Dirk Müller: Ein Gendefekt war Schuld. Beide Unterschenkel mussten ihm amputiert werden. Oscar Pistorius war damals gerade elf Monate alt. Er akzeptiert als Kind sein schweres Schicksal und baut vor allem eine Leidenschaft auf: den Sport, Leichtathletik. So schnell wie möglich auf der Laufbahn unterwegs sein, das ist als Jugendlicher seine Lebensdevise. Der Südafrikaner schreibt Sportgeschichte. Er gewinnt über die 100, die 200 und die 400 Meter schließlich die Paralympics.
Doch Oscar Pistorius will mehr, er will auch bei Wettkämpfen der nicht-behinderten Spitzenläufer starten und setzt dies beim Leichtathletik-Weltverband durch, obwohl ein biomechanisches Gutachten davon ausgeht, dass ihm seine Beinprothesen mit einer federnden Funktion einen Vorteil verschaffen. In dieser Woche dann die sportliche Sensation: Oscar Pistorius läuft in Italien die WM-Norm, qualifiziert sich also damit für die offiziellen Leichtathletik-Weltmeisterschaften Ende August in Südkorea, ein behinderter Läufer inmitten der nicht-behinderten Sprinter.
Die Kritik vieler Läufer bleibt: Ist Oscar Pistorius wegen seiner Laufprothesen im Vorteil? – Darüber sprechen wollen wir nun mit Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, ehemals Vorsitzender des Sportausschusses des Deutschen Bundestages (SPD). Guten Morgen!
Friedhelm Julius Beucher: Guten Morgen!
Müller: Herr Beucher, ist das ein Sieg für den Behindertensport?
Beucher: Das ist eigentlich ein Sieg der Normalität und es ist ein Sieg der Behindertenrechts-Konvention. Das heißt, dass an Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, uneingeschränkte Teilhabe möglich gemacht werden muss.
Müller: Ein Sieg der Normalität, sagen Sie. Jetzt gibt es viel Kritik auch an diesen Prothesen, mit denen Oscar Pistorius läuft. Könnte das ein Pyrrhussieg werden?
Beucher: Das glaube ich nicht, gleichwohl ich kein Biomechaniker bin. Die damalige Aufgabenstellung des Gutachtens war, kann es einen Vorteil geben mit solchen Prothesen. Diese Frage ist mit Ja beantwortet, aber ist nur ein Teil der Wahrheit. Diese Prothesen gelten auf gerader Strecke als einen möglichen Vorteil, aber beim Kurvenlauf und beim Start ist eben die Biomechanik so weit, dass eindeutig festgelegt ist, dort kann man mit einer Prothese keinen Vorteil, sondern nur einen Nachteil erleiden.
Müller: Nun sind die 400 Meter ja eine lange Strecke, wo auch zwei Geraden zu laufen sind von 100 Metern. Die meisten Sprinter sagen, das ist ein Vorteil.
Beucher: Das ist die Frage, ob das ein Gutachterstreit ist, oder ob eben ein Mensch, der anstelle gesunder gewachsener Fußgelenke jetzt eine Prothese hat, die am Ende eine gerade Kante hat und eben kein der Laufbahn entsprechendes Fußgelenk. Das sagt die Biomechanik, das kann kein Vorteil sein, insbesondere eben im Kurvenlauf und beim Start eines Laufs.
Müller: Also Sie gehen davon aus, Herr Beucher, dass sich das irgendwie ausgleichen wird?
Beucher: Das ist Stand der Wissenschaft und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Internationale Sportgerichtshof eine solche Startgenehmigung erteilt, wenn auch nur der geringste Zweifel daran wäre, ob das Vor- oder Nachteil wäre.
Müller: Sie haben gleich zu Beginn gesagt, es ist ein Sieg der Normalität. Normal ist es ja trotzdem für die meisten Fernsehzuschauer und für die meisten Sportfans ja noch nicht. Wird diese Normalität kommen?
Beucher: Der Mensch, der kein Bein hat und dafür eine Prothese trägt, oder der Mensch, der keinen Arm hat, ist ja in einer anderen Normalität. Er kann ja nicht dafür bestraft werden, dass er kein Bein oder keinen Arm hat, und das ist die Normalität, wo wir als Nicht-Behinderte behinderten Menschen mit begegnen müssen.
Müller: Viele Behinderte sagen ja auch, wir sind die Normalen.
Beucher: Ob mit oder ohne Behinderung, verweise ich immer wieder auf die UN-Behindertenrechts-Konvention, die immerhin der Deutsche Bundestag wie viele andere hundert Länder ratifiziert haben. Menschen mit oder ohne Behinderung darf aus ihrer Behinderung oder Nicht-Behinderung kein Nachteil erwachsen. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und dazu gehört auch der Sport.
Müller: Es gibt die Charta und es gibt die Realität. Wie hat sich die Wirklichkeit verändert?
Beucher: Die Wirklichkeit hat sich insofern verändert, dass Menschen mit Behinderung mit ihren außergewöhnlichen Leistungen mehr wahrgenommen werden als früher, und das ist auch ein Stück Normalität.
Müller: Und die Paralympics sorgen nicht dafür, dass diese Schiene oder dieses Kuriosum "Behindertensport" quasi manifestiert wird?
Beucher: Solange Menschen mit Behinderung am Ende der gesellschaftlichen Gleichberechtigung stehen, haben auch Paralympics ihre Berechtigung. Es wird immer ungefragt der Ruf laut, warum werden nicht Behindertenwettkämpfe mit Nicht-Behindertenwettkämpfen zusammengelegt. Abgesehen von der logistischen Problematik – stellen Sie sich vor, drei Wochen Olympia und knappe zwei Wochen Paralympics, was kein Stadion der Welt und keine Organisationsform aushalten können - haben Paralympics so lange ihre Berechtigung, wie wir nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen die Gleichrangigkeit haben für Menschen mit und ohne Behinderung.
Müller: Gehen wir noch mal auf Oscar Pistorius ein. Seine Zeit, die er jetzt über 400 Meter gelaufen ist, 45,07, das ist eine Weltklassezeit, gerade auch in diesem Jahr. Mit großer Wahrscheinlichkeit, davon gehen die Experten aus, wenn er diese Leistung noch mal abrufen kann in Südkorea bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften, dann kann er bis zum Halbfinale, gegebenenfalls bei einer Steigerung ja auch noch ins Finale kommen. Wird das vielen in der Öffentlichkeit auch in Deutschland nach wie vor sehr, sehr komisch vorkommen, sieben Sprinter plus Oscar Pistorius, ein besonderer Sprinter?
Beucher: Ich glaube nicht, dass es ihnen komisch vorkommen wird, sondern ich sehe insgesamt darin auch einen Sieg der Demonstration der Leistungsfähigkeit von Menschen mit Handicap. Und insofern wird ja wahrscheinlich Oscar Pistorius der erste, der zweite übrigens, der zweite Athlet sein, der bei Nicht-Behindertenwettkämpfen ansteht. In der ganzen Diskussion geht immer verloren oder wird vergessen oder die Leute wissen es nicht, dass es bereits eine sehbehinderte Athletin 2000 in Sydney gegeben hat, die vorherige Paralympics-Siegerin in der Sehbehinderten- und Blindenklasse Runyan, eine amerikanische Mittelstrecklerin, die seinerzeit Achte bei den Olympischen Spielen in Sydney geworden ist.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Vielen Dank für das Gespräch, danke, dass Sie Zeit gefunden haben.
Beucher: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Doch Oscar Pistorius will mehr, er will auch bei Wettkämpfen der nicht-behinderten Spitzenläufer starten und setzt dies beim Leichtathletik-Weltverband durch, obwohl ein biomechanisches Gutachten davon ausgeht, dass ihm seine Beinprothesen mit einer federnden Funktion einen Vorteil verschaffen. In dieser Woche dann die sportliche Sensation: Oscar Pistorius läuft in Italien die WM-Norm, qualifiziert sich also damit für die offiziellen Leichtathletik-Weltmeisterschaften Ende August in Südkorea, ein behinderter Läufer inmitten der nicht-behinderten Sprinter.
Die Kritik vieler Läufer bleibt: Ist Oscar Pistorius wegen seiner Laufprothesen im Vorteil? – Darüber sprechen wollen wir nun mit Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, ehemals Vorsitzender des Sportausschusses des Deutschen Bundestages (SPD). Guten Morgen!
Friedhelm Julius Beucher: Guten Morgen!
Müller: Herr Beucher, ist das ein Sieg für den Behindertensport?
Beucher: Das ist eigentlich ein Sieg der Normalität und es ist ein Sieg der Behindertenrechts-Konvention. Das heißt, dass an Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, uneingeschränkte Teilhabe möglich gemacht werden muss.
Müller: Ein Sieg der Normalität, sagen Sie. Jetzt gibt es viel Kritik auch an diesen Prothesen, mit denen Oscar Pistorius läuft. Könnte das ein Pyrrhussieg werden?
Beucher: Das glaube ich nicht, gleichwohl ich kein Biomechaniker bin. Die damalige Aufgabenstellung des Gutachtens war, kann es einen Vorteil geben mit solchen Prothesen. Diese Frage ist mit Ja beantwortet, aber ist nur ein Teil der Wahrheit. Diese Prothesen gelten auf gerader Strecke als einen möglichen Vorteil, aber beim Kurvenlauf und beim Start ist eben die Biomechanik so weit, dass eindeutig festgelegt ist, dort kann man mit einer Prothese keinen Vorteil, sondern nur einen Nachteil erleiden.
Müller: Nun sind die 400 Meter ja eine lange Strecke, wo auch zwei Geraden zu laufen sind von 100 Metern. Die meisten Sprinter sagen, das ist ein Vorteil.
Beucher: Das ist die Frage, ob das ein Gutachterstreit ist, oder ob eben ein Mensch, der anstelle gesunder gewachsener Fußgelenke jetzt eine Prothese hat, die am Ende eine gerade Kante hat und eben kein der Laufbahn entsprechendes Fußgelenk. Das sagt die Biomechanik, das kann kein Vorteil sein, insbesondere eben im Kurvenlauf und beim Start eines Laufs.
Müller: Also Sie gehen davon aus, Herr Beucher, dass sich das irgendwie ausgleichen wird?
Beucher: Das ist Stand der Wissenschaft und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Internationale Sportgerichtshof eine solche Startgenehmigung erteilt, wenn auch nur der geringste Zweifel daran wäre, ob das Vor- oder Nachteil wäre.
Müller: Sie haben gleich zu Beginn gesagt, es ist ein Sieg der Normalität. Normal ist es ja trotzdem für die meisten Fernsehzuschauer und für die meisten Sportfans ja noch nicht. Wird diese Normalität kommen?
Beucher: Der Mensch, der kein Bein hat und dafür eine Prothese trägt, oder der Mensch, der keinen Arm hat, ist ja in einer anderen Normalität. Er kann ja nicht dafür bestraft werden, dass er kein Bein oder keinen Arm hat, und das ist die Normalität, wo wir als Nicht-Behinderte behinderten Menschen mit begegnen müssen.
Müller: Viele Behinderte sagen ja auch, wir sind die Normalen.
Beucher: Ob mit oder ohne Behinderung, verweise ich immer wieder auf die UN-Behindertenrechts-Konvention, die immerhin der Deutsche Bundestag wie viele andere hundert Länder ratifiziert haben. Menschen mit oder ohne Behinderung darf aus ihrer Behinderung oder Nicht-Behinderung kein Nachteil erwachsen. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und dazu gehört auch der Sport.
Müller: Es gibt die Charta und es gibt die Realität. Wie hat sich die Wirklichkeit verändert?
Beucher: Die Wirklichkeit hat sich insofern verändert, dass Menschen mit Behinderung mit ihren außergewöhnlichen Leistungen mehr wahrgenommen werden als früher, und das ist auch ein Stück Normalität.
Müller: Und die Paralympics sorgen nicht dafür, dass diese Schiene oder dieses Kuriosum "Behindertensport" quasi manifestiert wird?
Beucher: Solange Menschen mit Behinderung am Ende der gesellschaftlichen Gleichberechtigung stehen, haben auch Paralympics ihre Berechtigung. Es wird immer ungefragt der Ruf laut, warum werden nicht Behindertenwettkämpfe mit Nicht-Behindertenwettkämpfen zusammengelegt. Abgesehen von der logistischen Problematik – stellen Sie sich vor, drei Wochen Olympia und knappe zwei Wochen Paralympics, was kein Stadion der Welt und keine Organisationsform aushalten können - haben Paralympics so lange ihre Berechtigung, wie wir nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen die Gleichrangigkeit haben für Menschen mit und ohne Behinderung.
Müller: Gehen wir noch mal auf Oscar Pistorius ein. Seine Zeit, die er jetzt über 400 Meter gelaufen ist, 45,07, das ist eine Weltklassezeit, gerade auch in diesem Jahr. Mit großer Wahrscheinlichkeit, davon gehen die Experten aus, wenn er diese Leistung noch mal abrufen kann in Südkorea bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften, dann kann er bis zum Halbfinale, gegebenenfalls bei einer Steigerung ja auch noch ins Finale kommen. Wird das vielen in der Öffentlichkeit auch in Deutschland nach wie vor sehr, sehr komisch vorkommen, sieben Sprinter plus Oscar Pistorius, ein besonderer Sprinter?
Beucher: Ich glaube nicht, dass es ihnen komisch vorkommen wird, sondern ich sehe insgesamt darin auch einen Sieg der Demonstration der Leistungsfähigkeit von Menschen mit Handicap. Und insofern wird ja wahrscheinlich Oscar Pistorius der erste, der zweite übrigens, der zweite Athlet sein, der bei Nicht-Behindertenwettkämpfen ansteht. In der ganzen Diskussion geht immer verloren oder wird vergessen oder die Leute wissen es nicht, dass es bereits eine sehbehinderte Athletin 2000 in Sydney gegeben hat, die vorherige Paralympics-Siegerin in der Sehbehinderten- und Blindenklasse Runyan, eine amerikanische Mittelstrecklerin, die seinerzeit Achte bei den Olympischen Spielen in Sydney geworden ist.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Vielen Dank für das Gespräch, danke, dass Sie Zeit gefunden haben.
Beucher: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.