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Ein Jahr nach Charlie Hebdo
"Terrorismus kann jeden überall und jederzeit treffen"

Vor einem Jahr wurden Paris und die Redaktion von "Charlie Hebdo" Ziel islamistischer Terroristen. Im November 2015 gab es die nächsten Anschläge. "Ein schrecklicher Schock für die Gemeinschaft der Nation", sagte die französische Abgeordnete und Außenpolitikerin Elisabeth Guigou (Parti socialiste) im DLF. Mit einem Integrationsproblem ließen sich die Attentate nicht allein erklären.

Elisabeth Guigou im Gespräch mit Christoph Heinemann | 07.01.2016
    Elisabeth Guigou, französische Abgeordnete, während einer PK in Berlin zur deutsch-französischen Terror-Bekämpfung.
    Die französische Politikerin Elisabeth Guigou (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Christoph Heinemann: Was bedeuten die Anschläge vom 7. Januar und 13. November für Frankreich?
    Elisabeth Guigou: Das war eine noch nie dagewesene Tragödie. Da ist das Drama, das die Familien der Opfer erleben mussten, die Anzahl der Opfer, die unvorstellbare Grausamkeit, mit der sich dies ereignet hat. Im Fall von "Charlie Hebdo" kommt hinzu, dass die Meinungsfreiheit angegriffen wurde. Und ein Grundwert der Französischen Republik, die Laizität. Am 13. November folgte der Angriff auf die Jugend, in ihrer ganzen Vielfalt, ihrer Lebensweise. Es war ein schrecklicher Schock für die Gemeinschaft der Nation. Natürlich haben wir Maßnahmen für mehr Sicherheit ergriffen. Für uns ist das eine Bedrohung, die jeden überall und jederzeit treffen kann. In Europa und anderswo".
    Heinemann: Franzosen haben Franzosen getötet. Wieso ist die Integration dieser Menschen gescheitert?
    Guigou: Das ist eine sehr wichtige Frage. Es gibt kein typisches Profil von Leuten, die so etwas tun, oder die in den "Heiligen Krieg" ziehen wollen. Es sind nicht unbedingt Menschen, die sozial abgehängt sind. Einige haben studiert. Die einzige Gemeinsamkeit, die besteht, ist ein Gefühl einer unklaren Identität. Aber es bleibt schwer erklärbar, denn selbst die Familien der meisten Täter haben das nicht kommen sehen, außer der Familie Merah, des Mörders von Toulouse. Sie können auch nicht erklären, wieso diese jungen Männer und Frauen – es gibt auch Frauen in ihren Reihen - so abgeglitten sind.
    Heinemann: Fördert das Leben in den Vorstädten die Radikalisierung sozial benachteiligter Menschen?
    Guigou: Es stimmt, dass die meisten dieser Menschen aus den Vorstädten der großen Städte stammen. Aber nicht alle. Es gibt Dschihadisten, die aus kleinen Städten ausgereist sind. Es gibt die kleine ruhige Stadt Lunel zwischen Montpellier und Nimes. Von dort haben sich zehn Personen auf den Weg in den Dschihad begeben. Es gibt das Phänomen der Rekrutierung, so wie bei Sekten. Dagegen muss man mit allen möglichen Mittel vorgehen.
    Heinemann: Sie haben es angesprochen: Frankreich verstärkt seine Sicherheits- und Nachrichtendienste. Muss man etwas Freiheit opfern, um mehr Sicherheit zu bekommen?
    Guigou: Zur Demokratie gehört, dass für Sicherheit und Schutz keine Grundwerte geopfert werden. Aber es gibt eben auch keine Freiheit ohne Sicherheit. Dieses Gleichgewicht muss stets aufrechterhalten werden. Man muss verhindern, dass wegen eines Ziels unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen werden.
    Heinemann: Sprechen wir über die internationale Lage. Die Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran steigen nach der Hinrichtung eines schiitischen Geistlichen. Müssen Frankreich und Deutschland ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien überprüfen?
    Guigou: Unabdingbar ist, dass die religiösen Minderheiten fair behandelt werden. Vor allem, wenn sie bedeutend sind, wie die Schiiten in Saudi-Arabien oder Bahrain. Darauf muss unsere Diplomatie die Länder hinweisen, mit denen wir in Kontakt stehen.
    Keine rein militärische Lösung in Syrien möglich
    Heinemann: Wie wird sich diese jüngste Krise auf die Lage in Syrien auswirken?
    Guigou: Leider hilft das nicht bei der Suche nach einem Konsens um den Konflikt in Syrien zu beenden. Wir zählen auf den Prozess von Wien. Dort sitzen erstmals alle Länder dieses Konfliktes an einem Tisch. Auch Saudi-Arabien und der Iran. Dieser Prozess muss unter allen Umständen unter der Leitung der Vereinten Nationen vorankommen. Es gibt keinen anderen Weg, denn es wird keine rein militärische Lösung geben. Militärische Aktionen sind notwendig, und sie erzielen auch Ergebnisse. Im Irak wird der IS nicht nur in Schach gehalten. Erinnern wir uns: Vor anderthalb bis zwei Jahren stand der IS kurz davor, Bagdad einzunehmen. Er ist zurückgeschlagen worden. Sindschar und Ramadi konnten von den irakischen Kräften zurückerobert werden. Auch in Syrien müssen alle Anstrengungen auf den IS konzentriert werden, denn der IS ist unser Feind.
    Assad steht nicht für die Zukunft seines Volkes
    Heinemann: Mit Assad?
    Guigou: Sie kennen die französische Position, die auch die europäische ist: Herr Assad kann sicherlich nicht für die Zukunft seines Volkes stehen, nach all dem, was passiert ist.
    Es besteht das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union
    Heinemann: Eine Folge dieses Krieges ist die Flüchtlingskrise. Die europäische Union ist tief gespalten. Wer trägt die Schuld an dieser Unfähigkeit, gemeinsam handeln zu können?
    Guigou: Ich glaube, dass heute tatsächlich das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union besteht. Ich bin sehr besorgt. In dieser Flüchtlingskrise gibt es keine Solidarität mehr.
    Heinemann: Wer trägt die Schuld daran?
    Guigou: Ich habe nicht die Absicht, Einzelne zu benennen. Es gibt nicht mehr genug europäischen Geist.
    Die Schließung einzelner Grenzen ist keine Lösung
    Heinemann: Wieso nimmt Frankreich nicht mehr Flüchtlinge auf?
    Guigou: Wir haben die Aufteilung, die von der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde, akzeptiert. Außerdem müssen die Menschen auch in Frankreich bleiben wollen. Und es stimmt, Frankreich ist weniger attraktiv als Deutschland, was Beschäftigung und die Aufnahme betrifft. Das kann man bedauern, aber das ist eine Tatsache. Die Schließung einzelner Grenzen ist keine Lösung. Wir müssen vor allem die Außengrenzen der Europäischen Union sichern. Und das ist ziemlich schwierig, etwa bei den hunderten griechischen Inseln. Dafür benötigen wir Mittel, über die wir heute nicht verfügen. Und die große Sorge besteht, daß sich in der Menge der Flüchtlinge, die wir aufnehmen müssen, weil sie vor Krieg, Folter und Verfolgung fliehen, einige Barbaren verstecken, die bei uns zu allem bereit sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Unter diesem Link können Sie das Interview in französischer Sprache hören.