Judith Schwikarts Finger drehen behutsam am Deckel eines daumengroßen Glasfläschchens. Darin: Eine Flüssigkeit, extrahiert aus Cannabis. Schwikart war 30, als die Ärzte bei ihr Multiple Sklerose diagnostizierten. Seitdem ist sie zu Hause. Ihr Mann ist Pfarrer, die Kinder sind bereits aus dem Haus. Über Bekannte kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit Cannabis. Zuerst in Blütenform, später folgten dann die Tropfen. Das Mittel hilft gegen ihre anfallartigen Gliederschmerzen. Bis sie die Tropfen in der Apotheke bekam, war es allerdings ein weiter Weg:
"Ja, ich kriegte immer wieder das Gefühl, es ist nicht richtig. Ich musste nicht nur einen Antrag stellen, sondern mehrere Anträge stellen. Ich wurde auch in der Apotheke 'hahaha, hihihi'. Dann dachte ich, darum geht es doch nicht – es ist für mich ein Nutzen – es ist ein Medikament, das mir hilft, mit der Krankheit zu leben."
Heute nimmt die 55-Jährige die Cannabis-Tropfen nur noch nachts, weil sie die Wirkung tagsüber häufig verwirrt. Seit einem Jahr kommt die Krankenkasse für die Kosten auf.
Patienten klagen über Bürokratie
Fraktionsübergreifend hatte der Bundestag im Januar 2017 Cannabis als Medizin anerkannt. Seit dem 10. März ist das Gesetz in Kraft. Bei den größten drei Krankenkassen sind seitdem 13.000 Anträge auf Kostenerstattung eingegangen. Das zumindest ist das Ergebnis einer Umfrage der "Rheinischen Post". Die Bundesregierung war von 700 neuen Patienten jährlich ausgegangen. Seit der Neuerung klagen Patienten jedoch über langwierige und komplizierte Antragsverfahren.
"Bei der Frage des ersten Schritts: Wie komme ich an das Medikament, könnte ich mir schon vorstellen, dass wir Bürokratiehürden nochmals abbauen können und möglicherweise auch die Verfahren – auch in Abstimmung mit den Kassen – vereinfachen können", sagt Dirk Heidenblut, der für die SPD-Fraktion jetzt für den Bereich Drogenpolitik zuständig ist. Seine Bilanz:
"Dass es gut war, das Gesetz zu machen, das zeigt vor allem die hohe Nachfrage. Dass es gut war, das auch über Ärzte und Apotheken vernünftig zu steuern. Dass es gut war, dass wir durchgesetzt haben, dass die Therapiefreiheit der Ärzte gewährt ist. Dass es aber nötig ist nachzuschärfen."
Kölner Lieferant hat bislang wenig Konkurrenz
Zu den Profiteuren des Gesetzes gehört das Unternehmen Cannamedical. Es residiert in Köln im 16. Stock des höchsten Geschäftsgebäudes der Stadt.
"Wir sind am Montag eingezogen und haben hier einen riesengroßen Konferenzraum mit wunderschönem Blick auf den Dom."
Für Cannamedical ist es bereits der dritte Umzug in anderthalb Jahren, erzählt Niklas Kouparanis. Er ist verantwortlich für den Verkauf von Medizinalhanf. Das Unternehmen beliefert und berät deutschlandweit rund 1.500 Apotheken. Ein Jahr nach Einführung des Gesetzes kritisiert Kouparanis:
"Wir haben eine enorme Informationslücke – sowohl bei Apothekern als auch bei Ärzten. Die Ärzte wissen teilweise nicht, welche Indikationen. Manchmal haben wir sogar den Fall, dass der Patient besser informiert ist als der Arzt."
Ein Produzent für die Nachfrage in ganz Europa
Für Cannamedical läuft das Geschäft gut, denn aktuell gibt noch wenig Konkurrenz. Über genaue Umsatzzahlen schweigt Kouparanis. Doch die große Nachfrage habe schon mehrmals zu Engpässen geführt:
"Viele Patienten haben sehr lange auf ihre Medikation gewartet und mussten auch sehr weite Strecke fahren. Wir haben derzeit einen Produzenten in Europa – das ist die Firma Bedrocan. Das ist definitiv zu wenig. Dieser eine Produzent muss die steigende Nachfrage in ganz Europa an pharmazeutischem Cannabis decken, was schlichtweg unmöglich ist."
Das sollte sich eigentlich schon geändert haben. Denn ein Punkt des vor einem Jahr verabschiedeten Gesetzes war auch der kontrollierte Anbau in Deutschland. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sucht nach Produzenten: 6,6 Tonnen Blüten sollen in den kommenden vier Jahren geerntet werden.
Doch mehrere Unternehmen haben gegen die Ausschreibung geklagt. Sie sehen deutsche Firmen benachteiligt, weil Erfahrung im Anbau eine Bedingung ist. Sollten sie Recht bekommen, könnte die Ausschreibung kippen. Ende März fällt wohl die Entscheidung. Dirk Heidenblut:
"Unser Ziel wäre schon, dass wir eben zu einem vernünftigen, kontrollierten, medizinischem Hanfanbau in Deutschland kommen, sodass wir Selbstversorger werden – nicht auf Importe angewiesen sind – damit auch die Unterbrechungskette nicht mehr so kritisch ist. Also das sind sicherlich die ersten Schritte, auf die man jetzt schauen muss beim Medizinalhanf."
Noch viele Umsetzungs-Baustellen
Niklas Kouparanis geht allerdings davon aus, dass die ausgeschriebene Menge bei weitem nicht reichen wird, um das Ziel der Selbstversorgung zu erreichen:
"Wir werden also weiter auf Importe angewiesen sein – das ist ganz klar."
Ein Jahr nach Einführung des Gesetzes gibt es noch viele Umsetzungs-Baustellen. Für die an Multiple Sklerose erkrankte Judith Schwikart steht die Entscheidung eher symbolisch für die Akzeptanz ihres Medikaments. Doch auch da sieht sie noch Platz zur Verbesserung:
"Die Selbstverständlichkeit es zu bekommen, die ist noch nicht da. Man muss nicht darum betteln, aber es ist auch nicht selbstverständlich, es zu bekommen. Es ist immer mit einem leichten Schmunzeln verbunden, als ob es doch was Außergewöhnliches ist in der Gesellschaft, in meinem Umfeld."