Dienstag, 19. März 2024

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EIn Jahr Mord an Walter Lübcke
Welche Rolle spielte der NSU in Hessen?

Am 1. Juni 2019 wurde der frühere Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen. Der mutmaßliche Täter Stephan E. wurde wegen Mordes angeklagt. Eine ZDF-Doku wirft nun die Frage auf: Gab es neben E. und dessen mutmaßlichen Mitwisser Markus H. auch Verbindungen zum rechten Terrornetzwerk NSU?

Von Ludger Fittkau | 29.05.2020
dpatopbilder - 13.06.2019, Hessen, Kassel: Das Konterfei von Walter Lübcke (CDU) ist hinter einem Bundeswehrsoldaten am Sarg bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche zu sehen. Lübcke wurde mit einem Kopfschuss auf der Terrasse seines Wohnhauses getötet. Foto: Swen Pförtner/dpa-POOL/dpa | Verwendung weltweit
Walter Lübcke wurde vor seinem Haus in Kassel erschossen. Des Mordes verdächtigt wird der Neonazi Stphan E. (dpa-POOL)
"Unser Vater fehlt uns allen sehr. Man kann kaum ermessen, was einem angetan wird, wenn der eigene Ehemann, der eigene Vater und der Opa erschossen wird. Und ich weiß, es vermissen ihn auch viele Freunde."
Jan-Hendrik Lübcke, der Sohn des vor einem Jahr ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bei einer Gedenkveranstaltung der Landesregierung in Wiesbaden.
"Es ist ja nicht einfach nur der Mord gewesen. Es ist ja ein Mord an einem Politiker gewesen mit rechtem Hintergrund. Und das war der erste Mord, der in dieser Zeit passiert ist."
Johanna Marie Böttger, Schülersprecherin der Gesamtschule in Wolfhagen in Nordhessen, die auch mehrere Kinder Walter Lübckes besuchten und die künftig den Namen des ermordeten Regierungspräsidenten tragen wird.
"Und man redet immer noch darüber - gerade an unserer Schule ist es sehr präsent."
16.06.2019, Hessen, Bad Hersfeld: Ein gerahmtes Porträtfoto des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) steht beim großen Festumzug auf dem 59. Hessentag auf einem Platz der Ehrentribüne. Im Fall des erschossenen Regierungspräsidenten Lübcke haben Spezialeinheiten der hessischen Polizei in Kassel einen 45-jährigen Mann festgenommen. Foto: Swen Pförtner/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung. Das Foto darf nur im vollen Ausschnitt verwendet werden. Verwendung weltweit | Verwendung weltweit
Anklage im Fall Walter Lübcke - Ermordet wegen humaner Flüchtlingspolitik
Elf Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage. Juristisch wie politisch weist der Fall weit über sich hinaus.
Ein furchtbares Ereignis und eine Zäsur
Am Abend des 1. Juni 2019 soll der Kasseler Rechtsextremist Stephan E. nach Wolfhagen-Ista gefahren sein - zum Haus der Familie des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der Generalbundesanwalt sagt: Stephan E. habe das Ziel gehabt, Lübcke wegen dessen humaner Flüchtlingspolitik zu töten und habe diesen Abend gewählt, weil im Ort eine Kirmes stattfand.
Karlsruhe: Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird von einem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof (BGH) zu einem Ermittlungsrichter gebracht.
Im Mordfall Lübcke hatte der Tatverdächtige Stephan E. später sein Geständnis widerrufen (dpa/Uli Deck)
Stephan E. wollte das nutzen, um nach der Tat unerkannt zu entkommen, sagen die Ermittler. Gegen 23:20 Uhr habe sich Stephan E. deshalb "im Schutze der Dunkelheit" dem Wohnhaus von Walter Lübcke genähert, der zu diesem Zeitpunkt auf der Terrasse saß. Stephan E. habe sich an sein Opfer herangeschlichen und Walter Lübcke aus kurzer Entfernung mit einem Revolver in den Kopf geschossen. Der Kasseler Regierungspräsident verstarb noch in derselben Nacht an den Folgen dieses Schusses. Peter Beuth, der hessische CDU-Innenminister:
"Es war ein politischer Weggefährte von mir persönlich, aber auch von vielen Kollegen aus dem hessischen Landtag, der Landesregierung. Er war uns ein langjähriger Freund in der Partei und in der Politik. Und deswegen war das ein furchtbares Ereignis und eine Zäsur, das kann man schon so sagen."

"Er war ja auch ein sehr fröhlicher und zugänglicher Mensch, sodass wir da auch sehr persönliche Beziehungen hatten. Das tut natürlich unheimlich weh. Und gleichzeitig war es eine unglaubliche Zäsur, dass ein amtierender Politiker so hingerichtet, so bestialisch ermordet wird von Rechtsterroristen."
Nancy Faeser, Vorsitzende der hessischen SPD und Chefin der sozialdemokratischen Oppositionsfraktion im hessischen Landtag.
May 1, 2020, Munich, Bavaria, Germany: Never again or nie wieder with a swastika used to demonstrate against the III. Weg neonazi group in Munich, Germany. Despite the ongoing Coronavirus crisis, 14 from the militant neonazi group III. Weg demonstrated this May 1st in the Pasing district of Munich, Germany. On the heels of a rejection of their normal May Day demonstration in Erfurt and the cancellation of the Roland Elstner Mahnwache, the group decided to organize a demo in Munich due to more permissiveness by the city during the Coronavirus crisis. Approx. 150 counterdemonstrators attended with reports of unprovoked attacks by USK police at the scene including against reporters and attempts at press freedom restrictions. III. Weg is the continuation of the banned criminal group Freies Netz Sued in Munich and among its ranks ar - ZUMAb160 20200501_zbp_b160_031 Copyright: xSachellexBabbarx  Download Highres
Jahresbericht politische Kriminalität
Politisch motivierte Straftaten sind laut aktueller Statistik 2019 deutlich gestiegen. Die Verrohung des öffentlichen Diskurses ist gleichzeitig Symptom und Ursache des Extremismus, kommentiert Marcus Pindur.

Ende April wurde der mutmaßliche Täter Stephan E. wegen Mordes angeklagt. Außerdem wird ihm ein versuchter Mord im Januar 2016 am irakischen Asylbewerber Ahmad E. vorgeworden. Stephan E. soll versucht haben, Ahmad E. mit einem Messer vor seiner Flüchtlingsunterkunft bei Kassel zu töten. Der Geflüchtete überlebte schwer verletzt.
Möglicherweise weitere Mitwissende
Markus H., ein zweiter Rechtsextremist aus Nordhessen, ist angeklagt, seinem Gesinnungsfreund Stephan E. Beihilfe beim Mord an Walter Lübcke geleistet zu haben. Doch dem ZDF wurden Dokumente zugespielt, die darauf hinweisen, dass es möglicherweise weitere Mitwisser gab. Im Kontext der Tat habe es aus anderen Bundesländern in Internet Suchanfragen gegeben, die verdächtig waren, so das ZDF in einem aktuellen Dokumentarfilm:
"Sogar Suchanfragen nach den Begriffen 'Lübcke und Kopfschuss'. Eine davon am 2. Juni um 0:56 Uhr. Also wenige Minuten, nachdem Walter Lübcke gefunden wurde. In der Bewertung schreiben die Ermittler: Es sei sehr wahrscheinlich, dass nur jemand, der zum Zeitpunkt der Abfrage schon wusste, dass Doktor Walter Lübcke durch einen Kopfschuss getötet wurde, die Suchanfrage gestellt haben könne."
Demonstration von "Die Rechte in Kassel" mit Teilnehmer in "Combat 18"-Shirt
Klima des Hasses - Terror von rechts in Hessen
Die rechtsextreme Szene in Nord- und Osthessen ist gewaltbereit und gut vernetzt. Spätestens seit dem Mordfall Lübcke und dem Anschlag von Wächtersbach sind die Behörden wachgerüttelt.
Verbindungen zum NSU vermutet
Der Mordangeklagte Stephan E. und sein mutmaßlicher Mitwisser Markus H. gehören schon seit Jahrzehnten zur Kasseler Neonazi-Szene. Auch schon 2006, als Halit Yozgat, ein junger Betreiber eines Internetcafés, vom Nationalsozialistischen Untergrund – kurz NSU – ermordet wurde. Martina Renner, stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei und Mitglied des Bundestags- Innenausschusses:
"Wenn ich es zuspitzen würde, war es natürlich die Frage: Gab es eine weitere Zelle des NSU in Kassel? Geht auf deren Konto noch weitere Anschläge oder Anschlagsversuche? Wie eng war die Verbindung des Täters und seiner Unterstützer in dieser Struktur?"
Dieser Frage wird in Kürze im hessischen Landtag ein Untersuchungsausschuss zum Lübcke-Mord nachgehen. Mit dem Beginn des Mordprozesses in Frankfurt am Main gegen Stephan E. und seinen mutmaßlichen Helfer Markus H. wird nach der Sommerpause gerechnet.