst antun, denn (...) die Unförmigkeit ihrer delphinartigen Hinterteile zu verbergen?“
Auch den gefeierten Rubens hält Beckford in jugendlicher Arroganz für einen bloßen Techniker. Er hätte, heißt es, bei seinen Barabassen bleiben sollen. Viele Künstler und Werke lässt er aber durchaus gelten, Breughel etwa, auch den Schrein der Heiligen Drei Könige in Köln. Dafür scherten sich die Kölner nach seinem Eindruck nicht darum, wie „verpfuscht ihre Häuser“ und wie „schmuddelig ihre Läden“ seien.
Endlich gelangt der ungeduldige Tourist samt Begleittross nach Italien, wo seine Ziele sich zu beinahe hundert Prozent mit denen heutiger Reisender decken. So kann Beckford seine Begeisterung in Venedig kaum zügeln, auch wenn er die Venezianer für mehr als schläfrig hält. Voller Ehrfurcht besucht er danach Petrarcas Wohnhaus und die Bauwerke Palladios. Längere Zeit verbringt er glücklich in der Toskana, weil in Rom vorerst noch die Malaria wütet.

Als Fan einem Superstar auf der Spur

Beckfords Lieblingsfeinde sind die Gelehrten. Amüsiert berichtet er von einem deutschen Professor, der in das Wachsmodell eines Schädels beißt, dessen Künstlichkeit er bezweifelt. In Galerien, Palästen und bei Ausgrabungen nimmt der Autor Reißaus vor den ihn zu Tode langweilenden „Antiquaren“. Lieber möchte er „auf Gutdünken herumschweifen“.
Ein erstaunlich modernes Leitmotiv ist das nachgerade ausgestellte Fantum in Bezug auf einen musikalischen Superstar, den Kastraten-Sänger Gaspare Pacchierotti, auf dessen Auftritt in Lucca die Reise zugeschnitten zu sein scheint: „Dies wäre nicht der letzte Brief, den Du aus Venedig erhieltest, eilte ich nicht nach Lucca, wo Pacchierotti nächste Woche in der Oper ‚Quinto Fabio‘ singt; von allen Opern die würdigste Rechtfertigung solch eines musikalischen Fanatismus.“

Ein Wunderbuch, das nicht erscheinen durfte

Es folgen denkwürdige Aufenthalte in Rom, wo Beckford die Heiligen aus dem Pantheon hinausphantasiert, sowie in Neapel, wo ihm der König als Kindskopf erscheint. Jeder einzelne Tag wird mit so viel Schwung, Witz und Kolorit geschildert, dass einen selbst nach zwei Jahrhunderten sofort die Reisewut packt.
Dass wir dieses vorbildlich edierte Wunderbuch in der phantastisch gelungenen Übersetzung von Wolfram Benda überhaupt lesen können, ist dabei gar nicht selbstverständlich. Denn auf Bitten der um ihren Ruf besorgten Familie zog Beckford das Buch 1783 zurück. Er vernichtete fast die gesamte gedruckte Auflage. Aber natürlich hat er einige Exemplare zurückgehalten, wusste er doch, dass seine Zeit erst noch kommen würde.
William Beckford: „Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten. In einer Reihe von Briefen aus verschiedenen Gegenden Europas“. Eine empfindsame Reise.
Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wolfram Benda
Mit einem Nachwort von Norbert Miller
Die Andere Bibliothek/ Aufbau Verlage, Berlin
352 Seiten. 44 Euro.