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"Ein sehr wichtiger symbolischer Akt"

Gegen 39 mutmaßliche KZ-Aufseher wird möglicherweise Anklage erhoben. Dies seien die letzten Ausläufer der Bemühungen, auf juristischem Wege mit dem Erbe des Dritten Reiches fertig zu werden, sagt Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München.

Magnus Brechtken im Gespräch mit Christine Heuer |
    Christoph Heinemann: Die in Ludwigsburg ansässige zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen wird in den kommenden Wochen Verfahren gegen 39 mutmaßliche Aufseher des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau an die Staatsanwaltschaften der Bundesländer abgeben. Darüber hat meine Kollegin Christine Heuer mit Magnus Brechtken gesprochen, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, und ihn gefragt: Ist das ein letzter großer Durchbruch oder doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

    Magnus Brechtken: Ja, das ist natürlich ein letzter Versuch, mit diesem Erbe auf juristischem Wege noch einmal umgehen zu können. Die juristische Aufarbeitung hat direkt nach 1945 vor allem erst mal von alliierter Seite begonnen. Dann geschah lange Zeit in den 50er-Jahren sehr wenig und Ende 1958 wurde dann in Ludwigsburg die Stelle eingerichtet, die jetzt diese Verfahren gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher noch mal auf den Weg gebracht hat. Aus dieser ganzen Zeitspanne, also von 1958 bis 2013, können Sie schon ersehen, dass das ein sehr langwieriger und sehr schwieriger Prozess ist. Und dies sind sozusagen jetzt die letzten Ausläufer der Bemühungen, juristisch, auf juristischem Wege mit dem Erbe des Dritten Reiches fertig zu werden.

    Christine Heuer: Wie viele NS-Verbrecher leben eigentlich noch? Kann man das schätzen?

    Brechtken: Man kann es nicht genau sagen. Aber die jetzt sozusagen zur Fahndung beziehungsweise zur Anklage gebracht werden sollen, sind alle zwischen 1916 und 1926 geboren. Alleine aus biologischen Gründen ist offensichtlich, dass viele aus dieser Generation nicht mehr am Leben sind, sodass es tatsächlich nicht mehr sehr viel mehr sein können als die vielleicht mehreren Dutzend, die da jetzt noch in Rede stehen.

    Heuer: Das Alter der dann möglicherweise Angeklagten spielt ja auch bei den Prozessen eine Rolle. Selbst wenn KZ-Aufseher jetzt noch einmal verurteilt würden, ihre Strafen werden die Angeklagten sicher nicht antreten müssen. Warum sind diese Prozesse trotzdem wichtig?

    Brechtken: Sie haben zweierlei Wert. Zum einen sind sie natürlich juristisch insofern notwendig, als wenn ein Staatsanwalt von einer Straftat erfährt, er Ermittlungen aufnehmen muss. Und das geschieht in diesem Falle. Zum Zweiten haben sie natürlich auch einen moralisch-symbolischen Wert, weil sie zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland sozusagen als Erbe dieses Dritten Reiches auch mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches diese Dinge nicht zu den Akten legt. Und das ist doch symbolisch für die Opfer, von denen ja auch immer noch einige leben und die Nachkommen der Opfer ihre Verstorbenen erinnern, ein doch sehr wichtiger symbolischer Akt, dass man das so tut und nicht sagt, wir machen da jetzt einen Schlussstrich und vergessen das einfach. Denn das sind tatsächlich, wenn das juristisch greifbar ist, Dinge, die vor Gericht gebracht werden müssen und zumindest verhandelt werden müssen. Was dabei herauskommt, das kann man im Vorhinein natürlich nicht sagen.

    Heuer: Jahrelang, Herr Brechtken, gab es ja keine Nazi-Prozesse mehr. Die Möglichkeit hat sich erst wieder mit dem Demjanjuk-Urteil ergeben, weil seitdem ja eine konkrete Mitschuld von Leuten, die im KZ gearbeitet haben, nicht mehr zwingend nachgewiesen werden muss. Hätte man das Thema nicht viel früher so behandeln müssen?

    Brechtken: Ja das ist eine Frage, die man den Juristen stellen muss. Der Bundesgerichtshof hatte 1969 entschieden, dass die individuelle Schuld des Einzelnen nachgewiesen werden muss. Dieser Nachweis eines individuellen Tatbeitrags zur Tötung von Häftlingen, das war immer das große Hindernis. Der Demjanjuk-Prozess hat insofern eine Wende gebracht, als nun davon ausgegangen wird, dass die Argumentation so funktionieren kann, dass jeder, der in einem Vernichtungslager war, Teil dieser Mordmaschinerie war. Das ist einerseits juristisch schwierig dann durchzuhalten, das wird sich dann vor Gericht zeigen. Auf der anderen Seite ist es moralisch natürlich so, dass jemand, der Teil dieser Auschwitz-Maschinerie war, natürlich in einem gewissen Sinne dazu beigetragen hat. Inwieweit er Schuld auf sich geladen hat, das ist wieder eine ganz andere Frage.

    Heuer: Und die juristische Antwort darauf kann anders lauten als die moralische?

    Brechtken: Ja. Die juristische Antwort ist da noch nicht gesprochen. Ich weiß nicht, ob der Bundesgerichtshof, wenn sozusagen irgendjemand argumentieren würde, der Mensch war beispielsweise Koch in Auschwitz und ist deswegen mitschuldig, ob das vor dem Bundesgerichtshof Bestand haben würde. Hinzu kommt – das muss man dann auch noch, um das noch ein bisschen zu differenzieren, dazu sagen: Sobibor, wo Demjanjuk war, war ein reines Vernichtungslager, wo Menschen wirklich nur hingebracht wurden, um umgebracht zu werden. In Auschwitz ist das komplexer, weil es das Stammlager Auschwitz gab, das ein Konzentrationslager war, das nicht nur für die Ermordung von Menschen da war. Und es gab eben dann das Vernichtungslager in Auschwitz-Birkenau und dann gab es die ganzen Betriebe und Fabriken, die damit zusammenhingen für die Zwangsarbeiter. Das ist sehr viel komplexer. Auschwitz war sozusagen eine Vernichtungsmaschinerie, aber es war auch noch etwas anderes und da muss man dann genau hinschauen, was der Einzelne dort tatsächlich getan hat und in welchen Bereichen er tätig war, um feststellen zu können, wie weit ist der schuldig geworden: Ist er Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen, ist er Teil des Konzentrationslager-Alltags gewesen, wie man ihn auch in anderen Konzentrationslagern kannte, oder wo gehörte er genau hin.

    Heinemann: Magnus Brechtken, der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. Die Fragen stellte meine Kollegin Christine Heuer.


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