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Ein Jahr nach dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz
Versäumnisse und Traumata

Er hatte keinen festen Wohnsitz, keinen Arbeitsplatz und war als Gefährder eingestuft - trotzdem wurde der Tunesier Anis Amri nicht abgeschoben und konnte so den Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz verüben. Zwölf Menschen kamen dabei vor einem Jahr ums Leben. Überlebende und Hinterbliebene kämpfen bis heute mit dem Trauma.

Von Claudia van Laak und Gerwald Herter | 18.12.2017
    Kerzen und Kreuze stehen vor der Gedenkstelle für die Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz in Berlin. Unter dem Schriftzug "Warum" ist auch eine Fahne Kataloniens als Beileidsbekundung für den Terroranschlag in Barcelona zu sehen.
    Mit Blumen, Kerzen und kleinen Botschaften gedachten die Menschen der Opfer, die durch den Anschlag von Anis Amri ums Leben gekommen sind (dpa/Maurizio Gambarini)
    In der "Hirschstube" auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz steigt die Stimmung. Touristen aus Großbritannien, Israel und Spanien heben ihre bunten Porzellanbecher, prosten sich mit Glühwein und Punsch zu. Nicht alle wissen, dass genau an dieser Stelle vor einem Jahr ein Terroranschlag passiert ist.
    "Wow, Sie haben mich mit dieser Information geschockt. Wir haben natürlich gehört, was da passiert ist. Schlimm. Jetzt fehlen mir die Worte."
    "Wir sind vor einem Jahr aus der Türkei hierhergekommen, wir sind vor den Terroranschlägen dort geflohen. Und dann war es sehr schwer für uns, als wir bemerkten, das passiert auch hier in Europa."
    Der Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche sieht fast genauso aus wie im Jahr zuvor. Einziger Unterschied sind die Betonpoller. Am Eingang - dort wo der Terrorist Anis Amri den zuvor gestohlenen Lkw in die Gasse zwischen die Buden hineinsteuerte - müssen sich die Weihnachtsmarkt-Besucher um die grauen, kniehohen Hindernisse herumwinden. Polizisten patrouillieren zu zweit, ihre Waffen tragen sie offen.
    Thomas Kirstein zeigt auf eine weißlackierte Bude. Dort kam der Lkw zum Stehen, sagt der Einsatzleiter der Berliner Feuerwehr. Nein, einen Glühwein möchte er jetzt nicht trinken.
    "Ich bin nicht so ein Weihnachtsmarktfan. Aber in der Tat, wenn man hier eingesetzt war, der erste Gang zum Breitscheidplatz danach war ein besonderer. Ja, das ist so. Das habe ich heute auch gemerkt, als ich das erste Mal die Buden wieder gesehen habe. Wenn das nicht so wäre, wäre ich kein Mensch."
    Attentat hätte noch viel größere Katastrophe werden können
    Sie sehen den Sattelschlepper, mit dem der Anschlag verübt wurde, Arbeiter befestigen ihn am 20.12.2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin an einem Abschleppwagen.
    Der Sattelschlepper, mit dem der Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin verübt wurde (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Dunkelblaue Feuerwehruniform mit zwei goldenen Schulterstreifen, fester Händedruck, gerader Rücken – Thomas Kirstein strahlt Sicherheit aus. Mit nüchterner Stimme erzählt der Einsatzleiter, dass das Attentat mit 12 Toten und 70 Verletzten schnell zu einer viel größeren Katastrophe hätte werden können. Wenn die Propangasflaschen explodiert wären, die viele Gastronomen auf dem Weihnachtsmarkt benutzen. Die Berliner Feuerwehr hat es verhindert.
    "Zum Glück. Also die, die betroffen waren, die wurden gleich abgedreht. Aber es ist immer eine Gefahr. Die muss man ausschließen, die muss man kontrollieren."
    Thomas Kirsteins Aufgabe an diesem Abend des 19. Dezember war es, keinen Verletzten am Anschlagsort zurückzulassen. Mögliche weitere Gefahren galt es auszuschließen – neben Propangasflaschen und Starkstromleitungen inspizierten seine Kollegen und er auch den polnischen Lkw. Gab es dort möglicherweise weitere Täter? War Sprengstoff im Lkw deponiert, der hätte explodieren können?
    "Wir haben professionell agiert, und wenn wir das nicht gemacht hätten, hätten wir die Menschen nicht gerettet."
    Thomas Kirstein weiß, dass die Ausländer- und Sicherheitsbehörden seit dem schwersten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden zu Recht kritisiert werden. Auch bei der Berliner Polizei lief vieles nicht so, wie es hätte laufen müssen. Ein interner Bericht des Landeskriminalamts stellt unter anderem fest, dass direkt nach dem Anschlag weder offene noch verdeckte Fahndungsmaßnahmen ausgelöst wurden. Einsatzleiter Kirstein nimmt seine Kollegen vor Ort dagegen in Schutz.
    "Die Polizisten, die als erstes gekommen sind, die haben Menschenleben auch gerettet. Menschenleben retten geht vor Straftäter verfolgen."
    Treueeid auf den selbsternannten Islamischen Staat
    Straftäter verfolgen: das hätte vor dem Attentat erfolgen müssen. Der abgelehnte tunesische Asylbewerber Anis Amri nimmt spätestens Anfang November 2016 auf einer Brücke in Berlin ein Video von sich auf. Darin schwört er den Treueeid auf den Anführer des selbsternannten Islamischen Staates und ruft alle Muslime zum Dschihad auf. Thomas Beck, der Leiter der Abteilung Terrorismus beim Generalbundesanwalt:
    "Ab Mitte November 2016 ändert sich das Surfverhalten von Amri. Ab diesem Zeitpunkt finden sich im Internetverlauf des HTC-Handys keine pornographischen Inhalte mehr. Ab Anfang Dezember 2016 ruft Amri fast nur noch islamistisch-dschihadistische Inhalte im Internet auf."
    Der Fahndungsaufruf des BKA zeigt Fotos des Tunesiers Anis Amri, der am 19.12.2016 den Anschlag mit einem Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin verübt hat.
    Mit diesem Fahndungsaufruf suchte das BKA nach dem Anschlag in Berlin nach dem Tunesier Anis Amri (dpa-news / Bundeskriminalamt)
    In dieser Zeit ist der IS-Anhänger zu Fuß rund um den Breitscheidplatz in Berlin unterwegs, erkundet sein Anschlagsziel. Am 15.Dezember wird er bei dem Versuch beobachtet, einen abgestellten Lkw zu öffnen. Am frühen Abend des 19.Dezember passiert er zweimal den polnischen Lastwagen von Lukasz Urban, der in der Nähe des Westhafens abgestellt ist. Gegen 19:30 Uhr tötet Amri den Fahrer mit einem Kopfschuss, steigt ein. Aus dem Führerhaus schickt er eine Nachricht an seinen IS-Mentor. "Ich bin jetzt im Auto. Bete für mich. Gott ist groß." Dann steuert er den Lkw mit einer Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometern in die Gasse zwischen den Ständen und Buden am Weihnachtsmarkt. Bundesanwalt Beck:
    "Er hinterlässt bewusst seine Geldbörse mit der Duldungsbescheinigung, um die Tat mit seiner Person in Verbindung zu bringen. Der IS soll über die öffentliche Berichterstattung erfahren, dass Amri die Tat ausgeführt hat. Erst nachdem er realisiert hatte, dass er die Tat überlebte – und wenn Nizza sein Vorbild war, konnte er damit nicht rechnen – begibt er sich ohne Geld, Telefon und Ausweis, aber immer noch mit der Tatwaffe zu seiner Wohnung, packt den Rucksack, zieht andere Schuhe an, nimmt die letzten Geldreserven mit sich und begibt sich sodann auf die Flucht."
    Niemand fahndet nach ihm, denn die Ermittler versäumen es, den Lkw sofort nach der Tat zu untersuchen. Erst am späteren Nachmittag des 20. Dezember finden Beamte seine Papiere am Boden des Führerhauses. Dann beginnt die internationale Fahndung. Einige Tage später wird der IS-Terrorist, der 12 Menschen ermordet hat, in Italien bei einer Routinekontrolle erschossen.
    Einstufung als Gefährder
    Anis Amri war im Sommer 2015 unter dem Namen "Anis Amir" zunächst in Baden-Württemberg angekommen. Schon dort fiel er den Behörden auf, weil er Leistungen "erschlichen" haben soll. Er wurde erkennungsdienstlich behandelt, allerdings unter dem Namen Mohammad Hassa. Amri gab außerdem an, dass er in Ägypten und nicht in Tunesien geboren sei. Über Zwischenstationen landete er nach der Einleitung einiger Strafverfahren schließlich in Emmerich am Rhein. Die zuständige Ausländerbehörde Kleve setzte sich schon bald mit der Polizei in Verbindung. Einem Zimmernachbarn war nämlich aufgefallen, dass sich Anis Amri auf seinem Handy Bilder von schwarzgekleideten Gestalten angesehen hatte, die mit Kalaschnikows und Handgranaten posierten. Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen stufte ihn bald als Gefährder ein. Auskünfte eines V-Manns sollten später bestätigen, dass er sich Kalaschnikows besorgen wollte, um einen Anschlag zu verüben.
    Terrorverdacht, eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren, die Nutzung unterschiedlicher Namen. Knapp einen Monat nach dem Anschlag vom Breitscheitplatz kannte der noch amtierende Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, SPD, vielleicht noch nicht alle Einzelheiten, eines stand für ihn jedoch fest:
    "Ich habe den Eindruck aus Nordrhein-Westfalen, dass alle Sicherheitsbehörden, auch die, die im gemeinsamen Terrorzentrum zusammengearbeitet haben, alles an rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um Anis Amri zu beobachten, abzuhören und möglicherweise in Haft zu nehmen."
    Immerhin: Ein Untersuchungsbericht, den die rot-grüne Landesregierung beim Strafrechtler Bernhard Kretschmer in Auftrag gegeben hatte, bestätigte Jägers Linie. In Kretschmers Gutachten vom 27. März heißt es:
    "Zwar erfolgte das behördliche Handeln nicht in jeder Hinsicht fehlerfrei, doch wäre es lebensfremd, einen derartigen Erwartungshorizont für menschliches Handeln aufzubauen".
    CDU-Abgeordnter Schnelle: "Wo sind Fehler gemacht worden?"
    Dem CDU-Abgeordneten Thomas Schnelle, der früher selbst Polizist war, reicht diese Erklärung nicht. Zusammen mit anderen Parlamentariern, versucht er im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
    "Ziel des Ausschusses ist es, jetzt wirklich zu erkennen, wo sind Fehler gemacht worden und wie stellen wir diese Fehler ab. Es geht nicht darum zu sagen, X/Y/Z hat falsch gearbeitet, sondern es geht darum, festzustellen, welche Fehler sind gemacht worden und wie können wir die in Zukunft verhindern?"
    Kurt Beck (SPD) sitzt auf dem Podium der Bundespressekonferenz, im Hintergrund Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD).
    Der Opferschutzbeauftragte der Bundesregierung, Kurt Beck, legt in Berlin seinen Abschlussbericht zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz vor (dpa/Gregor Fischer)
    Seit die rot-grüne durch die schwarz-gelbe Landesregierung abgelöst worden ist, werden die Nachforschungen des Ausschusses auch durch brisante Informationen befeuert, die etwa aus dem Düsseldorfer Innenministerium kommen. So wurde das Mobiltelefon von Anis Amri nicht gründlich genug ausgewertet. Erschreckende Fotos, auf denen der Attentäter mit Waffen posierte, waren bei einer automatischen Durchsuchung nicht erfasst worden. Auch ein V-Mann des Landeskriminalamts ist ins Zwielicht geraten. Er hatte zwar vor Anis Amri gewarnt, soll aber selbst zu Anschlägen aufgefordert haben.
    Die Gefährlichkeit des Tunesiers war vielen Behörden bewusst, doch niemand fand Mittel oder war hartnäckig genug, um ihn rechtzeitig abzuschieben. Das zeigt sich in Düsseldorf und auch im Berliner Untersuchungsausschuss. Innensenator Andreas Geisel, SPD, setzte zudem den früheren Bundesrichter Bruno Jost als Sonderermittler ein. Dieser fand heraus, dass Berliner Beamte des Landeskriminalamtes Akten zu Anis Amri nachträglich manipuliert hatten. Um von eigenen Fehlern abzulenken, wurde aus dem Tunesier, der im großen Stil mit Drogen gehandelt hatte, ein Kleindealer.
    "So spricht bisher vieles dafür, dass mit dem Herunterschreiben des Tatgeschehens eigene Versäumnisse, vor allem die tatsächlich erst nach dem Anschlag vom 19.12.16 erfolgte Erledigung des Verfahrens gegen Amri, verschleiert werden sollte."
    Anis Amri verschwand vom Radar der Ermittler, obwohl die gegen ihn vorliegenden Erkenntnisse einen Haftbefehl durchaus gerechtfertigt hätten – davon ist Sonderermittler Jost überzeugt.
    "In Deutschland keinerlei festen Wohnsitz, keine Arbeitsstelle, keine tragfähigen sozialen Bindungen, ein abgelehnter Asylantrag, seine Verpflichtung zur Ausreise aus Deutschland ohne geregeltes Einkommen, all dies hätte aus meiner Sicht auch bei einem weniger schwerwiegenden Tatverdacht zumindest nicht gegen den Erlass eines Haftbefehls gesprochen."
    Zusammenarbeit der Polizei funktionierte nur ungenügend
    Anis Amri saß kurzzeitig in Haft, präziser formuliert, in Abschiebegewahrsam, und zwar in Friedrichshafen am Bodensee. Zu einer Zeit, als der spätere Terrorist längst als islamistischer Gefährder erfasst war, wurde er bei dem Versuch, Deutschland zu verlassen, mit gefälschten italienischen Papieren aufgegriffen. Ein Haftbefehl wegen Urkundenfälschung wäre möglich gewesen, blieb aber aus. Befragt wurde Amri von örtlichen Polizisten, die wenig bis keine Ahnung von islamistischen Gefährdern hatten. Sowohl das Berliner als auch das nordrhein-westfälische LKA versäumten die Gelegenheit, eigene Experten nach Friedrichshafen zu schicken.
    Die Polizeikräfte verschiedener Länder arbeiteten nur ungenügend zusammen. Und selbst innerhalb einer Behörde – zum Beispiel im Berliner LKA – wusste die rechte Hand nicht, was die linke tat.
    Die Ermittler zogen die falschen Schlussfolgerungen. Weil Amri viel auf Pornoseiten surfte und mit dem Verkauf von Drogen Geld verdiente, verhalte er sich "unislamisch", so das Berliner LKA, dies lasse den Schluss zu, er entferne sich aus der islamistischen Szene. Seine Observation wurde daraufhin eingestellt.
    Polizei ist in Deutschland Ländersache, das hat historische Gründe, das oft zitierte Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten ebenso. Eine geheime Staatspolizei soll nie wieder entstehen. Das föderale System hat allerdings seine Schwächen, wenn es darum geht transnationalen Terrorgruppen auf die Spur zu kommen – oder auch militanten Islamisten, die schlicht von einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen in ein anderes, wie Berlin umziehen.
    Nach großen Widerständen war das Gemeinsame Terrorismus-Abwehr-Zentrum 2004 in Berlin-Treptow eingerichtet worden. Hier tauschen sich 40 Landes- und Bundesbehörden aus – vor allem Polizei und Geheimdienste. Das soll dafür sorgen, dass wegen unterschiedlicher Zuständigkeiten nichts und niemand verloren geht.
    BKA-Präsident Münch: "Was müssen wir anders machen?"
    Über Anis Amri wurde dort in verschiedenen Arbeitsgruppen mindesten ein Dutzend Mal gesprochen. Das Bundeskriminalamt ist im Terrorabwehrzentrum federführend. Nach Angaben von BKA-Präsident Holger Münch hat bereits kurz nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz auch in Berlin-Treptow die Fehlersuche begonnen:
    "Wir haben natürlich auch sehr kritisch drauf geguckt im Nachgang, was müssen wir anders machen? Weil wenn ein Anschlag passiert, dann kann man nie sagen, alles ist richtig gelaufen, weil bei dem Ergebnis müssen Fehler passiert sein."
    Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes
    "Wenn ein Anschlag passiert, dann kann man nie sagen, alles ist richtig gelaufen", sagte Holger Münch, Präsident des BKA (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Münch sagt, dass Bundes- und Landesbehörden gemeinsame Konzepte nachgeschärft hätten. Wer übernimmt wann die Verantwortung für einen Gefährder? Ob das ausreichend klar war, damit dürfte sich auch ein Untersuchungsausschuss des Bundestags befassen, der inzwischen von allen Fraktionen gefordert wird.
    Die Rechtslage in einzelnen Bundesländern ist bisher aber noch sehr unterschiedlich. Münch sagt, dass eine Telekommunikationsüberwachung von Gefährdern in vier Bundesländern nicht erlaubt sei. Und das ist nur ein Beispiel. Bis zur Rechtsangleichung dürfte es noch ein langer Weg sein.
    Davon abgesehen wird es trotz klarerer Regeln und besserer Systematik aber auch in Zukunft unmöglich sein, die Gefahr, die von einem Gefährder ausgeht, absolut präzise einzuschätzen. Anis Amri stand unter dem Verdacht, sich Schnellfeuerwaffen besorgen zu wollen, um damit einen Anschlag zu begehen. Das bestätigte sich nicht. Trotzdem war es ein Fehler, die Überwachung fallen zu lassen.
    Obwohl Polizei Ländersache bleiben wird, deutet sich eine weitere Zentralisierung der deutschen Sicherheitsarchitektur an: Mit Verfassungsschutz und BKA wollen zwei Bundesbehörden die Zahl ihrer Mitarbeiter in Berlin erhöhen. "Wir müssen mehr investieren", so der BKA-Chef. Auch der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, meint, dass es auf das Risikomanagement ankomme, doch hier seien "wichtige Verbesserungen erreicht worden".
    Während Bundes- und Landesbehörden versuchen, aus den Fehlern rund um das Attentat vom Breitscheidplatz zu lernen, während sich Abgeordnete aller Fraktionen im Bundestag auf einen Untersuchungsausschuss vorbereiten, versuchen Angehörige und Hinterbliebene, aber auch Einsatzkräfte, ihre Traumata zu bewältigen. Der frühere rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck kümmert sich als Opferbeauftragter um ihre Sorgen und Nöte.
    "Es hat Leute gegeben, die haben drei Tage nicht erfahren, dass die Mutter oder ein Kind bei den Toten ist. Weil wir eine Identifizierungsregel haben, die im Grunde auch vernünftig ist, dass ein Gentest zuerst beweisen muss, wer ist wer. Aber es waren eben hier auch Menschen, die nicht entstellt waren. Und dann nicht zu wissen, wo ist denn jetzt mein Angehöriger, ist er nicht doch bei den Verletzten, wieder im Krankenhaus, um dann doch zu erfahren, dass die Mutter tot ist. Das hat Leute schwer traumatisiert."
    Anschlags-Opfer Eljakim: Israelische Regierung hat sich um mich gekümmert
    So erging es auch Rami Eljakim aus Israel. Tage nach dem Anschlag wachte er mit schweren Verletzungen in einem Berliner Krankenhaus auf.
    "Zuerst einmal habe ich meine Frau verloren, mit der ich über 40 Jahre zusammengelebt habe. Ich lebe mit ihr und nur mit ihr seit meinem 21. Lebensjahr zusammen. Wir waren höchstens für ein paar Tage voneinander getrennt. Dieser Verlust ist viel schwerer für mich zu ertragen, als die körperlichen Verletzungen, die ich davon getragen habe."
    Zurück in Israel wurde Eljakim vor zwei Wochen am Herzen operiert. An einem Metallteil, das ihm wegen seiner Verletzungen ins Bein gesetzt worden war, hatte sich ein Bakterium entwickelt, dass die inneren Organe angriff. Nun wird er mit Medikamenten behandelt. Von der Bundesregierung fühlt er sich im Stich gelassen.
    "Zu meinem großen Glück hat sich die israelische Regierung um mich gekümmert. Wenn ich auf die Unterstützung der Deutschen hätte warten müsste, hätte ich jetzt, ein Jahr danach, kein Geld mehr, um mir Essen zu kaufen. Die israelische Regierung muss sich eigentlich gar kümmern. Denn all das dort geschehen, nicht hier."
    Hilfe konnten die Opfer des Terroranschlags per Antrag aus einem Härtefallfonds erhalten. Er umfasst 3,1 Millionen Euro. Gut 1,6 Millionen sind bislang ausgezahlt. In seinem Abschlussbericht hat der Opferbeauftragte Kurt Beck Vorschläge gemacht, wie Opfern von Terroranschlägen darüber hinaus künftig besser geholfen werden kann. So möchte er eine zentrale Anlaufstelle installieren, die, ähnlich wie in Frankreich, eine Telefonhotline für Betroffene schaltet und ihnen mit Informationen von Krankenhäusern und Sicherheitsbehörden weiterhilft. Ein weiteres Anliegen der Opfer beschreibt Beck so:
    "Vielen ist ganz wichtig, dass eben nicht nur über den Täter geschrieben wird, sondern, dass ihre Angehörigen auch eine Rolle haben. Auch die Leute, die sagen, ich möchte nicht vor eine Kamera, ich möchte nicht in die Presse, aber sie erwarten, dass die Gesellschaft so etwas wie Erinnerungskultur lebendig hält. Das ist, glaube ich, ganz ganz wichtig."
    Deshalb wird am Breitscheidplatz ein Gedenkort eröffnet. Ein goldfarbener Riss zieht sich durch die Treppenstufen zur Gedächtniskirche hin. Die Namen der zwölf Todesopfer werden für alle lesbar sein. Damit nicht nur der Täter, sondern auch die Opfer Teil der kollektiven Erinnerung werden.