Freitag, 29. März 2024

Archiv


Ein "Mehr an Demokratie" in Europa

Die frühere Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes, Sylvia-Yvonne Kaufmann, begrüßt die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages. Zukünftig werde es kaum noch Politikbereiche geben, wo ohne das EU-Parlament entschieden werden könnte.

Sylvia-Yvonne Kaufmann im Gespräch mit Firedbert Meurer | 01.12.2009
    Friedbert Meurer: Es war ein Marathonlauf, der schiere acht Jahre alles in allem gedauert hat. Immer wieder tauchten neue Hindernisse auf. Heute endlich kann der Vertrag von Lissabon in Kraft treten. Ursprünglich sollte er einmal eine europäische Verfassung werden. Das war den Franzosen und Niederländern zu viel des Guten. Sie haben per Volksentscheid im Jahr 2005 den Verfassungsvertrag abgelehnt. Heute also der Geburtstag des Vertrags von Lissabon. Sylvia-Yvonne Kaufmann war Vizepräsidentin des Europaparlaments für die Linkspartei, hat im Verfassungskonvent mitgearbeitet, der die europäische Verfassung erst einmal ohne Erfolg ausgearbeitet hat. Mit ihrer eigenen Partei hat sie sich dann als eine ausgewiesene Befürworterin des EU-Vertrages von Lissabon überworfen, heute ist sie Mitglied der SPD, bei uns am Telefon. Guten Morgen, Frau Kaufmann.

    Sylvia-Yvonne Kaufmann: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Auch wenn es nicht zu einer richtigen Verfassung gereicht hat, die Sie ja damals mit ausgearbeitet haben, haben Sie tatsächlich heute Morgen schon eine Flasche Sekt geköpft?

    Kaufmann: Dafür ist es für mich etwas zu früh, aber heute Abend werde ich mir auf jeden Fall ein Glas Sekt genehmigen, ja.

    Meurer: Was versetzt Sie in Feierlaune?

    Kaufmann: Sie haben das ja eben im Beitrag deutlich gemacht. Die Europäische Union hat einen Reformmarathonlauf hinter sich. Über viele Jahre hinweg ist für und wider gestritten worden, wie die Europäische Union vertieft und erweitert werden kann, wie die Institutionen, die Europäische Union fitt gemacht werden kann für die Zukunft. Und dass heute nach so vielen Jahren endlich der Reformvertrag in Kraft treten kann, das ist ein wichtiger, guter Tag für Europa. Es ist ein Meilenstein für die Entwicklung der europäischen Integration.

    Meurer: Was ist für Sie der wichtigste Fortschritt, Frau Kaufmann?

    Kaufmann: Der wichtigste Fortschritt für mich ist das Mehr an Demokratie. In dem Beitrag eben ist von den gestärkten Rechten des Europäischen Parlaments die Rede gewesen, von den gestärkten Rechten der nationalen Parlamente. Das ist richtig, aber für mich ist noch wichtiger, dass künftig die Bürgerinnen und Bürger selbst die Möglichkeit erhalten werden, europäische Politik mitzugestalten, denn der Vertrag von Lissabon sieht ein neues Instrument, die sogenannte europäische Bürgerinitiative vor. Das heißt, eine Million Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union können künftig direkt die europäische Kommission auffordern, ein konkretes Gesetz auf den Weg zu bringen. Hier setze ich auf die Bürgerinnen und Bürger.

    Meurer: Bekommen wir dann vielleicht Initiativen wie jetzt in der Schweiz bei den Minaretten?

    Kaufmann: Wir werden auf jeden Fall pro und kontra unterschiedlichste Ideen über die Gestaltung der europäischen Integration erleben und wesentlich mehr öffentliche politische Debatte darüber und ich glaube, das ist auch etwas, was das europäische Projekt dringend braucht, denn leider haben viele Menschen noch immer so ein Stück weit das Gefühl, dass Europa eher ein Projekt von Eliten ist, und genau das soll es ja nicht sein, sondern es ist ein Projekt, das Staaten und Völker zusammenbringen soll und das Bürgerinnen und Bürger ermöglichen soll, dies auch selbst mitzugestalten.

    Meurer: Weil es diese Vorbehalte in der Gesellschaft und in den Gesellschaften gibt, ist die Bürgerinitiative, von der Sie gesprochen haben - eine Million Unterschriften ist in einer EU mit über 400 Millionen Einwohnern nicht so viel -, ein Einfallstor für die EU-Skeptiker?

    Kaufmann: Nein. Wissen Sie, ich finde es ganz großartig, dass erstmals ein Instrument direkter Demokratie auf supranationaler Ebene existieren wird. Der Vertrag von Lissabon tritt heute in Kraft. Das heißt, dieses Instrument wird es geben. Wie es konkret auszugestalten ist, das muss ja noch entschieden werden. Das heißt, es muss ein europäisches Gesetz, eine Verordnung geben, die das genau regelt. Ich persönlich setze darauf wirklich große Hoffnungen, denn ich denke, dass die Bürgerinnen und Bürger kluge Ideen haben werden, was sie mehr an Europa wollen.

    Meurer: Es ist immer wieder die Rede vom Demokratiedefizit, das es in der EU gäbe. Die Bürgerinitiative ist für Sie eines. Was ändert sich im Europaparlament zum besseren?

    Kaufmann: Das Europäische Parlament wird künftig quasi in 95 Prozent aller Fälle, wo es um Gesetzgebung geht, gleichberechtigt mit dem Ministerrat entscheiden. Das ist eine enorme Aufwertung des Europäischen Parlaments. Es wird quasi keine Politikbereiche mehr geben, wo ohne das Parlament entschieden werden könnte. Beispiel Haushalt der Europäischen Union; hier wird das Europäische Parlament mit zur Haushaltsbehörde. Energiepolitik, Fragen des geistigen Eigentums, Katastrophenschutz, Kontrolle von Europol, Datenschutz, Personenkontrollen an den Außengrenzen, in vielen, vielen Bereichen wird das Europäische Parlament künftig mitentscheiden und ich bin davon überzeugt, dass es diese neue Rolle auch selbstbewusst wahrnehmen wird.

    Meurer: Das Europaparlament kann aber weiterhin keine eigenen Gesetze vorlegen. Wie sehr schmerzt Sie dieses Manko?

    Kaufmann: Vielleicht werden wir in Zukunft ein Initiativrecht des Europäischen Parlaments haben. Mit dem Vertrag von Lissabon wird sich aber auch in dieser Hinsicht einiges ändern, denn das Parlament wird ein sehr starkes sogenanntes Aufforderungsrecht haben. Das heißt, das Parlament kann die Kommission auffordern, diese oder jene Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen. Bisher war das so, dass die Europäische Kommission sagen konnte, interessiert uns nicht, was das Parlament da vorlegt, sie musste darauf nicht reagieren. Künftig ist das nicht mehr möglich, denn die Kommission müsste für den Ablehnungsfall begründen, warum sie eine politische Initiative des Parlaments zurückweist. Also auch in der Frage ist die Rolle des Parlaments deutlich gestärkt worden.

    Meurer: Bei den Europawahlen, Frau Kaufmann, gab es eine ziemlich niedrige Wahlbeteiligung, in Deutschland gerade mal 43 Prozent, in den Niederlanden 37, Tschechien ganz hinten 28 Prozent. Verliert damit das Europaparlament an Legitimation?

    Kaufmann: Nein, das nicht, aber es ist natürlich in keiner Weise gut, dass so wenige Bürgerinnen und Bürger sich an den Wahlen beteiligt haben und ich hoffe, dass auch die neue Rolle des Europäischen Parlaments und die absehbaren deutlicheren Kontroversen über die Ausgestaltung der europäischen Integrationspolitik doch dazu führen werden, dass Menschen sich mehr für die europäische Politik interessieren. Wie gesagt, mit diesem neuen Instrument setze ich auch darauf, dass über die europäische Bürgerinitiative europäische Politik künftig attraktiver wird.

    Meurer: Sylvia-Yvonne Kaufmann, sie war Mitglied im Verfassungskonvent. Heute tritt der Vertrag von Lissabon in Kraft. Frau Kaufmann, ich bedanke mich. Auf Wiederhören!

    Kaufmann: Auf Wiederhören.