Freitag, 19. April 2024

Archiv

Ein Land im Zeichen der Gewalt
Nigeria kurz vor den Wahlen

Am 16. Februar wird in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas gewählt. Doch in weiten Teilen des Landes herrscht Krieg: Im Nordosten kämpft die Terrorgruppe Boko Haram, im Zentrum bewaffnete Nomaden - schlechte Voraussetzungen für faire Wahlen.

Von Marc Engelhardt | 09.02.2019
    Nigeria: Ein Kind sucht nach einem Boko-Haram-Angriff nach Verwertbarem in einer niedergebrannte Hütte.
    Eine niedergebrannte Hütte nach einem Boko-Haram-Angriff im Nordosten Nigerias. (AUDU MARTE / AFP)
    Kinder spielen ausgelassen, an den Kochstellen klappern Kessel, Frauen schwatzen in der abschwellenden Hitze des Tages. Seit vier Jahren steht im Zentrum der Stadt Yola, im Osten Nigerias, ein Flüchtlingslager. Äußerlich herrscht beinahe Normalität. Doch innendrin kann Rita Bitrus, die sich mit ihren sieben Kindern eine zehn Quadratmeter große Hütte aus Latten und Planen teilt, einfach nicht vergessen, warum sie hier ist. Sie sagt:
    "Es war um die Mittagsstunde, als die Kämpfer von Boko Haram bei uns im Dorf eingefallen sind. Sie haben unsere ganze Familie geschnappt. Mein Mann wurde vor meinen Augen in Stücke gehackt, die Kinder und mich haben sie mitgenommen. Nach vier Tagen konnten wir zum Glück entkommen."
    In Gwoza herrscht bis heute Krieg
    Rita Bitrus kommt aus der Nähe von Gwoza, wo die islamistische Terrorgruppe Boko Haram vorübergehend die Hauptstadt ihres Kalifats ausrief. Dort, nur wenige Stunden von Yola entfernt, herrscht bis heute Krieg. Sie erzählt:
    "Da, wo wir gelebt haben, steht kein Haus mehr, alles ist niedergebrannt, und die Regierung tut nichts. Wir müssen hierbleiben, bis hoffentlich eines Tages alles wieder normal ist."
    Fast 600 Flüchtlinge teilen sich den Hof hinter der Kirche St. Theresa. Der katholische Bischof von Yola, Stephen Dami Manza, öffnete die Pforten, als tausende Menschen vor den Islamisten flohen. Präsident Muhammadu Buhari, der in einer Woche wiedergewählt werden will, behauptet seit einem Jahr, Boko Haram sei besiegt. Reine Wahlkampfpropaganda, sagt Stephen Dami Manza.
    "Die Regierung lügt, von Anfang bis Ende. Erst vor kurzem hat Boko Haram wieder ganze Dörfer in Borno eingenommen, unserer Nachbarprovinz. Die Regierung hat das dementiert. Und dann, ein paar Wochen später, meldete die Regierung stolz, das Militär habe die betroffenen Gemeinden befreit. Wie passt das bitte zusammen? Die Regierung erzählt einfach nicht die Wahrheit."
    Bis zu 6.000 Männer sollen im Nordosten für Boko Haram kämpfen
    Tatsächlich spricht vieles dafür, dass sich die Sicherheitslage im Nordosten Nigerias verschlimmert hat. Bis zu 6.000 Männer sollen unter der schwarzen Flagge von Boko Haram kämpfen - auch gegeneinander, denn die Terrorgruppe ist in zwei Fraktionen zerfallen. Vor allem die jüngere der beiden, die sich "Islamischer Staat der Provinz Westafrika" nennt, ist bestens ausgerüstet und hochmotiviert. Anders die Armee: Viele Soldaten sind seit Jahren ohne Pause im Kampfgebiet stationiert; sie klagen über zu wenig Waffen, Munitionsmangel und die fehlende Aussicht auf militärischen Erfolg. Wenn Boko Haram anrückt, so heißt es, fliehen die Soldaten oft zuerst.
    Wie unter solchen Bedingungen eine Wahl stattfinden soll, bei der 84 Millionen Nigerianer zur Stimmabgabe aufgerufen sind, weiß niemand. Mehr als sieben Millionen Wahlkarten waren zuletzt noch nicht verteilt. Das hält Atiku Abubakar, den wichtigsten Herausforderer von Präsident Muhammadu Buhari, nicht davon ab, unter Jubel seiner Anhänger Geld und Arbeitsplätze zu versprechen. Das Rennen ist knapp, die Stimmung angespannt, beobachtet der Erzbischof der Lutherischen Kirche Christi in Nigeria, Panti Filibus Musa:
    "Wir fragen uns mit großer Sorge, ob die anstehenden Wahlen frei, fair und glaubwürdig sein werden. Im Wahlkampf sind Gegner herabgewürdigt worden, und es wird insgesamt eine Sprache verwendet, die zu Hass und Gewalt anstiftet."
    Die Stimme von Kirchen ist auch deshalb wichtig, weil in Gegenden wie der um Yola Muslime und Christen auf engem Raum zusammenleben. Panti Filibus Musa befürchtet, dass Politiker mit Brandreden gegen die jeweils andere Religion punkten wollen:
    "Oft sehen Politiker in der Manipulation religiöser Gefühle den einfachsten Weg, Sympathien zu gewinnen. Und dann machen sie das auch, auf mehr oder wenige subtile Weise. Das funktioniert, weil Religion in Nigeria auch im Alltag eine so zentrale Rolle spielt."
    Die Kirche ruft zu friedlichen Wahlen auf
    Bei einem Kirchentag unweit von Yola rief Erzbischof Panti Filibus Musa vor Kurzem die 50.000 teilnehmenden Lutheraner dazu auf, für friedliche Wahlen einzutreten. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn Gewalt bestimmt den Alltag der Menschen mindestens genauso wie Religion. Wo Boko Haram zurückgeschlagen worden ist, sind es jetzt schwer bewaffnete Banden nomadischer Viehhirten, die über sesshafte Bauern herfallen. Überall im Zentrum Nigerias schlagen sie zu. Pasca Joseph ist erst vor ein paar Monaten von der Flucht vor Boko Haram in ihr befreites Dorf zurückgekehrt. Jetzt lebt die 65-Jährige in ständiger Angst vor marodierenden Banden. Sie beschreibt:
    "Wir sind Bauern. Sobald Regen fällt, bringen wir die Saat aus. Dann ernten wir. Aber die Viehtreiber kommen immer häufiger und lassen unsere Felder abweiden. Und wenn wir uns wehren, bringen sie uns um. Wenn wir Glück haben, verprügeln sie uns nur oder zünden unsere Häuser an. Wir leiden von morgens bis abends."
    Besonders gefährlich ist das, weil die meisten Nomaden Muslime und die große Zahl der Sesshaften Christen sind. Das heizt die Spannung zwischen den Religionen weiter an. Und dann sind da noch die Entführungen, die zuletzt dramatisch zugenommen haben. Für ein bisschen Sicherheit sorgen nur die Bürgerwehren, für die auch Solomon Johnson kämpft. Der 32-Jährige trägt eine verrostete Kalaschnikow über der Schulter und einen Fellhut auf dem Kopf. Solomon Johnson:
    "Die Gefahr von Boko Haram ist real. Seit zehn Jahren fallen sie immer wieder bei uns ein. Aber ich habe dieses Gewehr und einige Zaubersprüche, mit denen ich sie abhalten kann. So ersetzen wir die Polizei."
    Pasca Joseph nickt zufrieden. Sie ist entschlossen, am kommenden Samstag wählen zu gehen - komme, was wolle. Ihre Wahlkarte mit dem verblichenen Barcode ist einer der wenigen Schätze, die sie auf ihrer Flucht bewahrt hat.