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Ein neuer Präsident – (k)ein neues Land

Die Sendereihe "Wegmarken" greift Schlagworte auf, die den öffentlichen Diskurs 2008 geprägt haben und auch über die Jahreswende hinaus weiter prägen werden. Namhafte Autoren beschäftigen sich in Radio-Essays mit aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen.

Von Gabor Steingart |
    Kapitel I: Barack Obama. Erlöser gesucht
    Amerika hat mehr als nur einen neuen Präsidenten gewählt. Viele sehen in ihm: den Erlöser. Barack Obama verkörpert die Sehnsucht von Millionen, nicht nur in Amerika, nach einer Welt mit mehr Frieden, mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit. Diese Sehnsucht wird mit jedem Tag größer. Denn wann immer ein Amerikaner sein Fernseh- oder Radiogerät einschaltet, schallen ihm Negativnachrichten entgegen: Finanzkrise, Krieg, Konjunktureinbruch. Wohin der Mann aus Kansas und die Frau aus Florida auch schauen, sie sehen schwarze Wolken heranziehen – aus Detroit, aus Bagdad, aus Teheran, aus Moskau und auch vom Arbeitsmarkt weht es düster herüber. Da kommt ein Politiker gerade recht, dessen wichtigstes Versprechen "Change" lautet, Veränderung, Wechsel, Neuanfang. Es ist, als liefen zwei Filme gleichzeitig: ein düsterer Schwarz-Weiß-Streifen, der an die 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert. Wir sehen Arbeitslose, die in einer langen Schlange vor der Suppenküche warten. Immerhin: Rund 30 Millionen Amerikaner beziehen schon wieder staatliche Lebensmittel-Gutscheine. Die Finsterlinge in diesem Film sehen aus wie die Bankbosse von der Wall Street. Zur gleichen Zeit läuft ein vergnüglicher Familienfilm in Supercolor: Strahlende Gesichter vor Weißem Haus. Kinderlachen. Demnächst ein Präsidentenhund, das hat Obama seinen Töchtern Sasha und Malia öffentlich versprochen. Das Versprechen an die Welt lautet: Ich höre zu. Ich bin friedlich. Amerika will Partner, nicht länger Vormund sein. Das Erfreuliche ist: Die Hoffnungen, die auf dem Mann ruhen, sind nicht nur groß, sie sind auch solide begründet. Obama hat tatsächlich Chancen, wenn schon nicht ein Erlöser, so doch ein Erneuerer Amerikas zu werden. Die Sterne stehen gut für ihn. Erstens: Er kann Menschen motivieren. Obama ist ein Mann, der mit Worten führt. Er sagt "wir", nicht "ich". Er sagt "wir können es schaffen", verwendet nicht dieses protzige "Wir schaffen das schon", das Bush sich angewöhnt hatte. Obama weckt demokratische Leidenschaft, setzt in der Bevölkerung spirituelle, das heißt geistige, nicht messbare Energien frei, die ein Land aber braucht, wenn es in schwieriger Zeit nicht an sich selbst verzweifeln soll. Zweitens: Die ökonomisch schwierigen Zeiten kommen dem neuen Mann im Weißen Haus durchaus entgegen. Das klingt paradox, aber es ist so. Er hat Milliarden an zusätzlichen Ausgaben versprochen. Und was fordern nun Ökonomen aller Schattierungen? Milliarden an zusätzlichen Ausgaben. Er will dafür Schulden machen. Und was raten ihm alle Experten? Jetzt unbedingt Schulden machen. Er hat die Förderung umweltfreundlicher Technologie angekündigt. Und was wünscht sich die westliche Staatenwelt von ihm? Mehr Klimaschutz. Ein neues, ein grünes Amerika. Der dritte Grund, warum Obama gute Chancen hat, der Erneuerer Amerikas zu sein, ist der wichtigste: Das Land ist an einer Kreuzung angelangt, wo der Weg entweder in den Abgrund oder wieder nach oben führt. Das Land kann so jedenfalls nicht weitermachen. Die Finanzindustrie kann nicht weiter Geld verleihen, das sie nicht besitzt. Detroit kann nicht weiter Autos bauen, deren Benzinverbrauch sich kaum jemand mehr leisten kann. Amerika kann nicht weiter ohne Rücksicht auf Verluste Kriege führen. Hinzu kommt: Obamas politische Gegner sind wie betäubt. Die Konservativen haben nach dem Desaster der Bush-Jahre mit sich selbst genug zu tun. Die Erneuerung Amerikas kann also beginnen. Immer wieder zitiert Obama den Satz seines Vorbildes, des großen Kriegs- und Krisenpräsidenten Franklin Roosevelt: "Wir haben nichts zu fürchten außer die Furcht selbst". Damit will er Mut machen - vielleicht auch sich selbst.

    Kapitel II: Amerika. Die Supermacht der Krisen
    Wann immer Präsident George Bush in den vergangenen Jahren mit stahlblauer Krawatte vor die Kameras trat - er hatte Schreckensnachrichten mitgebracht: Amerika wird angegriffen. Amerika zieht in den Krieg. In Amerika brechen die Banken zusammen. Die Schlussbilanz der Bush-Jahre ist mit dem Wort "trostlos" noch beschönigend beschrieben. Wohl selten hat ein Regierungschef das ihm anvertraute Gemeinwesen einem solchen Stress ausgesetzt. Da ist zunächst die Wirtschaftskrise, die sich lange vor dem Zusammenbruch an der Wall Street abzeichnete. Die Wachstumsraten in den USA sind seit vielen Jahren schon gekauft und nicht ehrlich erwirtschaftet. Denn: Immer neues Leihgeld wurde in den Wirtschaftskreislauf gepumpt. Nicht die Produktion stieg, der Konsum wuchs. Und der Konsum wuchs, obwohl die Durchschnittslöhne schrumpften. Des Rätsels Lösung waren steigende Schulden. Rund eine Milliarde Dollar leihen sich der US-Staat und seine Bürger pro Werktag im Ausland. Vor drei Jahren waren es erst 660 Millionen Dollar. Das Fundament der Volkswirtschaft ist über die Jahre erodiert. Immer hastiger wurde Produktion ausgelagert – nach Mexiko, nach China und Indien. Nur noch 15 Prozent der Beschäftigten sind Arbeiter. Zum Vergleich: In Deutschland sind es doppelt so viele. Amerika hat in vielen Branchen seine Produktionsbasis bereits verloren. Wenn es nur die Autoindustrie wäre. Aber es gibt derzeit kaum noch eine Firma in Amerika, die das Publikum nicht mit Verlusten und einem düsteren Blick in die Zukunft beliefert. Selbst die Kaffeekette Starbucks schließt 600 Läden. Die Wirtschaftskrise wird begleitet von einer sozialen Krise historischen Ausmaßes. Nirgendwo in der westlichen Welt ist der Graben zwischen arm und reich so tief – und er wird täglich tiefer. Es gibt zwei Amerikas: das Amerika der Oberschicht – dort ist die Welt in Ordnung. Die Kinder studieren in Harvard, die Frau organisiert Wohltätigkeitsnachmittage, am Wochenende erholt man sich gemeinsam im Ferienhaus am Atlantik. Diesem Fünf-Sterne-Amerika steht das Amerika der Großstadt-Gettos gegenüber. Die Bronx in New York, die Innenstadt von Los Angeles, der Stadtteil Southeast in Washington. Dort dominieren Gewalt und Drogen den Alltag. In diesen Wohnstätten der Hoffnungslosen leben die knapp 50 Millionen Amerikaner, die nicht krankenversichert sind. Die Bush-Regierung hat die sozialen Unterschiede nicht gemildert, sondern befördert. 15 Steuerreformen in sieben Jahren kamen ausschließlich der Oberschicht zugute. Obama hat den Reichen bereits angekündigt, was sie von ihm zu erwarten haben: eine Steuererhöhung. Als würden Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Autokrise und die wachsende soziale Ungleichheit nicht schon reichen, kommt noch eine Energiekrise dazu. In keinem anderen Land der westlichen Welt wird soviel Energie verschwendet. Nur fünf Prozent der Weltbevölkerung leben in den USA. Aber die verbrauchen ein Viertel der Weltfördermenge an Öl. Obama rieb den Konservativen im Wahlkampf das deutsche Vorbild unter die Nase: "Deutschland, ein Land so wolkenverhangen wie der pazifische Nordwesten unseres Landes", sagte er, "ist nun der Weltführer in Sachen Solarenergie". Amerika müsse diesem Vorbild nacheifern. Am Ende bleibt noch eine Frage zu beantworten: Wie konnte es eigentlich passieren, dass ein so freies, so diskussionsfreudiges, so zukunftsversessenes Land all diese Krisen und Reformdefizite so lange übersah? Die Standardantwort lautet: Bush ist schuld. Aber das ist zu einfach. Er war es nicht allein: Das ganze Land war mit sich selbst beschäftigt. Nach dem Angriff islamistischer Terroristen auf das World Trade Center stand die Nationale Sicherheit im Brennpunkt. Der "Krieg gegen den Terror" veränderte die Aufmerksamkeits-Ökonomie der USA. Man schaute nicht mehr nach Detroit, sondern nach Bagdad. Nicht dem Finanzbezirk in New York, dem Treiben in der Bergwelt von Afghanistan galt nun das politische Interesse. Und: Was ist schon der allmähliche Klimawandel gegen das tausendfache Sterben an zwei Kriegsfronten? Immerhin: Das Volk will sich wieder den Zuständen im Innern zuwenden. Angst und Terrorhysterie waren keine guten Ratgeber. Nur einer zeigt sich unbelehrbar: Bush. Die Wirtschaftskrise ist für ihn kaum mehr als ein unglücklicher Zufall. Die soziale Ungleichheit bestreitet er. Wann immer er zum Krieg befragt wird, antwortet er kaltschnäuzig: Warten Sie ab, wait and see. History will judge me right. Die Geschichte wird mir Recht geben. Wahrscheinlich ist das sein letzter, großer Irrtum.

    Teil III: Amerika will weniger amerikanisch sein. Veränderung von unten.
    Wenn der linke Filmemacher Michael Moore – wie hier bei der Oscar-Verleihung des Jahres 2002 – gegen Präsident George W. Bush vom Leder zog, war die Reaktion stets gemischt: Es gab Bravo- und es gab Buhrufe. Das Land war politisch geteilt. Moore blieb sich treu. Das Land aber hat sich seither verändert. Die meisten Wähler können sich kaum mehr erinnern, dass sie Bush zweimal ihre Stimme geschenkt haben. Würde Michael Moore seine Rede heute wieder halten – frenetischer Applaus wäre ihm sicher. Das Land ist erkennbar bereit, sich zu verändern. Viele wissen heute, dass die amerikanische Mehrfachkrise viel mit ihnen selbst zu tun hat. Amerika ist zu amerikanisch geworden, um im 21. Jahrhundert als Führungsmacht bestehen zu können. Die Finanzkrise, die zurzeit die ganze Welt erschüttert, ist ja nicht allein dem Treiben geldgieriger Banker geschuldet. Sie ist auch das Ergebnis verantwortungsloser Kunden. Ohne Sparleistung, oft sogar ohne Einkommen liehen sich Amerikaner hohe Geldbeträge. Das Leben auf Pump ist für viele eine Selbstverständlichkeit geworden. Auch die Energieverschwendung wurzelt tief im amerikanischen Bewusstsein. Aber: Eine Trendwende ist erkennbar. Es werden immer mehr sparsame Autos gekauft, die Haus-Isolierung boomt. Viele hoffen auf zusätzliche Jobs in der Umwelttechnik. Fünf Millionen neue, grüne Arbeitsplätze hat Obama versprochen. Auch bei den politischen Grundüberzeugungen hat es eine Verschiebung gegeben. Obama hat den Wahlkampf gewonnen, obwohl sein Staat ein starker Staat sein wird. Auf über zwei Billionen Dollar addieren sich seine Wahlversprechen für die kommenden zehn Jahre. Die Angriffe der Konservativen gegen das "big spending", das große Geldausgeben, gegen "big government", die fette Regierung, fruchteten diesmal nicht. Die Bevölkerung scheint bereit, ein Stück finanzieller Freiheit gegen ein Stück sozialer Sicherheit zu tauschen. Die bisherigen Schizophrenien der amerikanischen Gesellschaft scheinen sich aufzulösen. Der bekannte und beliebte Radiojournalist Dick Meyer hilft dabei. "Warum wir uns hassen", heißt sein Buch. Die Amerikaner hassen sich, sagt Meyer, weil sie zu viel essen, zu viel Auto fahren, zu viel Krieg führen, und bei alldem zu wenig nachdenken. Das kollektive "wir" reflektiere nicht das Beste des "ich", sondern eher das Gegenteil. Alle wollten clever sein, aber niemand sei mehr weise. Der Befund ist nicht neu. Neu ist, dass er laut und publikumswirksam geäußert werden darf, ohne dass man als Anti-Amerikaner gilt. Das Dröhnend-Belehrende ist weg. Das überbordende Selbstbewusstsein verschwindet. Die Neigung, den Rest der Welt erziehen zu wollen, hat erkennbar abgenommen. Vielleicht ist das die gute Nachricht inmitten all der schlechten: Das neue Amerika will weniger amerikanisch sein.

    Teil IV: Die neue Außenpolitik. Fördern und fordern.
    Der künftige Mann im Weißen Haus steht – ausweislich seiner Reden und Aufsätze – für eine neue Außenpolitik. Er hat Kooperation versprochen, und es gibt bisher gute Gründe ihm zu glauben: Die neokonservative Strategie, die Diplomatie als Zeitverschwendung und den militärischen Erstschlag als Grundrecht der USA ansah, hat sich als unfruchtbar erwiesen. Sie wird wohl vorerst keine neuen Triebe hervorbringen. Schon der Grundgedanke der Neokonservativen war falsch. Die Welt, glaubten sie, bestehe aus Gut und Böse. Und aus den Weichlingen im "alten Europa", wie der einstige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sich ausdrückte. Das Böse lasse sich isolieren oder gar ausmerzen, die Weichlinge müsse man nur ignorieren. Aber die Welt besteht nicht aus Gut und Böse, sondern aus unterschiedlichen Interessen und Werten. Kluge Politik versucht diese zu verstehen und auszubalancieren. Wer das nicht versteht – wie Bush – holt sich eine blutige Nase. Obama ist da weiter. Mit Alleingängen ist in dieser Welt nichts zu gewinnen, sagt er so selbstverständlich, als habe das im Leben der Großmacht USA schon immer gegolten. Er und seine Vertrauten setzen auf ein außenpolitisches Konzept, das sich Soft-Power-Politik nennt. In diesem Konzept werden alle Instrumente im Werkzeugkasten der Außenpolitik zur Hand genommen, nicht nur Hammer und Brechstange. Soft-Power-Politik bedeutet Vorbild sein, reden, verhandeln, locken und drohen, kooperieren und sanktionieren. Für Europa dürfte diese Politik einige Neuerungen bringen. Erkennbar ist es Obamas Ehrgeiz, Europäer und Amerikaner wieder zu versöhnen. "Die Amerikaner möchten nicht länger das Stinktier auf der Gartenparty sein", sagt Jackson Janes von der John Hopkins Universität. Obama will beliebt sein - aber nicht nur. Er und seine Beratertruppe lassen keinen Zweifel daran, dass Partnerschaft für sie auch In-die-Pflicht-Nehmen bedeutet. Ein Präsident Obama wird fördern, um zu fordern. "Tough love”, strenge Liebe, nennen die Amerikaner diese Politik, die auf dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche beruht. Für die Europäer bedeutet das: sie dürfen mitentscheiden. Sie sollen dann aber auch mitverantworten. Auch mitbezahlen. Mitleiden müssen sie - oder besser ihre Soldaten - dann wohl auch, selbst wenn das noch niemand so offen sagt. Im Irak und in Afghanistan kamen bisher über 5.000 Amerikaner zu Tode, über 40.000 wurden verletzt, viele davon verstümmelt. Den Kampf gegen den Terror, der die Bush-Ära prägende Begriff, wird auch unter einem Präsidenten Obama nicht abgeblasen. Bushs Außenpolitik hieß: Panzer, Flugzeugträger und Tornados. Obamas Außenpolitik wird bedeuten: Diplomatie und Aufbauhilfe. Erst wenn beides nicht zum Ziel führt, kommen wieder Panzer, Flugzeugträger und Tornados ins Spiel. So plant Obama eine Truppenverlagerung vom Irak nach Afghanistan, an den zweiten Frontabschnitt im Anti-Terror-Kampf. "Wir dürfen den Krieg in Afghanistan nicht verlieren”, sagt er immer wieder. "Wir brauchen mehr Truppen, mehr Flugzeuge, mehr Hubschrauber, mehr Nato”, so Obama in seiner Grundsatzrede zur Außenpolitik im Wahlkampf. Er hätte auch "mehr Europa” sagen können – oder "mehr Deutschland”. Aber das wird noch kommen. Deutschland muss an der Front mehr leisten, das ist Konsens in den USA. Der ewige Außenpolitiker des Landes, Henry Kissinger, nutzte unlängst eine Veranstaltung in der Deutschen Botschaft in Washington, um die deutschen Freunde daran zu erinnern, dass es keine "Nato-Mitgliedschaft à la Carte” geben könne. Die Arbeitsteilung in Afghanistan, wo die Deutschen im mehr oder minder befriedeten Norden und die Amerikaner im umkämpften Süden stationiert sind, sei für keine US-Regierung akzeptabel. Zur größten Überraschung für Europa dürfte werden, wenn Obama Ernst macht mit seiner Ankündigung die Kampfzone auszuweiten und einen dritten Frontabschnitt zu eröffnen: in den Bergen von Pakistan. Obama ist, nach allem, was man erkennen kann, kein Softie, kein Pazifist, kein Frieden-um-jeden-Preis-Politiker. Er wird ebenfalls ein aktiver Kriegspräsident sein. Vor allem an der Heimatfront will auch er mit Härte überzeugen. Der Vorwurf der Konservativen, er sei naiv, weich und nicht der richtige Führer für die US-Armee, muss in den kommenden Jahren entkräftet werden. Taten wirken besser als Worte. Auch für Barack Obama gilt, was für seine Vorgänger galt: Außenpolitik in Amerika ist die Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln.