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Ein Liebling Goethes

Der psychologische Roman "Anton Reiser" aus dem 19. Jahrhundert ist von überraschender Modernität, spannend zu lesen und gehört zur Weltliteratur. Der Autor Karl Philipp Moritz indes blieb weitgehend unbekannt.

Von Ariane Thomalla |
    "Moritz ist hier, der uns durch 'Anton Reiser' und die 'Wanderungen durch England' merkwürdig geworden. (Es ist ein reiner trefflicher Mann, an dem wir viel Freude haben.)"

    Karl Philipp Moritz, der nicht ablasse "über die Innerlichkeiten des Menschen, seine Anlagen und Entwicklungen fortwährend zu sinnen und zu spinnen", notierte im Dezember 1786 Goethe in Rom und teilte nicht ohne Betroffenheit mit:

    "Moritz ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin. "

    Schon die lieblosen Eltern hatten dem Kind fast ein Bein amputieren lassen, was in letzter Minute ein menschenfreundlicher Schuster mit einer entzündungshemmenden Salbe abwenden konnte. Zeitlebens litt Karl Philipp Moritz, der am 15. September 1756 in Hameln geboren wurde, an den Folgen solcher Beschädigungen. Ein nie behandeltes Lungenleiden wurde zur Ursache seines frühen Todes mit nur 37 Jahren.

    Beschädigungen auch der Seele des Kindes: Der Vater, ein Militärmusikus, war den "Seelenführern" eines radikalpietistischen Quietismus hörig, deren Praktiken an üble Sekten von heute erinnern. Höchstes Ziel war die Auslöschung des eigenen Ichs und als Vorstufe dazu die "Ertötung" jeder Eigenliebe. Im "Anton Reiser", Moritz’ "psychologischen Roman", von ihm ausdrücklich so bezeichnet, dem ersten übrigens der deutschen Literatur, wird erzählt, wie sich der kleine Junge in selbstquälerischem Erfüllungseifer verbog - bis dahin sogar, die "Süßigkeit des Zurückgesetztseins" auszukosten. Den Zwölfjährigen steckte der Vater in die Lehre zu einem Braunschweiger Hutmacher, einem Glaubensbruder, der ihn körperlich und seelisch so misshandelte, dass der Junge sich zu ertränken versuchte. Der Pastor, der ihn konfirmierte - zu Moritz' Glück war das damals eine Bürgerpflicht -, empfahl seine große Begabung einem reichen Wohltäter. Das hieß: Freier Schulbesuch bis hin zur Universität, aber auch jahrelanges Gedemütigtsein als Almosenempfänger. Da half nur die Flucht von der wirklichen in die idealische Welt der Fantasie und des Geistes, was, schrieb Arno Schmidt, typisch für die "Schreckensmänner" der Aufklärung sei:

    "Arm geboren sind sie. Unter unglücklichen Familienverhältnissen aufgewachsen. Brennenden scharfen Geistes übervoll - und dieser, da auf einen bösen Boden gepflanzt, nichts weniger als angenehm. Sie sind mit ihrer überscharf gewetzten Beobachtungsgabe, ihrer allumfassenden Rücksichtslosigkeit die geborenen Autobiographen. "

    Wie Moritz seine eigene Kindheit im "Anton Reiser" literarisch umsetzte und bewältigte, hat auch die Vertreter der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert fasziniert. Sie sahen ihn in seiner schonungslosen Selbstanalyse als einen Vorläufer. Er habe sozusagen vor Freud schon die Bedeutung der frühen Kindheit für die Persönlichkeit und deren Pathologien erkannt.

    Zum Roman "Anton Reiser" bemerkte er absichtsvoll:

    "Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen großenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind."

    Aus seinem Leben. Anders jedoch als seinem fiktionalen Ich "Anton Reiser" gelang Karl Philipp Moritz der Aufstieg. Über 20 Bücher schrieb er als Philosoph, Psychologe, Pädagoge, Altertums-, Mythen- und Sprachforscher. Hochgeschätzte Schriften wie "Über die bildende Nachahmung des Schönen" oder "Götterlehre und Mythologische Dichtungen der Alten". Moritz gründete 1785 die erste psychologische Zeitschrift, das "Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde", das in elf Folgen erschien.

    Goethe lud Moritz gleich nach der Italienischen Reise nach Weimar und empfahl ihn dem Herzog als Englischlehrer. Der wiederum verhalf ihm zu einer Professur der Theorie der schönen Künste in Berlin, wo große Geister wie Wilhelm Tieck und Alexander von Humboldt seinen Vorlesungen lauschten. Ein Jahr später schon, 1791, wurde Moritz Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und zum Hofrat ernannt. 1792 wagte er eine nicht unkomplizierte Heirat mit einer 15-Jährigen. 1793 starb er an einem Lungenödem. So treu denn doch von seiner Friederike gepflegt, dass sie angesteckt wurde und gleichfalls starb.