Verlage, vor allem die interessanten, haben oft eine Biografie, die ein wenig an das erinnert, was in Familien geschieht. Zehn Jahre, eine knappe Dekade, das kann schon genügen, um einen Stammbaum wachsen zu lassen, Ableger, Trennungen und diverse Verlagsgeschwister inklusive. Man nehme den secession Verlag für Literatur. Seine Firmenadresse ist Zürich, aber die Bücher werden in Berlin gemacht. Dort, in Berlin, genauer, in der Potsdamer Straße 98a, in den lichten Räumen einer Galerie für Druckkunst, trifft man meistens einen der beiden Verleger an. Von Anfang an mit dabei war Christian Ruzicska, ein hochaufgeschossener Endvierziger, Dreitagebart, studierter Germanist und Philosoph, mit wachem, um nicht zu sagen: nervösem Rundumblick.
"Ich bin Christian Ruzicska, einer der beiden Verleger des secession Verlags für Literatur. Wir haben diesen Verlag vor inzwischen gut zehn Jahren gegründet, ganz genau weiß ich das nicht mehr, aber es ist ein 18. August gewesen, ich glaube 2009. Und wir haben uns mit der Gründung dazu entschieden, hochwertige Literatur machen zu wollen und dieser hochwertigen Literatur auch eine hochwertige Form, sprich: Materialien zu geben."
Wir - das waren damals, 2009, Christian Ruzicska und Susanne Schenzle, eine erfahrene Vertriebsleiterin, die der Schweizer Ammann Verlag auf den Markt entlassen hatte. Schenzle war bis 2013 dabei, heute leitet sie den Schweizer Independent Verlag Ink Press. Zu den Gründen ihres Weggangs vom secession Verlag schweigt Susanne Schenzle öffentlich. Inoffiziell zaubert die Frage ein feines Lächeln auf ihr Gesicht. Bringen wir es auf einen höflichen Nenner: Schweizer Beharrlichkeit - Schenzle - traf wohl auf eine rheinisch geprägte Umtriebigkeit, der man gewachsen sein muss.
In einem frühen Zeitungsporträt wurde Christian Ruzicska jedenfalls schon einmal Größenwahn bescheinigt. Das stand 2002 im "Spiegel", und damals hieß der Verleger an seiner Seite Michael Zöllner. Wir sind damit bei der Elterngeneration des secession Verlags für Literatur angelangt: Beim Kölner Tropen Verlag, bis heute als Imprint geliebt vom Handel und der Presse, 1998 gegründet von den beiden Freunden Christian Ruzicska und Michael Zöllner, die Familienlegende verzeichnet hier ein Bratkartoffelessen. Nach zehn Jahren endete das gemeinsame Verlegerglück, einer der beiden ging fremd. Der andere, also Ruzicska, erinnert sich:
"Wow, es funktioniert"-Gefühle
"Da habe ich Tropen gegründet, mit Michael Zöllner, und da war ich noch sehr naiv und habe diesen Gründungsakt sozusagen besegnet mit einem Handschlag bei einem Abendessen. Und das fing ganz einfach an, wir haben ein Buch gemacht, und dann haben wir ein halbes Jahr später das nächste Buch irgendwie geplant gehabt, und dann sind wir Verleger geworden, bei doing. Mit allen Fehlern, die man machen konnte, mit allen ,Wow, es funktioniert'-Gefühlen, aber ich hatte keine Unterschrift unter irgendeinen Vertrag gesetzt. Und Michael Zöllner hat dann Tom Kraushaar dazu genommen, während ich bei einer Theaterinszenierung in der Nähe von Frankfurt gewesen bin, dann hörte ich über drei Ecken, dass dieser Verlag, der super funktioniert hat, und wir haben auch der Presse immer gesagt, wir würden uns niemals verkaufen, also das war immer meine Haltung dazu, verkauft wurde an Klett Cotta. Und dann stand ich mit 35 Jahren da und hatte nichts mehr. Also, das war schon ein Schock."
Auf Nachfrage bestätigt Christian Ruzicska auch den finanziellen Bankrott, der für ihn mit dem Verkauf des Tropen Verlags einherging. Es folgte für den damaligen Mittdreißiger eine Zeit der Selbständigkeit, unter anderem als Programmleiter beim Berliner Henschel Verlag. Dann fiel ihm ein Manuskript in die Hände, das den schlummernden Verleger wieder aufweckte: "Mein Leben in Aspik", ein Roman seines Studienfreundes Steven Uhly, der auch mit wachsendem Erfolg dem secession Verlag für Literatur bis heute treu geblieben ist:
"Steven Uhly ist gebürtiger Kölner, und Steven hat in der gleichen Universität studiert, nur andere Fächer wie ich. Universität Bonn, er hat Vergleichende Literaturwissenschaft gemacht und ich habe Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Und er ist eigentlich mein bester Freund geworden. Ich habe ihn bei Tropen nie verlegt, weil ich immer das Gefühl hatte, da muss noch mehr kommen. Und als Steven mir dann sein erstes Manuskript zeigte, das fand ich grandios, das war ,Mein Leben in Aspik', da wusste ich: mit Mit diesem Manuskript kann ich einen Verlag gründen. Also ich habe einen deutschsprachigen Autor an Hand, dessen Text mich selber so sehr ergriffen hat. Und um dieses Buch herum haben wir dann internationale Literatur gemacht und haben mit diesem Titel und drei internationalen Titeln und einem deutschsprachigen Titel das erste Programm gemacht."
Abspaltung, Elite, Avantgarde
Der neue deutsche Independent Verlag trägt das Wort Secession im Titel. Ein Wort mit einem Nachhall von Abspaltung, Elite und Avantgarde. Die Städte München, Wien und Weimar schwingen mit, der Jugendstil, das Bauhaus, der Blaue Reiter, die vorvergangene Jahrhundertwende. Zitiert wird eine Zeit der künstlerischen Wagnisse und eine Zeit, die politische Wachsamkeit erfordert. Dieser Subtext schwingt mit, in jedem Programm des secession Verlags. Auch wenn man in das vorliegende, das 17. Programm schaut: Steven Uhly legt seinen sechsten Roman vor, es geht um einen Buchhändler, dem ein Manuskript mit Sonetten zugespielt wird. Außerdem taucht Uhly als Übersetzer auf, er hat den dystopischen Roman eines jungen spanischen Autors (Juan Gómez Bárcena) ins Deutsche übertragen. Die Deutschfranzösin Géraldine Schwarz legt eine vergleichende Familienerinnerung vor, die durch das dunkle Zentrum des 20. Jahrhunderts zum Thema der Erinnerungskultur führt. Der große schwedische Autor Lars Gustafsson ist anwesend mit einem posthum erschienenen sprachphilosophischen Buch. Und der syrische Dichter Aref Hamza steuert einen Gedichtband bei. Alles hochliterarische Bücher, die gut zu dem anspruchsvollen Namen secession passen. Doch es gibt rückblickend einen Wermutstropen in der Benennung des Verlags: die gleichklingende Zeitschrift Sezession, die im rechtsnationalen Verlag Antaois erscheint.
"Es gibt ja in Wien die Secession, das wusste ich. Ich wusste nicht, dass es diesen furchtbaren rechten Verleger gibt, der ein Blatt herausgibt, das Sezession heißt, aber mit z geschrieben ist. Dann hätte ich den Namen einfach nicht gewählt. Aber ich mochte den Schriftzug von Secession immer, und ich mochte die Idee, die hinter dieser Künstlergruppe stand. Und das habe ich sozusagen versucht, schweigsam zu übertragen auf diesen Verlagsnamen, und da haben Susanne und ich uns schnell darüber geeinigt, dass wir das gut finden."
Secession ist in jedem Fall ein Wort, mit dem sich typografisch viel ausrichten lässt: Es taucht in den Büchern des Verlags in Minuskeln auf, wird im oberen Drittel in der Horizontale beschnitten; der abgetrennte Rest steht im unteren Vorsatz. Weitere Erkennungszeichen sind Klappenbändchen und das aufschlagbare Vorsatzpapier. Ferner eine immer neue, besonders edle typografische Gestaltung.
Glück, Gönner und Sponsoren
Hier stößt man früher oder später auf den Namen Erik Spiekermann und ist bei den Wahlverwandschaften des Verlags angelangt. Erik Spiekermann ist ein Typograf mit weltweitem Renomee, er hat Schrifttypen entworfen, die als moderne Klassiker gelten. Außerdem ist er ein Freund des heutigen zweiten Verlegers Joachim von Zepelin. Von Zepelin, klein, besonnen, mit Anzug und grauen Locken, versichert gerne, dass er nicht nur im Erscheinungsbild ein Gegenstück abgibt zu dem umtriebigen Christian Ruzicska. Bei der Gründung des Verlags 2009 war Joachim von Zepelin als Gesellschafter an Bord. Er ist aufgerückt, als Susanne Schenzle den Verlag verlassen hat. Der zweite Verleger ist gelernter Journalist. Seine Bekanntschaft mit Erik Spiekermann geht auf eine Zeit zurück, die er als Korrepondent in San Francisco verbracht hat. Und sie verweist darauf, dass ein kleiner Verlag mit großen Ideen Glück braucht, Gönner und Sponsoren:
"Wir saßen zuhause bei mir am Küchentisch und haben gegessen und getrunken und uns über Büchermachen unterhalten. Und dann gingen wir noch so an meine Bücherregale, also Erik und ich dann, und haben uns Bücher aus dem 17. Und 18. Jahrhundert angeguckt und uns über Drucktechniken und über Typografie unterhalten und irgendwann klopfte mir Erik auf die Schulter und sagte: ‚Ach Joachim, ich mache das für Euch. Und über Geld reden wir später einmal.’"
Stimmt, das Geld. Wenn man die beiden engagierten Verleger fragt, ob sie von ihrem Projekt leben könne, senken sie typischerweise die Stimmen, murmeln ein Jein und erwähnen Rücklagen. Bestseller haben den Verlag befördert wie "Glückskind" von Steven Uhly, oder wie die Bücher der amerikanischen Autorin Deborah Feldman, angefangen mit ihrem Erfolgstitel "Unorthodox". Deborah Feldman hat den secession Verlag für Literatur inzwischen verlassen, sie hat sich über ihre Agentur abgemeldet und ist wahrscheinlich auf der Suche nach einem größeren Haus. Beim secession Verlag ist man sichtlich um Haltung in dieser Frage bemüht. Andere große Namen werden mit etwas Glück bleiben. Dazu gehört der Franzose Jérôme Ferrari, 1968 in Paris geboren, 2012 ausgezeichnet mit dem wichtigen Prix Goncourt. Sein Werk wird derzeit von Christian Ruzicska selbst übersetzt, auch frühere Titel, und wahrscheinlich in Nachtschichten. Also, Hand aufs Herz, lässt sich von diesem Verlag leben? Das letzte Wort hat Christian Ruzicska:
"Vom Verlag: schwer. Mich interessiert gar nicht so sehr die Frage, ob ich vom Verlag leben kann. Ich tue das. Was mich eigentlich interessiert, ist, eine Instituation etablieren zu können im Laufe der Zeit, die wie ein Magnet funktioniert. Und wo die Themen, die wir über unsere Bücher rausgeben, angereichert zurückkommen."