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Ein Jahr nach der Ermordung von Pim Fortuyn

Simon: Vor einem Jahr wurde Pim Fortuyn erschossen, der schillerndste Politiker der Niederlande. Fortuyn war ein Rechtspopulist, der kein Blatt vor den Mund nahm, bewusst und vor allem mit großer Freude alle Regeln politischer Korrektheit brach und der dementsprechend ebenso populär wie umstritten war. Der Mord an Pim Fortuyn schockierte die Niederlande tief. Inzwischen ist der Mörder zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden und das Land hat sich durch eine schwere Identitätskrise gekämpft. Sabine Hentzsch ist Leiterin des Goethe-Instituts in Rotterdam, sie begrüße ich jetzt am Telefon, guten Tag.

    Hentzsch: Guten Tag.

    Simon: Frau Hentzsch, die Niederlande vor einem Jahr und heute - ist das immer noch das gleiche Land?

    Hentzsch: Wenn ich jetzt auf den Kalender sehe, muss ich sagen, dass am Tag selbst, dem 6. Mai 2002, sowie die ersten Tage danach, es ein anderes Land war, als es heute ist oder als es vor diesem Datum war. Ich habe diese Tage noch sehr gut in Erinnerung, weil ich das unglaublich spannend, aber auch bedrückend empfunden habe, wie sich auf einmal die komplette Atmosphäre in den Straßen, in der Stadt selbst, verändert hat. Es ist natürlich in Rotterdam ganz besonders gravierend zu spüren gewesen, weil er Rotterdamer war und seine größte Unterstützung auch hier vor Ort hatte. Das zeichnete sich aber auch durchaus im Land ab. Ich weiß noch, ich bin zwei Tage nach der Ermordung von Köln aus zurückgekommen und ich hatte wirklich das Gefühl, ich komme in ein anderes Land. Die Atmosphäre, die wir sonst so an den Niederlanden schätzen, das lockere Miteinanderumgehen, das war auf einmal einer ganz bedrückenden und lähmenden Stille gewichen. Man spürte auch eine unterschwellige Aggression, die mit dieser Ermordung zu tun hatte.

    Simon: Ist das inzwischen vorbei?

    Hentzsch: Ja. Wobei man natürlich sagen muss, dass es eines ist, was man nach außen sieht und das andere, was man nicht so unmittelbar von außen sieht oder miterleben kann. Es ist eindeutig so, dass der 6. Mai 2002 eine Zäsur dargestellt hat, die Vorstellung, politische Attentate kommen in Nachbarstaaten vor, weiter weg oder auch nah dran, nur nicht bei uns, dieses Selbstverständnis gibt es natürlich nicht mehr. Und das war sicherlich der erste, allergrößte Schock. Man hat nie angenommen, dass so etwas im eigenen Land passieren kann und das hat es ja auch 300 Jahre nicht gegeben. Und sich plötzlich damit auseinanderzusetzen, dass dieses doch auch hier passieren kann, das war wirklich der allergrößte Schock. Und der ging quer durch alle Parteien oder Gruppierungen, egal ob man nun Anhänger von Pim Fortuyn war oder nicht.

    Simon: Was ist denn aus der früher immer so offiziell demonstrierten Toleranz zum Beispiel gegen Zu- und Einwanderer geworden, gerade in Rotterdam? Sie sagten ja, Pim Fortuyn kam von dort, Rotterdam ist eine Stadt, die sehr viele Immigranten hat.

    Hentzsch: Es gibt generell in den niederländischen Großstädten viele Immigranten, in Rotterdam besonders, natürlich auch, weil es eine Hafenstadt ist mit dem größten Hafen der Welt. Es ist ja auch in Deutschland so, dass in den Hafenstädten dieses immer ein besonderes Thema ist. Es ist eindeutig so, dass es hier deutliche Veränderungen gegeben hat. Es ist schon so, dass die Toleranz weitestgehend schon noch da ist, sich aber verändert hat. Man drängt wesentlich stärker darauf, dass Immigranten die Sprache lernen, damit geht es los, da wird ganz stark darauf geachtet und nicht nur die Sprache, auch ein sogenannter Einbürgerungskurs wird vorgeschrieben, der ist Pflicht, den müssen Immigranten absolvieren. Und den müssen sie zunächst auch selbst bezahlen. Das ist, denke ich mal, das unmittelbarste erste Resultat. Es ist weiterhin so, dass das Thema Sicherheit eine sehr große Rolle spielt, das war allerdings auch schon vor der Ermordung Pim Fortuyns der Fall, das Thema Sicherheit hat den Wahlkampf ja sehr stark geprägt: Sicherheit auf den Straßen, Bekämpfung von Kriminalität. Das betrifft vor allem die Großstädte und da vor allem Rotterdam.

    Simon: Wie würden Sie sagen ist es mit der Einstellung der Niederländer zur Politik, hat die sich in diesem Jahr geändert, ist sie kritischer, aktiver oder passiver geworden?

    Hentzsch: Es hat sich ja herausgestellt, dass sich eigentlich sehr schnell das Phänomen der Liste Pim Fortuyn landesweit reduziert hat. Nach dem großen Wahlerfolg im Mai 2002, der natürlich total unter diesem emotionalisierten Eindruck der Ermordung Pim Fortuyns stand, ist es so, dass nun bei der Neuwahl die Liste Pim Fortuyn so gut wie keine Rolle mehr spielt. Sie ist im Parlament noch vertreten, aber in keiner Weise vergleichbar mit dem Wahlergebnis 2002. Und hier haben die Sozialdemokraten, die großen Verlierer 2002, fast ihre alte Position zurückgewonnen und sind zweitstärkste Fraktion und zwar dicht an dicht mit den Konservativen. Ich habe das als Phänomen empfunden, weil ich mir nur dachte, in Deutschland würde es eine so schnelle Veränderung innerhalb eines Dreivierteljahres wohl kaum geben, dass eine der großen Parteien so abrutscht und dann innerhalb von neun Monaten wieder da ist, wo sie vorher war. Und es ist natürlich so, das ist weiterhin ein Land, das politisch sehr interessiert ist, keine Frage. Aber die Sorge in der letzten Zeit war: es wird Zeit, dass wir wieder eine stabile Regierung haben, dass dieses Land auch regierungsfähig ist. Denn dieser Prozess der Koalitionsbildung hat sich ja sehr lange hingezogen.

    Simon: Wenn Sie sich das Phänomen Pim Fortuyn noch mal vor Augen rufen, war das eine politische Eintagsfliege oder glauben Sie, dass viele Niederländer auf so eine Art zweiten Pim Fortuyn warten?

    Hentzsch: Ich denke, man sollte es nicht unterschätzen, denn er hat offenbar einiges ausgesprochen, was viele Leute denken und sich bisher vielleicht auch nicht getraut haben, zu äußern. Auf der anderen Seite ist es so - es war seine Partei und er war so charismatisch, dass er diese Partei massiv geprägt hat - dass seine Mitstreiter in der Partei versucht haben, seine Linie fortzusetzen und man sieht an dem Wahlergebnis, dass dies offenbar aber nicht angedauert hat in der Bevölkerung. Es ist die Frage, inwieweit es mit diese charismatischen Erscheinung zu tun hat. Es ist schwierig zu sagen, warten die auf einen zweiten Pim Fortuyn. Das hängt auch sehr stark davon ab, wie es der jetzigen neuen Regierung gelingen wird, wieder Kurs zu halten und zu zeigen, dass das Land wieder regierbar ist.

    Simon: Ein Jahr nach dem Mord an Pim Fortuyn. Das war ein Gespräch mit Sabine Hentzsch, der Leiterin des Goethe-Instituts in Rotterdam.

    Link: Interview als RealAudio